In meinem Zellenblock ist das Licht ausgeschaltet. Ich liege auf meinem Bett, mein Tablet in der Hand. Ich blättere durch die 60 neuen Fotos, die mir meine fünfzehnjährige Tochter Harmony gerade geschickt hat. Meine Fotogalerie ist nun voll mit Schnappschüssen von ihr, vom Kleinkindalter bis zur Pubertät. All das zu sehen, was ich als Vater verpasst habe, ist bittersüß. Das Gefängnis hat mir die besten Jahre meines Lebens genommen und mich daran gehindert, an diesen wertvollen, unwiderbringlichen Momenten teilzuhaben.

Ich bin Insasse eines Hochsicherheits-gefängnisses in New York. In den ersten zehn Jahren nach meiner Inhaftierung stand mir diese Technologie nicht zur Verfügung.

Ich war gerade dabei, das Sorgerecht für meine Tochter zu erhalten, als ich inhaftiert wurde. Harmonys Mutter Sarah kämpfte seit vielen Jahren mit ihrer Drogensucht. Im Jahr 2009 meldete sich mein Bewährungshelfer. Das Sozialamt hatte ihm mitgeteilt, dass Sarah das Sorgerecht für Harmony verloren hatte und ich es bekommen könnte.

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Ich sagte einfach „OK“. Ich wollte nicht, dass sie in die Fänge eines kaputten Pflegesystems gerät. Unglücklicherweise beging ich zu diesem Zeitpunkt ein Verbrechen, das uns für eine lange Zeit trennen sollte.

Ich tötete meine damalige Freundin. Wir hatten in dieser Nacht gefeiert, getrunken, getanzt und uns dann am Heimweg gestritten. Als wir in der Wohnung waren, stach sie auf mich ein. Ich stach auf sie ein. Sie starb. Ich kam ins Krankenhaus und von dort ins Gefängnis. Ich wurde zu 25 Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt.

Viele Menschen müssen ihre Heroin-, Crack- oder Meth-Sucht überwinden, wenn sie ins Gefängnis kommen. Ich war ein Social-Media-Junkie, den das Gefängnis auf World Wide Web-Entzug setzte.

Im Jahr 2010, als Facebook und Twitter noch in den Kinderschuhen steckten und Myspace das Internet dominierte, hatte ich immer wieder den gleichen Traum: Ich loggte mich bei Myspace ein, tippte Nachrichten an Familie, Freunde und Ex-Freundinnen – mein Posteingang quoll über vor Antworten.

Dann weckte mich der Schlagstock eines Wärters, der gegen meine Gitterstäbe schlug. Ich erwachte und hatte keinen schnellen elektronischen Zugang zu allen, die mir wichtig waren. Ich musste wieder Briefe per Hand schreiben und mich entscheiden, ob ich ein Brat-Hühnchen oder zehn Briefmarken kaufen sollte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich für Hähnchenkeulen entschied.

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Untersuchungen haben ergeben, dass ein Gefangener durchschnittlich zwei Jahre braucht, um sich an die Regeln und Einschränkungen der Anstalt zu gewöhnen und sich in der Gefängnis-Kultur zurechtzufinden. Nachdem man vier Stunden lang in einem übel riechenden Bus hin- und her geworfen wurde – mit Handschellen und an Fremde gefesselt – und in eine dystopische Welt aus Mauern und Gittern geworfen wurde, muss man den Kopf einziehen und einen stählernen Blick entwickeln, wenn man überleben will. Zu Beginn eines langen Gefängnisaufenthalts stellt sich eine Art Trägheit ein (denn das Gefängnis ist eintönig und deprimierend): Man lehnt sich zurück, versucht mit Schlägen den 13-Zoll-Fernseher in Gang zu bringen, der immer kaputt ist, kocht Ramen, trainiert mit Gewichten. Man versucht die Tage und Nächte in Gefängnislektüre wie Alexandre Dumas’ Der Graf von Monte Cristo, Sister Souljahs Der kälteste Winter aller Zeiten und Selbsthilfebüchern wie Eckhart Tolles Eine neue Erde zu ertränken.

Für das geistige und emotionale Wohlbefinden ist es aber entscheidend, die Kommunikation mit Freunden und Familie aufrecht zu erhalten und eine Verbindung zum früheren Leben herzustellen. Andernfalls vergißt man, wer man ist. Es ist hilfreich, einen treuen Freund zu finden, der den Kontakt zu Familienmitgliedern und Freunden hält, die keine Besuche im Gefängnis machen oder sich nicht melden.

