Ibrahim, ein dreijähriger Somali-Junge, litt sowohl an Unterernährung als auch an Wirbelsäulentuberkulose. Polizisten hatten ihn in der Wüste im Nordosten Kenias gefunden, als er dem Hungertod nahe war. Er klammerte sich an jeden, der ihn auf den Arm nehmen wollte, und drückte seinen Kopf an dessen Brust. Annalena Tonelli, eine Italienerin, die als Lehrerin im kenianischen Wajir arbeitete, nahm ihn aus dem Krankenhaus mit zu sich nach Hause; sie wollte auch nachts in seiner Nähe sein, damit er nicht allein war, wenn er starb.
Als Annalena Ibrahim zum ersten Mal auf das Bett legte, zog er sie zu sich herunter, damit sie sich neben ihn legte, und drückte seinen Kopf an ihr Herz. „Wer weiß, wie sehr er gelitten hat. Jetzt will er einfach nur Trost, Frieden und die Geborgenheit des Herzschlags einer Mutter“, bemerkte sie zu einer anderen Pflegerin.
In den 1970er Jahren war das Leben hart in Wajir, einer abgelegenen Region, in der vor allem Somalis lebten. Eine UNICEF-Studie erklärte das Wasser als ungeeignet für den menschlichen Verzehr. Löwen griffen isolierte Nomaden an, und Schlangenbisse gehörten zum Alltag. Die Temperaturen stiegen auf 40 Grad, Strom gab es nicht. In den seltenen Fällen, in denen Regen fiel, konnte dieser zu katastrophalen Überschwemmungen führen. Im Krankenhaus fehlte es an ausreichendem Personal, Ausrüstung und Medikamenten. Tuberkulose, Malaria, Typhus, Cholera und Denguefieber breiteten sich aus.
Annalena zog 1970 zum Unterrichten nach Wajir. Doch während einer Cholera-Epidemie tauschte sie ihre Arbeit gegen die Pflege von kranken Kindern wie Ibrahim. Mit der Zeit wandte sie ihre gesamte Aufmerksamkeit der Behandlung von Tuberkulose zu, einer Infektionskrankheit, die bei Somalis mit einem starken Stigma behaftet war (und auch heute noch ist). Die Menschen gebrauchten das Wort Tuberkulose nicht und bestanden darauf, dass sie nur Husten hätten. Wenn eine Gemeinschaft herausfand, dass eines ihrer Mitglieder Tuberkulose hatte, wurde die erkrankte Person häufig ausgegrenzt oder sogar verstoßen. Viele starben lieber, als mit dieser Diagnose gebrandmarkt zu werden.
In den Industrieländern nehmen viele Menschen nach wie vor an, dass es Tuberkulose nicht mehr gibt. Dr. Paul Farmer, der sich in Haiti gegen Tuberkulose engagierte, bringt es auf den Punkt: „Die ‚vergessene Krankheit‘ geriet in Vergessenheit, weil sie die Wohlhabenden nicht mehr heimsuchte.“ Das begann sich erst 2016 zu ändern, als in den Vereinigten Staaten zum ersten Mal nach Jahrzehnten wieder Tuberkulosefälle auftraten und es im Jahr darauf zu den ersten Todesfällen durch therapieresistente Tuberkulose kam. Ungefähr zur gleichen Zeit kündigte Südkorea neue Gesetze an, wonach jeder Einwohner zweimal im Leben getestet werden muss. Medienberichte zeigten sich schockiert darüber, dass diese, dem 19. Jahrhundert zugerechnete Krankheit uns Menschen nach wie vor betrifft.
Dr. Onkar Sahota, Vorsitzender des Londoner Gesundheitsausschusses, drückte es 2015 so aus: „Wir denken, die Tuberkulose sei eine Krankheit der Entwicklungsländer oder längst vergangener Tage, aber sie ist eine Krankheit der Gegenwart. Sie war mit Sicherheit eine Krankheit der Vergangenheit, und wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie keine Krankheit der Zukunft wird.“
Annalena hatte nicht viel über Tuberkulose gewusst, als sie nach Kenia kam, aber sie hatte sich seit ihrer Jugend zu den Kranken, Armen und Ausgestoßenen hingezogen gefühlt. In ihrer italienischen Heimatstadt Forlí hatte sie eine Organisation namens „Komitee zur Bekämpfung des Welthungers“ gegründet. Doch in ihren Augen war das nicht genug. Sie entdeckte ein in Italien als Casermone bezeichnetes Armenviertel und begann, dort immer mehr Zeit zu verbringen. Sie begleitete Kinder aus dem Casermone zu Arztterminen, bezahlte Schulgebühren und schnitt ihnen sogar die Zehennägel. Wenn bei ihr zu Hause das Telefon klingelte und jemand um Holz oder Kohlen bat, rannte Annalena los.
