Es war Hochsommer. Die Beerensträucher an den Hängen wiesen kahle Stellen auf, wo Kinder vorbeigegangen waren und Früchte abgezupft hatten; hin und wieder hingen noch Büschel mit unreifen Beeren dran, und unter den Blättern versteckten sich einzelne, die von den Kindern übersehen worden waren. In den Wäldern hatten sich die Farne schon längst entrollt, und die Wedel erhoben sich in anmutiger Frische. Das tiefe Grün des Sommers mischte sich auf den Feldern und Hecken mit dem Purpur und Gelb von Phlox und Leinkraut, dem matten Weiß von Schafgarben und Wilden Möhren. In den Hecken wimmelte es von summenden Bienen und sorglosen kleinen Vögeln, die dort ihre Jungen aufzogen. Die staubbedeckte Straße zu dem Dorf Drury führte gerade durch die Wiesen, schlängelte sich dann über einen kleinen Hügel, überquerte eine steinerne Brücke, zog sich das Flusstal entlang durch die Wälder und kam am anderen Ende bei einer Ansammlung von Wohnhäusern und Läden und dem Wirtshaus »Zur Schwarzen Taube« heraus.
Auf dieser Seite des Waldes lag ein wenig zurückgesetzt das Häuschen des Wagenbauers Giles. Es war solide gebaut, wirkte aber eintönig. Die blanken Fenster waren von Vorhängen verhängt, der Garten war durch ein zerbrochenes Rad verunstaltet, dass jemand in ein Blumenbeet geworfen hatte. Giles hatte sich bei dem Stellmacher von Drury verdingt, dem wohlhabendsten Handwerker im ganzen Bezirk. Giles war zwar ein geschickter Arbeiter und seinen Lohn wert, wenn er an seiner Arbeit war, doch der Umgang mit ihm war schwierig. Seine Frau Prudence fegte und scheuerte, buk und nähte und beobachtete ihn mit ängstlichem Blick, gebeugt vom Gewicht der Mutlosigkeit.
Sein Meister war ein frommer, tadelloser Mann mit einem festen Stammplatz in der Kirche. Auf seine Weise war er gerecht, aber kalt und leblos wie Stein. Er zahlte für das, was er kaufte, und wer für ihn arbeitete, hatte zu spuren, sonst ging er mit leerem Beutel heim. Er ließ Giles arbeiten, weil dieser großes handwerkliches Geschick besaß und es sich bezahlt machte, ihn von Zeit zu Zeit zu beschäftigen. Doch Giles konnte nicht immer arbeiten. Es gab Zeiten, da stolperte er aus der Schwarzen Taube« und ging unsicheren Schrittes mit furchterregendem Gesicht durch die Straßen des Städtchens. Dann konnte man ihn für eine Woche oder länger bald hier, bald dort ziellos umherstreifen, manchmal auch wie betäubt am Flussufer liegen sehen, und jeden, der sich ihm nahte, bedachte er mit einem Fluch.
Selbst in seinen guten Zeiten kam ihm niemand besonders nahe. Wenn er seine bösen Anfalle hatte, mieden ihn alle, und selbst Prudence stellte ihm sein Essen mit verzerrtem und verschrecktem Gesicht auf die steinerne Türschwelle, als sei er ein wilder Hund. Ängstlich hielt sie dann Ausschau, ob er kam und es sich holte.
Im Herzen einer ausgeprägten Lieblosigkeit verbirgt sich meist Eiseskälte und der harte Griff gottloser Sitten, doch bei Giles brannte im Herzen seiner Lieblosigkeit nur ein trübes Feuer. Die bittere Not des Mannes traf alle, die ihm begegneten, wie die stechende Berührung der Nessel. Die Leute behaupteten, es müsse in seiner Vergangenheit etwas Böses geben, das ihn verfolgte; oder sie meinten, jener längst vergangene Winter, als alle seine Kinder an Diphterie starben, habe sein Gehirn verwirrt; doch nie sah man ihn auf dem Kirchhof in der Nähe der kleinen Grabsteine, und er sprach auch nie von ihnen. Wenn er nicht im Zustand der Trunkenheit vor sich hinmurmelte oder brüllte, sprach er überhaupt nur selten. Es war, als lebe er fern vom Tun und Lassen der Menschen, von Geburt und Tod, von einfacher Freundschaft und dauerhafter Liebe, dem gemeinsamen Herdfeuer im Winter, fern der von einer Kinderhand heimgebrachten Blumensträußchen, dem Singen der Kameraden, gemeinsamem Wachen und Mühen, all der Fäden, die eine Schicksalsgemeinschaft weben. Er lebte auch fern aller Kleinlichkeit; er bemühte sich nicht, einen Pfennig über das hinaus zu verdienen, was er für seine Arbeit bekam; ihn kümmerte nicht, was die Menschen dachten. Seine Bedürfnisse waren gering, und selbst im trunkenen Zustand fügte er niemandem einen Schaden zu. Doch alle Menschen, gute und böse, reiche und arme, waren für ihn jenseits einer versperrten und verriegelten Tür. Seine Frau Prudence duldete er lediglich sowie den Krug, aus dem er trank, oder die Bettstatt, in der er schlief. Hinter dem Blick seiner Augen oder dem Heben seiner Hand lag so viel Bitterkeit, dass man den angedrohten Schlag fast spürte. Er verachtete selbst die geringsten Spuren des Glaubens, und Prue hatte ihn in seinen schlimmsten Zeiten sogar Gott verfluchen hören.