Meine Freundin Krissa war die erste von vielen Menschen, die so freundlich waren, diese Aufgabe zu übernehmen. Nachdem ich Krissa sagte, dass ich nichts von Sarah gehört hatte, ging sie auf Sarahs Facebook-Profil, druckte Bilder von Harmony aus und schickte sie mir. Auf einem Bild trägt Harmony ein rosa Kleid, ihr Haar ist zu zwei braunen Knoten frisiert und sie lächelt. Ich klebte das Foto an die Wand – gegen das Weiß des Irrenhauses war es Medizin für meine geistige Gesundheit. Für Jahre war das Bild alles, was ich von ihr kannte.

Im Jahr 2015 hatte ich ein seltenes Telefonat mit meiner Mutter. Ich konnte sie nicht oft anrufen, da das Telefonieren sehr teuer war. Sie fragte mich, ob ich etwas von meinem Sohn Ameer oder Harmony gehört hätte. Ich hatte nichts über meinen Sohn gehört und was ich über Harmony hörte, gefiel mir nicht. Ich hasste es, wenn meine Mutter das Thema meiner Kinder ansprach. Es schnürte mir die Kehle zu.

Ich antwortete nicht. Ich seufzte nur tief in den Hörer. Ich hatte es satt, dass ich es mir nicht leisten konnte, meine Lieben anzurufen und dass sich kaum jemand, den ich kannte, die Zeit nahm, mir Briefe zu schreiben. Ich wusste, dass ich diese Probleme nicht hätte, stünde mir ein Internetzugang zur Verfügung.

„Robert“, sagte meine Mutter, „verliere deine Kinder nicht aus den Augen, während du da drin bist.“

Eigentlich wollte ich die emotional anstrengende Brücke der Elternschaft erst nach meiner Entlassung im Jahr 2030 überqueren. Das Gefängnis ist stressig genug. War ich bereit, mich der zusätzlichen Herausforderung zu stellen? Als Adoptivkind, das seinen leiblichen Vater nie kennenlernte, erkannte ich, dass Angst der Grund für meinen Egoismus war und diese Angst meiner Tochter schaden würde. Die Aussage meiner Mutter verursachte bei mir ein unangenehmes Gefühl, das noch tagelang anhielt.

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Kurz nach unserem Gespräch beantragte ich bei Gericht das Umgangsrecht mit meiner Tochter. Während ich wartete, verdrängte ich meine Ängste mit Gedankenspielen. Ich malte mir aus, wie ich in das Besuchszimmer stolperte und mich Harmony als ihr Vater vorstellte. Ihr hellbraunes Gesicht würde aufleuchten, meins auch. Ich täte, als wäre sie eine Rakete, während ich sie hoch über meinen Kopf hob und zu ihr sagte: „Keine Sorge, Daddy ist da.“

Etwa einen Monat später rief mich ein Justizvollzugsbeamter um einen Brief entgegen-zunehmen. Der Beamte riss den Brief vom Familiengericht auf, warf einen Blick darauf und reichte ihn mir. Das Gericht konnte Sarah die Papiere nicht zustellen. Ihre Postanschrift hatte sich geändert. Also bat ich meinen langjährigen Freund Keith, Sarahs Facebook-Seite zu besuchen. Er sagte mir, dass sie seit fast einem Jahr inaktiv war. Er schickte ihr trotzdem eine Nachricht.

Ich hatte keine Ahnung, wo meine Tochter war, bei wem sie lebte, ob sie in Sicherheit war oder nicht, oder wie ich sie finden konnte. Ich fragte mich, ob sie mich hasste. Ich hätte es verstanden. Aber es nagte an meiner Männlichkeit.

Wenn den Männern im Gefängnis die Kriegsgeschichten ausgehen, die sie sich gegenseitig erzählen, um ihren Platz in der sozialen Hierarchie zu festigen, haben sie nicht viel, womit sie angeben können, außer ihren Frauen und Kindern, also werden diese Beziehungen zu Statussymbolen. Ich sah, wie die Männer um mich herum Briefe von ihren Kindern erhielten. Ich erhielt gar nichts. Ich wünschte den Jungs „Viel Spaß“, wenn sie zu den Besuchen stolzierten und mit Polaroid-Fotos zurückkehrten. Wenn sie mit dem High School oder College Abschluss ihrer Kinder prahlten, hörte ich respektvoll zu, aber insgeheim kochte ich vor Neid. Dieser Neid hatte eine positive Wirkung – er entfachte ein wachsendes Feuer in mir. Ich wollte meinem kleinen Mädchen ein Vater sein, sie sollte in mir mehr sehen als nur einen weiteren inhaftierten schwarzen Mann.