Sie drängte ihre Freunde und Geschwister, sich ihr anzuschließen, was diese, angezogen von ihrer überzeugenden Ausstrahlungskraft, auch taten. Eine ihrer Freundinnen, Maria Teresa, wurde Annalenas Mitstreiterin und teilte zeitlebens ihre Vision zu dienen. Als Maria Teresa später gefragt wurde, was Annalena, die katholisch erzogen worden war und eine tiefe Liebe zu Jesus empfand, inspiriert hatte, antwortete sie: „Gandhi, Gandhi, Gandhi.“ Dann fügte sie hinzu: „Sie lernte von Gandhi, dass man, um zu lieben, sein Ego willentlich und bewusst abstreifen und seine eigenen Bedürfnisse zurückstecken muss.“ Annalena bezeichnete den indischen Unabhängigkeitskämpfer als ihr „zweites Evangelium“.
Anfang der 1960er Jahre, als Annalena Gandhi las, vollzogen sich auch im italienischen Katholizismus radikale Veränderungen. Das Zweite Vatikanische Konzil sprach sich für den Dialog mit anderen Religionen aus und forderte die Laiengläubigen auf, sowohl vor Ort als auch weltweit ihre missionarische Berufung zu leben. Gläubige mussten nicht länger Nonnen oder Priester werden oder unter der Schirmherrschaft der Kirche arbeiten, um den Armen zu dienen oder im geistlichen Leben ihrer Gemeinden eine bedeutende Rolle zu spielen. Das passte zu Annalenas unabhängigem Wesenszug ebenso wie die erneute Betonung des sozialen Handelns als einer gültigen Form der Berufung zur Mission. Ihre Erfahrungen im Casermone führten sie zur Suche nach einem Ort, an dem sie für den Rest ihres Lebens leben und den Armen dienen konnte. Inspiriert durch eine Freundin, Pina Ziani, die in Ostafrika unter Leprakranken arbeitete, ließ sich Annalena in Kenia nieder. Pina verhalf ihr zu einer Anstellung als Lehrerin, und 1969 verließ Annalena Italien.
Die Wege zu dienen sind unendlich und der Fantasie überlassen. Lasst uns nicht darauf warten, gesagt zu bekommen, wie wir dienen sollen.
„Die Armen warten auf uns“, sagte Annalena in einer ihrer wenigen öffentlichen Erklärungen. „Die Wege zu dienen sind unendlich und der Fantasie überlassen. Lasst uns nicht darauf warten, gesagt zu bekommen, wie wir dienen sollen. Wir erfinden und leben den neuen Himmel und die neue Erde an jedem Tag unseres Lebens. Wenn wir nicht lieben, bleibt Gott ohne Offenbarung. Wir sind das sichtbare Zeichen seiner Gegenwart, und wir lassen ihn lebendig werden in dieser höllischen Welt, in der es ihn nicht zu geben scheint. Jedes Mal, wenn wir bei einem Verwundeten verweilen, lassen wir Gott lebendig werden.“
Mit ihrer Ankunft in Kenia wurde Annalena von den Beschränkungen und Strukturen der katholischen Kirche unabhängig. Doch sie wusste, dass sie eine unterstützende Gemeinschaft um sich herum brauchen würde. Schon bald hatten sich ihr Maria Teresa und fünf weitere Frauen angeschlossen. Morgens beteten sie und lasen gemeinsam die Heilige Schrift, und den Rest des Tages verbrachten sie damit, die Kranken zu pflegen. Sie errichteten eine Physiotherapieeinrichtung und nannten sie Farah Center, Zentrum der Freude.