Die Jahre des Elends drückten sie so sehr, dass Prue kaum daran zurückdenken konnte, wie es zu Anfang gewesen war. Er war ein großer Bursche gewesen, dunkel und schon mit mehr als einer Andeutung von Launenhaftigkeit. Er war aus der Stadt als Lehrling zu ihrem Vater gekommen und hatte nur gesagt, er habe keine Familie. Sie war damals ein ruhiges kleines Ding, weichherzig und immer bereit, zu helfen und zu trösten. Das kühne Selbst vertrauen der Jungen aus ihrer Bekanntschaft gefiel ihr überhaupt nicht. Giles dagegen war still und tiefgründig. Ihr Vater warnte sie und weigerte sich, ihnen zu helfen, denn er sah eine Gefahr in Giles. Doch die Einsamkeit des fremden Jungen hatte sie gefangengenommen und irgendwie hoffte sie, ein bisschen Fröhlichkeit in sein Gesicht und einen freien Klang in seine Stimme zu bringen. So hatten sie geheiratet, sich in Drury niedergelassen und nach Arbeit gesucht. Doch all ihre Hoffnungen waren mit der Zeit dahingewelkt. Als ihre Kleinen starben, konnte sie ihm in ihrem eigenen tiefen Kummer keinen Trost bringen, und seine düstere Stimmung vertrieb jede menschliche Gemeinschaft von ihrer Schwelle.
Als der Sommer über das Land zog, die Luft mit süßen Gerüchen und Klang erfüllte, die scharfen Konturen der Landschaft weicher erscheinen ließ und Arbeit auf dem Feld und bei den Herden mit sich brachte, fühlte Prue einen Hoffnungsschimmer in ihrem Inneren. Bei ihrer Gartenarbeit blickte sie hin und wieder die Straße entlang, und wenn jemand vorbeiging, hockte sie sich nieder und beobachtete ihn mit einem ungewohnten Beben der Hoffnung im Herzen. Doch worauf hoffte sie? Manchmal verließ sie ihren Kochkessel, lehnte sich unter die Haustüre und träumte. Doch für Giles war das ganze Jahr über Winter; je lieblicher die Erde wurde, desto mehr überkamen ihn seine Anfalle.
In diesem Sommer hatte sich Prue wie in all den Jahren mit einem schmalen Hoffnungsschimmer abgemüht. Bei ihren seltenen Gängen ins Dorf blickte sie in jedes Gesicht, als suche sie jemanden. Sie hielt Ausschau nach einem Zeichen von Freundschaft, doch das Stigma von Giles lastete viel zu stark auch auf ihr. Sie brachte sogar einer kranken Frau auf der anderen Seite des Waldes ein frisch geschlachtetes Huhn, doch die erstaunte Verwirrung der Frau erschreckte sie. »Was kümmern die sich schon um uns!“ dachte sie. »Selbst wenn ich alles weggäbe, was ich habe, wäre es ihnen gleichgültig. Die Menschen sind hart. Nur die Erde ist rein.« Sie weinte ein bisschen wegen ihrer toten Hoffnungen und ihrem Kummer.