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Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das PEN America’s Handbook for Writers in Prison gelesen (das mich auf die Idee brachte, dass es möglich sein könnte, im Gefängnis Schriftsteller zu werden), Arthur Plotniks Spunk & Bite verschlungen und Andrea A. Lunsford und Robert Connors’ The St. Martin's Handbook und Joseph M. Williams’ Style zu meinem neuen Nordstern erkoren. Wenn ich Harmony fände, wollte ich nicht nur stolz auf sie sein. Ich wollte ihr etwas zeigen können, so dass sie auch auf mich stolz sein könnte. Und ich wusste, dass es irgendwie mit Schreiben zu tun haben würde.

2019 lebte ich bereits seit drei Jahren in der Clinton Correctional Facility, einem Hochsicherheitsgefängnis in Dannemora, New York. Nach außen hin ist Clinton für den Ausbruch von David Sweat im Jahr 2015 bekannt. Innerhalb des New Yorker Gefängnissystems ist Clinton wegen seiner barbarischen Gewalt berüchtigt.

Ich habe gesehen, wie Häftlingen von anderen Häftlingen mit winzigen, handgeschliffenen Metall- und Kunststoffstücken Verletzungen im Gesicht zugefügt wurden – auf den Fluren, in der Kantine und in den Zellenblöcken. Der beste und sicherste Ort zu telefonieren, war der Fitnessraum, zu dem man nur jeden zweiten Tag Zugang hatte. Ansonsten durfte man nur auf dem Pausenhof telefonieren.

Der Hof von Clinton ist wie das römische Kolosseum aufgebaut. In der Mitte befindet sich eine Fläche aus Sand. Diese ist von einem Wall umgeben, der von unbefestigten Wegen und Steintreppen durchzogen ist. Kleine Bereiche darauf, so genannte Plätze, sind mit Holzzäunen abgegrenzt. Oft passiert es, dass man in einen Bandenaufstand gerät und gezwungen ist, an Pfefferspray fast zu ersticken, das mittels Gaskanistern versprüht wird, die die Wachen von den Türmen herab werfen, um die Menge zu zerstreuen.

Diese lebensfeindliche Umgebung war unvermeidlich, wenn ich im Freien trainieren oder ein Telefonat führen wollte. So verbrachte ich mehr und mehr Zeit im Zellenblock, hämmerte auf meiner Swintec-Schreibmaschine herum, schrieb Geschichten und Gedichte und wünschte mir einen sichereren Weg, mit der Welt jenseits des Stacheldrahts zu kommunizieren.

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Im Juli 2019 führte das New York State Department of Corrections ein Tablet-Programm ein, das den Inhaftierten Zugang zu Musik und Filmen, E-Books und einer verschlüsselten E-Mail-Plattform zur Kommunikation mit Freunden und Familie bieten sollte. Vor allem letzteres senkt nachweislich die Rückfallquote.

In der Schmutzwasser-Spüle (die genauso eklig aussieht wie sie klingt) wurden Internet-Terminals installiert. Die Spüle ist eine schrankgroße Zelle, die ein industrielles Waschbecken enthält, in dem Mopps und Lappen ausgewaschen und Besen und Kehrschaufeln an krummen Haken und Nägeln aufgehängt werden. Sie ist unheimlich, dunkel und mit Kakerlaken verseucht. Und ich habe große Angst vor diesen Insekten.

Zum Glück muss man die E-Mails nicht direkt am Terminal tippen. Nachrichten können am Tablet in einem Ordner gespeichert werden, um sie später zu bearbeiten, oder in den Postausgang gestellt werden. Wenn das Tablet am Terminal synchronisiert wird, werden alle Nachrichten im Postausgang gesendet und alle eingehenden Nachrichten in den Posteingang geladen.

Ich verschwendete keine Zeit. Ich setze mich sofort mit Harmonys Tante Shayna in Verbindung, die mich in einer Reihe von E-Mails auf den neuesten Stand brachte: „Das kleine Mädchen tut mir so leid.“

Harmony war adoptiert worden. Sarah durfte Harmony nicht mehr besuchen, aber Harmony kommunizierte mit ihrer Mutter, ihrer Tante und ihren kleinen Cousins per Telefon. Ich flehte Shayna an, Sarah zu erklären, wie man ein JPay-Konto einrichtet, die im Gefängnis verwendete E-Mail-Plattform.

Ich musste eine ganze Woche auf eine Antwort warten. Jeder Gefangene durfte nur einmal pro Woche für 15 Minuten sein Tablet am Terminal synchronisieren.