Maria Teresa und die anderen Frauen behandelten Menschen mit Behinderungen, die auf Kinderlähmung und andere Kinderkrankheiten zurückgingen. Annalena zog es stets zu den Ärmsten und Ausgestoßensten. Infolge von fehlender medizinischer Versorgung, Aberglauben und Stigmatisierung bedeutete dies zu jener Zeit, dass sie sich Somali-Nomaden mit Tuberkulose zuwandte.
Eine junge Frau, deren Name vom Sand und der Zeit verweht wurde, steht stellvertretend für all jene, denen sie diente. Sie war an Kinderlähmung erkrankt und jetzt aufgrund von Tuberkulose dem Tode nahe. Annalena saß in den letzten Stunden ihres Lebens an ihrer Seite. Obwohl sie sich in keiner gemeinsamen Sprache verständigen konnten, sagte Annalena, dass sie und diese Frau einander verstanden.
Die Beine der Frau waren kraftlos und dünn wie Stöcke, ihr Körper so ausgezehrt, dass es beängstigend war – ein mit Knochen gefüllter Reissack. Aber ihr Gesicht war voller Ausdruckskraft und Wachsamkeit. Den Regeln ihres Stammes folgend trug sie den schwarzen Schleier einer verheirateten Frau, dessen Bescheidenheit ihr Würde verlieh. Obwohl sie inzwischen geschieden war, kleidete sie sich noch immer mit dem Stolz einer Frau, die verheiratet und einmal auserkoren gewesen war.
Mit Gesten und Blicken bat sie Annalena, die folgende Nacht bei ihr im Zimmer zu bleiben. Die Frau hustete unaufhörlich. Annalena saß neben ihr. Hier war einer von „Gottes Spatzen“ – eines von Annalenas Lieblingsworten, mit denen sie die Kranken beschrieb – dabei, zu Boden zu fallen, in Gottes Beisein und vom eigenen Volk unbeachtet.
Annalena wurde müde, die Hitze ließ ihren Kopf schwer werden und auf ihre Brust sinken und machte sie schläfrig. Sie betete, um sich wach zu halten. Die Hitze und das Fieber schwächten die kranke Frau. Annalena schrieb, dass sie „sie mit unendlicher Zärtlichkeit liebte“. Doch selbst diese Liebe konnten Annalenas Augen für die nächtliche Wache nicht offen halten.
Als ihr Kopf nach unten sank und ihr Körper im Schlaf zusammensackte, zog die Frau das schmutzige Kissen unter ihrem Kopf hervor und bot es Annalena an. Annalena lehnte es nicht ab, obwohl das Kissen voller Krankheitserreger war.
Gegen fünf Uhr morgens erwachte Annalena, nahm die Hand der Frau und lächelte sie an. „Vielleicht kann ich am Ende meines Lebens sagen, dass alles, was ich auf meinem Weg durch diese Welt getan habe, darin bestand, die Hände der Sterbenden zu halten und zärtlich zu lächeln“, kommentierte sie später. Das Licht der Kerosinlampe erhellte das Gesicht der Frau. Es kostete sie Mühe zu sprechen. „Gott ist... im Namen Gottes, gütiger, barmherziger ..., gehen!“ Und dann starb sie.
„Diese Menschen müssen im Himmel reich belohnt werden“, schrieb Annalena, „weil sie auf Erden so furchtbar gelitten haben.“
Trotz des infizierten Kissens und des ständigen engen Kontakts mit den Kranken wurde Annalena selten krank. Gelegentlich kämpfte sie mit Malaria oder Erschöpfung, aber sie testete nie positiv auf Tuberkulose. Im Krankenhaus von Wajir begann Annalena, die Tuberkulose-Medikation zu beaufsichtigen. Freunde in Italien schickten ihr Bücher und Artikel über Tuberkulose-Kontrolle und Kombinationstherapie. Sie reiste nach Spanien, später nach London, um Medizinkurse zu besuchen. Sie erfuhr von Versuchen zur Entwicklung einer Kurzzeittherapie, die die Behandlungszeit von achtzehn auf sechs Monate verkürzen sollte. Deren 33-prozentige Erfolgsquote würde sich, so spürte sie, unschwer noch etwas verbessern lassen. Die Behandlung war einfach und überschaubar, musste jedoch präzise eingehalten werden: Die Patienten mussten die richtigen Tabletten zum richtigen Zeitpunkt einnehmen.