An jenem Morgen wachte sie vor Tagesanbruch auf, im Herzen das alte Beben einer Hoffnung, zart wie die erste Regung eines ungeborenen Kindes. Ruhelos kroch sie aus dem Bett und beobachtete vom Fenster aus, wie sich im Osten langsam das Licht ausbreitete, wie die blasse Straßenkrümmung aus der Dämmerung hervortrat und die Dunkelheit aus den Wäldern wich. Vor Sonnenaufgang zu erwachen und zu sehen, wie der Tag aus der Schöpfung heranbrach, ließ diesen Tag zu einem Juwel in der eigenen Hand werden. Nun, um die Mitte des Tages kniete sie im Garten zwischen den Beerensträuchern und jätete Unkraut, die Finger voll Dreck; die Sonne brannte auf ihrem Rücken, ihr Herz war von Kummer erfüllt, und das Wunder des Morgens hatte sich verflüchtigt. Giles war in besonders übler Laune erwacht, hatte weder Haferbrei noch Milch angerührt und war wortlos an seine Arbeit gegangen. Unter seinem Blick war ihr übel geworden, halb vor hoffnungsloser Sorge, halb vor Angst. Trotz all der Jahre, in denen sie solche Morgen erfahren hatte, fielen ihre Tränen auf die Blatter der Beerensträucher; mehr als einmal fuhr sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Langsam erfüllte sie Erstaunen darüber, dass in ihrem Inneren noch immer dieses winzige Fünkchen Hoffnung glimmte, das ihre Pein und zugleich ihre Freude war. Sie fragte sich, was es zu bedeuten habe, dass dieses Fünkchen nicht sterben wollte, sich weigerte, auszugehen, gänzlich zu ersticken. Auf was und auf wen hoffte und harrte sie? Gewiss nicht auf Trost von Sterblichen, auf irdischen Wandel.
Sie ließ sich auf die Fersen nieder und streifte sich die Haare aus der Stirn. Von fern her hörte sie über die vertrauten morgendlichen Geräusche ihres kleinen Heimes hinaus von der Straße fröhliches Schwatzen und Unruhe. Über die Erhebung der alten steinernen Brücke nahte ein Trupp Kinder mit einem hochgewachsenen Fremden in ihrer Mitte. Sie kamen langsam heran, lauschten offensichtlich einer Geschichte, die sie hin und wieder mit Bemerkungen oder Gelächter unterbrachen. Manche erkannte sie undeutlich als Kinder aus dem Dorf, doch andere waren ihr fremd. Um die Gruppe herum liefen im Kreis drei oder vier Hunde, die sich von Zeit zu Zeit unter die Hand des Fremden schoben, doch war kein Bellen zu vernehmen. Um die seltsame Schar schien eine Helligkeit zu schweben, lichter als der Sonnenschein, eine Atmosphäre der Fröhlichkeit, eine Warme, die erfrischte und nicht bedrückte. Prue kniete wie angewurzelt da, und als sie die Gruppe näherkommen sah, fühlte sie ein seltsames Pochen in der Brust. Sie hielt sich die Hand auf den Mund, um nicht laut zu rufen, obwohl sie nicht wusste, warum oder was sie hatte rufen wollen. Sie spürte, dass sie sie aufhalten, etwas von ihnen empfangen oder sich unter sie mischen müsse. Sie näherten sich dem Tor und gingen daran vorbei, als ein kleiner Junge sich plötzlich von der Seite des Fremden löste, das Tor aufstieß und auf sie zulief. In seiner Hand trug er einen Kürbis. Mit fröhlichem Gesicht hielt er vor ihr an.
»Könnte ich bitte ein wenig frisches Wasser von Ihrem Brunnen haben, damit der Mann trinken kann?«
Prue erhob sich schwankend, nahm den getrockneten Kürbis mit zum Brunnen, füllte ihn und brachte ihn dem Jungen. Lächelnd nahm er ihn aus ihren Händen und lief zwischen den Blumenbeeten hindurch zum Tor. Die Gruppe hatte einen Augenblick innegehalten, und nun blieb auch der Fremde stehen und nahm den Kürbis. Über die Kornblumen und Weinreben hinweg blickte er sie an; kein Laut war zu hören außer dem gleichmäßigen Summen der Bienen und dem Liedchen eines Zaunkönigs im Fliederstrauch. Die Luft war still, von Licht erfüllt. Prue stand da und nahm den Blick in sich auf; ihr Herz pochte, sie stand wie im Nebel, und ihre zusammengepressten Hände wurden feucht und klamm. Während sie wie betäubt dastand und zusah, trank der Mann, hängte sich die Kürbisflasche an den Gürtel und zog mit seiner Gruppe weiter. Singend wanderten sie die Straße entlang bis in den Wald, und sie sah ihnen nach, bis sie gänzlich aus ihrem Blick entschwunden waren, und horchte, bis der letzte goldene Ton verklungen war. Doch die Helligkeit ... die Helligkeit war nicht mit ihnen entschwunden!