Damit gab ich mich nicht zufrieden. Die sofortige Befriedigung, eine E-Mail zu senden und zu wissen, dass jemand anderes sie sofort erhält, ist sehr stark. Außerdem musste ich E-Mails verschicken, um meine Familie zusammenzuhalten. Ich beschloss, einen disziplinarischen Verstoß zu riskieren, der dazu hätte führen könnte, dass mir mein Tablet weggenommen wird. Ich wagte es mein Tablet am Terminal ohne die Erlaubnis eines Justizwachebeamten zu synchronisieren.

Dazu steckte ich mein Tablet in den Hosenbund und ging leicht gebeugt zum Speisesaal, in der Hoffnung, dass es nicht heraus rutschte. Ich wählte einen Tisch, den die Beamten immer als erstes aufriefen, um zurück zu gehen. Ich achtete darauf, mich ganz vorne in die Reihe zu stellen. Sobald wir wieder im Zellenblock waren, rannte ich vor allen anderen die Treppe hinauf und schlüpfte in die Spüle, schloss den USB-Anschluss an mein Tablet an und wartete auf die Synchronisierung. „Komm schon, komm schon, komm schon“, flüsterte ich in der Dunkelheit, sah mich nach Kakerlaken um und lauschte ob Schritte die Treppe hinaufkamen. „Komm schon, komm schon, komm schon!“ Dann schlich ich mich aus der Spüle und mischte mich wieder unter den Rest der Gefangenen, die zu ihren Zellen gingen.

Am 15. Dezember 2019 schrieb mir Sarah  eine Nachricht und schwärmte: „Harmony sieht genauso aus wie du! Lol . . . dein Hautton, deine Augen . . . sie ist eine Mädchen-Version von dir!“

Ich las Sarahs Nachricht tausendmal und wusste einfach, dass die Freude, die ich an diesem Tag in meiner Zelle spürte, mich durchhalten lassen würde, bis ich mit Harmony endlich in Kontakt treten konnte.

Doch dieser Tag ließ noch einige Monate auf sich warten. Am 21. Juli 2020 loggte sich Harmony, inzwischen zwölf Jahre alt, in Sarahs JPay-Konto ein: „Hey . . . ich bin’s, Harmony. Ich kann es nicht erwarten, dich zu sehen. Es tut mir leid, dass ich nicht viel zu sagen habe, aber ich liebe dich und werde dich immer lieben. Ich weiß nicht, ob es funktioniert hat, aber ich habe ein Bild von mir geschickt. OMG. Ich habe den Senden-Button oben nicht gesehen.“

In dieser Nacht tippte ich bis drei Uhr morgens: „Harmony, ich hasse es, kitschig und wie Darth Vader zu klingen, aber – hier ist dein Vater, und ich liebe dich.“

Ich beschloss, dass ich unsere Beziehung nicht auf Lügen aufbauen würden. Ich erzählte ihr, warum Sarah und ich uns getrennt hatten, und dass ich sie nie aufgegeben hatte. Ich erzählte ihr genau, weswegen ich im Gefängnis war, meine Reflexionen, warum es passiert ist und warum ich nie hätte tun sollen, was ich getan habe. Ich erzählte ihr, dass ich früher in meiner Nachbarschaft als Rapper namens 5 Starrz bekannt war, jetzt aber Schriftsteller sei und plante, ein Buch im Selbstverlag zu veröffentlichen. Ich dankte ihr dafür, dass sie mir schrieb, sie liebe mich, denn ich hatte befürchtet, sie könnte mich hassen. Ich nannte sie meine kleine Schönheitskönigin und schrieb ihr: „Ich hoffe, dieser Brief macht dir Mut! Du bist nicht mehr allein. Ich liebe dich mit jedem hellen Fleck meiner Seele.“

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Harmony antwortete: „Als ich las, dass du dachtest, ich könnte dich hassen, hat mich das sehr traurig gemacht. Ich habe weder dich noch meine Mutter je gehasst. Als ich jünger war, habe ich mich oft gefragt, warum die Dinge so sind, wie sie sind, aber nicht ein einziges Mal habe ich daran gedacht, das Wort Hass auf jemanden anzuwenden, den ich liebe.“

Seit Juli 2020 sind wir in ständigem Kontakt. Ich lernte, ihre knappe Sprache voller Abkürzungen zu entziffern. Sie erzählte mir von ihrem Lieblingsrapper Pop Smoke und den Frisuren, die sie passend zu ihren Outfits kreierte, und verlangte, dass ich sie immer ernst nehme. Ich freute mich auf ihre langen Nachrichten über alles und jeden, der sie ärgerte oder deprimierte, die sie mit „muss Dampf ablassen“ betitelte.