Das, so glaubte Annalena, war etwas, wofür sie sorgen konnte.
Die Schwierigkeit bestand darin, die Nomaden dazu zu bewegen, lange genug an einem Ort zu bleiben, damit die Behandlung wirken konnte. Achtzehn Monate? Unmöglich. Aber sechs Monate? Vielleicht, nur vielleicht, ließen sich die Nomaden mit einem guten Grund überzeugen zu bleiben. Aber nicht in einem Krankenhaus, unter einem Dach, in einem Gefängnis mit vier Betonwänden. Nicht ohne ihre Tiere oder Familien. Nicht ohne ein Gefühl von Autonomie, Würde und Produktivität.
Wenn es gelänge, für die Behandlung die richtigen Bedingungen zu schaffen, die richtige Verbindung zwischen Medizin und menschlichem Umgang, würden die Nomaden vielleicht bleiben. Annalena weilte lange genug in Wajir um zu wissen, was die Somalis am meisten schätzten: den Islam, die Gemeinschaft und ihre Unabhängigkeit.
Ihre Idee war, die Nomaden auf das Grundstück rund um das Farah Center einzuladen, wo sie auf Annalenas Land ihre Hütten bauen konnten. Sie könnten einige ihrer Tiere und ein oder zwei Angehörige mitbringen. Annalena würde sie eine Vereinbarung unterschreiben lassen, wonach sie nicht weggehen würden, bevor ihre sechsmonatige Behandlung abgeschlossen und ihre Sputum-Untersuchung negativ war. Sie würde jede einzelne Tablettendosis überwachen und Mahlzeiten anbieten. Sie plante den Bau einer Moschee und einer Schule. Sie würde für die Patienten Arbeitsplätze schaffen. Vor allem aber würde sie sie kennenlernen: ihre Namen, ihre Familien, ihre Geschichten. Sie würde ihre Stimmen hören, ihre Hände halten und ihre Wangen küssen, selbst wenn sie Tuberkulosebakterien ausatmeten. Sie würde ihre Wunden und Herzen pflegen.
Bevor die neue Kurzzeitbehandlung in Kenia aktiv gefördert werden konnte, bedurfte es der Durchführung einer Studie, um sicherzustellen, dass die Patienten tatsächlich geheilt wurden und die Behandlung nicht zu einer Arzneimittelresistenz führte. Im April 1976 schlug Annalena dem kenianischen Gesundheitsministerium vor, in Wajir ein Tuberkulose-Kontrolltestprojekt zu leiten. Sie erhielt die Genehmigung, ihr Projekt mit Mitteln der Weltgesundheitsorganisation und des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge zu beginnen.
Bei der Namensgebung für ihr neues Projekt achtete Annalena darauf, das Wort Tuberkulose nicht zu verwenden - das tat sie in ihren Zentren nie. Stattdessen nannte sie es Bismillah Manyatta, Dorf im Namen Gottes.
Die Kranken kamen mit ihren Kamelen sowie den Planen, Seilen und gebogenen Stäben zum Bau ihrer Hütten. Bald standen Dutzende davon über den sandigen Boden am Farah Center verteilt. Es gab keine richtige Mauer, so dass sich die Hütten jenseits einer kurzen Baumreihe und des Willkommensschildes weiter ausbreiteten, da das Dorf immer mehr Menschen anlockte.
Die Patienten unterschrieben eine Vereinbarung, dass sie im Zentrum bleiben würden; sie mussten sogar einen Angehörigen benennen, der sie zurückholen würde, falls sie es früher verließen.
Bei jedem Patienten wurde die neue Kurzzeitbehandlung eingeleitet. Es zeigte sich, dass die Somalis so krank waren und sich in so fortgeschrittenen Tuberkulose-Stadien befanden, dass ihre Dosierungen fast wöchentlich angepasst werden mussten, da sie durch die Therapie und die bereitgestellte nährstoffreiche Kost an Gewicht zunahmen. Sobald die Hütten aufgebaut waren, stieg die Motivation der Menschen, an Ort und Stelle zu bleiben, doch die Einhaltung der Behandlungsregeln musste Annalena trotzdem durchsetzen. Die Patienten unterschrieben eine Vereinbarung, dass sie im Zentrum bleiben würden; sie mussten sogar einen Angehörigen benennen, der sie zurückholen würde, falls sie es früher verließen.
Abgesehen von diesem einen Versprechen machte Annalena für die Behandlungstreue nicht die Patienten, sondern sich selbst verantwortlich. So gehörte es zu ihren Aufgaben, die Verabreichung der Medikamente bis zur tatsächlichen Einnahme und dem Hinunterschlucken direkt zu beaufsichtigen. Annalena führte akribisch Buch, und die direkte Überwachung wurde zu einem Schwerpunkt ihrer Behandlung.
Die Patienten stellten sich in einer Reihe an dem Tisch auf, auf dem sie ihre Tabletten, kleine Tassen mit Wasser oder einem Orangengetränk, das sie wegen seiner Süße verabscheute, sowie den Stapel mit ihren Krankenakten ausbreitete. Einer nach dem anderen schluckte das Arzneimittel. Diejenigen, die zu krank waren, um an den Tisch zu kommen, suchte sie in ihren Hütten auf. Manchmal legte sie ihnen die Tablette sogar auf die Zunge. Sie verabreichte die Medikamente rund um die Uhr, im Abstand von vier Stunden.
Die Tuberkulose-Tabletten waren groß und schwer zu schlucken. Wenn sich jemand sträubte, setzte sich Annalena zu ihm, bis er das Medikament hinuntergeschluckt hatte. Wenn sich jemand übergeben musste, brachte sie ein Glas Wasser und manchmal ein Stück Kuchen zur Beruhigung des Magens.
„Ich war jeden Tag bei ihnen“, berichtete sie. „Ich diente ihnen auf den Knien. Ich war an ihrer Seite, wenn es ihnen schlechter ging und sie niemanden hatten, der sich um sie kümmerte, ihnen in die Augen sah, ihnen Kraft gab.“ Während der vierunddreißig Jahre ihres Engagements am Horn von Afrika erreichte Annalena eine bemerkenswerte Heilungsrate von 93 Prozent.
Sie empfand die Arbeit gleichzeitig als stimulierend und kraftzehrend. Ein muslimischer Ältester in Wajir schenkte Annalena Land für den Bau einer Einsiedelei, einem Ort der Einkehr, an dem sie geistige Ruhe und Erneuerung finden konnte. Sie träumte davon, in der Einsiedelei ein Jahr zu verbringen, doch auf ihrem Schreibtisch türmte sich die unerledigte Arbeit. Sie hatte so viele Gäste im Dorf, dass sie, um nicht unterbrochen zu werden, schon um fünf Uhr morgens die Bibel las und betete. Neue Patienten, alte Patienten, hungrige Kinder, alle wollten sie sehen oder sie um etwas bitten. Maria Teresa nannte es einen „zerreißenden Spagat zwischen der Stille und den Kranken. Die Armen riefen sie aus der Einsiedelei zurück, zurück in ihre Hölle, aber sie wusste, dass es Gott war, der sie zu den Armen führte und dass es die Armen waren, die sie zu Gott führten.“
Menschen, die die Nähe des Todes spürten, drehten ihr Bett gen Mekka und riefen dann nach Annalena.
Sie versuchte, nur in die Einsiedelei zu gehen, wenn sie sich sicher war, dass niemand im Sterben lag. Menschen, die die Nähe des Todes spürten, drehten ihr Bett gen Mekka und riefen dann nach Annalena. „Sie wollten, dass eine Hand von einem Geistlichen und die andere Hand von Annalena gehalten wurde“, erzählte mir Maria Teresa. „Der islamische Geistliche betete den Koran und Annalena betete stumm, und gemeinsam begleiteten sie den Sterbenden an die Tür zur Ewigkeit. Es war erstaunlich, dass ein gläubiger Muslim nach einer ‚Ungläubigen‘ fragte.“
Annalena blieb bis 1985 in Wajir, als ihre Sicherheit und die Möglichkeit, ihre Arbeit fortzusetzen, durch ihre Rolle bei der Aufdeckung eines Massakers gefährdet wurde. Die kenianische Regierung verwies sie des Landes und weigerte sich, ihr Visum zu verlängern. Sie zog nach Somalia, wo sie neue Tuberkulose-Behandlungszentren gründete. Dann holte sie die Gewalt erneut ein, diesmal durch den Bürgerkrieg. Sie zog in das relativ stabile und friedliche Somaliland im Norden Somalias und setzte dort ihre Arbeit mit den Kranken fort.