Manche ihre Äußerungen führten mich an dunkle Orte, wo ich die Art von Machtlosigkeit spürte, die einem Bestimmung gibt. Als ich von den vielen Ungerechtigkeiten las, die meine Tochter in so jungen Jahren durch die rücksichtslosen Hände von vermeintlich verantwortungsvollen Erwachsenen erlitten hatte, fühlte ich so viel Schuld und Wut. Ich hätte es an einem Mitgefangenen auslassen können, der es nicht verdient hatte, oder an einem Justizvollzugsbeamten, was nichts gebracht hätte. Stattdessen habe ich meine Wut kanalisiert. Ich erzählte ihr von meiner eigenen schwierigen Kindheit, von der Verzweiflung im Gefängnis und davon, dass ich vieles von dem, was sie durchmachte, verstand.

Ich schrieb ihr: „Ich weiß, wie es ist, sich gefangen zu fühlen, allein zu sein und niemanden zu haben, mit dem man reden kann.“

Einmal hatte ich keine der elektronischen Briefmarken mehr, die man benötigt um eine Mail zu senden. Als wir die Tablets bekamen, kostete eine einzige Briefmarke 46 Cent. Der Lohn für Gefängnisarbeit liegt in New York bei zehn bis 65 Cent pro Stunde. Dank der Beschwerden von Familien und Interessensgruppen wurde der Preis für eine JPay-Briefmarke in New York auf zwölf Cent pro Marke gesenkt. Kritiker argumentieren nach wie vor, dass die Preise für gesicherte Nachrichtenübermittlungsdienste wie JPay niedriger oder sogar kostenlos für Gefangene sein sollten, da sie einen sozialen Nutzen haben.

Ich kann diese Argumente nachvollziehen und weiß, dass die Preise für die JPay-Dienste in einigen Staaten noch höher sind. Aber das steht für mich nicht im Vordergrund, wenn ich über JPay nachdenke. Vielmehr bin ich der Strafvollzugsbehörde dankbar, dass sie diesem Unternehmen erlaubt hat uns Tablets zur Verfügung zu stellen. Manchmal wünschte ich, die Tablets wären nicht so schlecht gebaut und so fehleranfällig. Dass es Tage dauert, bis lange Nachrichten vollständig geladen sind, macht es schwierig, wenn ich für Publikationen schreibe und versuche, den Text mit meinen Redakteuren auszuarbeiten. Doch ohne diese Technologie hätte ich keine Beziehung zu meiner Tochter aufbauen können.

Ich mache mir immer noch Sorgen um meinen Sohn Ameer, der jetzt 24 ist. Ich habe versucht ihn zu erreichen, ohne Erfolg. Ich hoffe immer noch, dass ich eines Tages mit ihm in Kontakt treten kann. Ich möchte, dass auch er weiß, dass ich ihn liebe.

In der Zwischenzeit habe ich begonnen, meinen Traum zu verwirklichen, ein professioneller Schriftsteller zu werden. Im Jahr 2023 habe ich drei Artikel veröffentlicht: „In Prison, Networks of Addiction Run Deep“ (Prison Journalism Project), „Turning Sentences Around“ (PEN America) und „Good Writing in a Bad Place“ (Literary Hub).

Alle drei Beiträge schrieb ich auf meinem Tablet und überarbeitete sie dann mit den Redakteuren per E-Mail. Das Tablet hat es mir ermöglicht, eine Karriere aufzubauen und beruf-liche Kontakte zu knüpfen, die ich nach meiner Entlassung weiter pflegen kann. Wenn Harmony jetzt ihren Vater googelt, sieht sie, obwohl ich eingesperrt bin, mehr als nur einen Gefangenen. Sie sieht einen Schriftsteller mit langen Dreadlocks. Am Telefon sagt sie mir, dass ich immer noch „drip“ (Stil) habe. Sie ist stolz genug auf das, was ihr alter Vater aus sich gemacht hat, um ihren Freunden meine YouTube-Präsentation über Hochschulbildung im Gefängnis zu zeigen, die live über Webex aufgenommen wurde. (Es fühlte sich gut an, ihr zu sagen, dass ich ein schwarzer Geschichtsschreiber bin: meines Wissens der erste inhaftierte New Yorker, der dies tat).

Sehe ich mir die neuesten Fotos an, die Harmony mir geschickt hat, auf denen sie ganz erwachsen aussieht, kann ich nicht anders, als stolz darauf zu sein, dass sie mir ähnlich sieht. Noch besser für Harmony ist es jedoch, dass sie auch wie ihre Mutter aussieht. Vor allem aber weiß sie jetzt, dass ich sie liebe und immer geliebt habe, auch in den Jahren, in denen wir keinen Kontakt haben konnten