Die meisten Menschen liebten sie, aber einigen missfiel ihre Anwesenheit: eine Ausländerin, eine Christin und eine Helferin, deren Arbeit auf die Schwächen des Gesundheitssystems und regionale Benachteiligungen aufmerksam machte. 2003 gewann Annalena den renommierten Nansen-Flüchtlingspreis, wodurch ihr Bekanntheitsgrad in Somalia und international weiter anwuchs.
Am 5. Oktober 2003, nach drei Jahrzehnten, in denen Annalena Somalis mit Tuberkulose und AIDS gepflegt hatte, wurde sie von islamischen Extremisten niedergeschossen, als sie in dem von ihr gegründeten Tuberkulose-Krankenhaus in Borama, Somaliland, bei ihren Patienten die Abendvisite machte.
Ich wohnte nur ein paar Straßen entfernt, als Annalena ermordet wurde, nachdem ich Anfang 2003 mit meinem Mann und zwei Kindern nach Somaliland gezogen war. Mein Mann hatte an der Amoud-Universität in Borama eine Stelle angenommen. Obwohl ich Annalena nie kennenlernte, veränderte das Wissen über sie die Art, wie ich mein Leben führen wollte.
Die Einsiedelei steht noch immer in Wajir. Es ist ein einfacher, schlichter Bau; ein Stück Land, das von einer Mauer umgeben ist, zwei kleine Räume und ein zweistöckiger Turm mit Terrasse. Unkraut hat sich breit gemacht und in den Ecken türmen sich Abfälle. Die kenianischen Nonnen, die im Farah Center arbeiten, kommen manchmal hierher, um zu beten, aber nicht oft. Die eisernen Stufen, die zum Turm hinaufführen, sind nach wie vor fest in der Wand verankert. Annalenas Schritten folgend steige ich darauf nach oben, verweile auf der Plattform und lasse meinen Blick über Wajir schweifen.
Als Annalena hier stand, sah sie die Weite der offenen Wüste und gelegentliche Akazienbäume. Seitdem ist die Stadt gewachsen, und meine Aussicht wird durch Häuser und Gebäude behindert. Minarette ragen in den Himmel. Kamele trotten auf unbefestigten Wegen durch die Stadt, geführt von jungen Hirten, die Stöcke über ihren Schultern tragen. Die Brunnen, die einst am Stadtrand von Wajir standen, befinden sich heute im Zentrum. Dort, wo einst an den Wasserlöchern zwischen Kamelen und Nomaden Marabus umherstaksten, benutzen Lastwagenfahrer jetzt Generatoren, um das Wasser heraufzupumpen und ihre Fahrzeuge zu waschen.
Hinter mir, auf der anderen Seite des unbefestigten Weges, liegt Bismillah Manyatta, das Dorf, in dem noch heute Nomaden mit Tuberkulose untergebracht und behandelt werden. Im unteren Teil der Einsiedelei steht ein Brunnen mit einer Inschrift: „Meine Seele dürstet nach Gott, dem Gott meines Lebens.“ Hier, an diesem Ort, den ein Muslim Christen zur Nutzung überlassen hat, umgeben von der reinen Schönheit der Wüste und dem pulsierenden Leben einer wachsenden Stadt, spüre ich die Möglichkeit von Frieden, von einer Welt, die nicht durch Hass, Angst und Isolationismus auseinander gerissen wird. Und ich verstehe, warum Annalena hier geblieben ist.
Dieser Artikel ist die Übersetzung eines Auszugs aus dem Buch Stronger than Death: How Annalena Tonelli Defied Terror and Tuberculosis in the Horn of Africa (Stärker als der Tod: Wie Annalena Tonelli am Horn von Afrika Terror und Tuberkulose die Stirn bot). Übersetzung aus dem Englischen von Natalie Krugiolka.