In dem kühlen, neugeschaffenen Morgen, an dem die Tautropfen auf Blattern und Blüten glitzerten, stand Giles in der Türe. Er war unausgeruht aufgewacht, mit wundem Herzen und einem schalen Gefühl in seinem Inneren. Neben der Türe erblühten die Wunderblumen mit dunkelgrünen, glänzenden Blättern und tief-rosanen Blüten, zwischen denen ein funkelndes Spinnennetz aufgehängt war, das er sofort bemerkte, als sein Blick darauf fiel!. Wieder überflutete ihn die Nutzlosigkeit seines Lebens, die Verschlingung und Verstrickung seines eigenen Selbst, wenn eine einfache, niedere Kreatur ein solches Juwel schaffen konnte! Als Prue mit sechs weißen Eiern in der Schürze aus dem Hühnerstall kam, war er schon auf dem Weg, verschwendete keinen Blick, kein Wort an sie. Mit finsterem Gesichtsausdruck und ohne Frühstück im Bauch ging er, seiner Gewohnheit nach, die Straße hinab zu seiner Werkstatt, doch in seinem Inneren war es, als zögen sich die Bande immer enger zusammen, und schwarzer Hall stieg auf.
In der Werkstatt angekommen, arbeitete er an seiner Werkbank und nahm das Schaff en und Treiben um sich herum kaum zur Kenntnis. Die Werkstatt ging direkt zur Straße hinaus, und die Türen waren weit offen, um die Luft und Helligkeit des Sommertages hereinzulassen. Auf der anderen Seite des engen, gepflasterten Weges lag der Hof der
»Schwarzen Taube«, wo kleine Knirpse im Staub mit Steinchen warfen. Hausierer kamen und gingen; auf einer Bank im Schatten döste ein alter Mann. Die breiten Fensterflügel der Wirtschaft Standen offen, und die dicken alten Türen waren angelehnt. Von drinnen drang der heitere Laut von Stimmen und der angenehme Duft von schmorenden Bohnen und gebratenem Fleisch nach draußen.
Als die Tageshitze zunahm, schob Giles seine Bank näher zur Türe. Von der Rückseite des Hauses erklang das kräftige Schlagen und Hämmern vom Rahmen eines geräumigen Wagens, der für einen wohlhabenden Bauern in einem entfernten Bezirk gefertigt wurde. Giles arbeitete an den großen Rädern, neben sich einen schmalen Stapel fertiger Speichen, hinter sich einen großen Haufen roher Holzpfahle. Er nahm ein frisches Holzstück, befestigte es und nahm den Speichenhobel zur Hand. Beim Ansetzen des Hobels traf er auf einen Astknoten und zerbrach das Holz. Fluchend warf er es auf den Abfallhaufen; dabei fiel sein Blick auf den Hof der Wirtschaft.
Ganz unbewusst hatte er wahrgenommen, dass die fröhlichen Geräusche und das Hin und Her einen neuen Klang angenommen hatten. Doch nun traf ihn eine seltsame Helligkeit, als habe sich die Sonne verschoben. Er sah einen Haufen Kinder und erkannte, dass das Geräusch von ihrem Lachen und Schwatzen herrührte. Sie hatten sich um die Bank versammelt, auf der der alte Mann, der nun aufgewacht war, sein Nickerchen gehalten hatte. Ein Fremder saß dort, ein junger Mann noch; sein Gesicht war durch die Kinder halb verdeckt, doch seine großen, geschickten Hände waren zu sehen, die an einem Stück alten Holzes schnippelten und schnitzten. Nach und nach formte sich eine Ente aus dem Holz, und als sie fertig war, wurde sie dem übermütigsten unter den Kindern in die Hand gedrückt. Ein weiteres Holzstück wurde dem Fremden übergeben, und diesmal entstand ein kleiner Hund mit spitzen Ohren, nach dem die Kinder begierig fassten. Als der Fremde das dritte Holzstück nahm, um ihm eine neue Form zu geben, spürte Giles seinen Blick wie einen Lichtstrahl auf sich. Mürrisch wandte er sich wieder seiner Arbeit zu mit dem seltsam wehen Gefühl im Herzen und der hoffnungslosen Dunkelheit um sich, die wie eine drohende Wolke auf ihm lag. Diesmal traf er erneut auf einen Astknoten, sein Daumen rutschte ab, und er schnitt sich. Wieder fluchte er, saugte die Wunde aus, wischte sie an seinem Kittel ab und schuftete weiter. Doch das Holz war spröde und musste weggeworfen werden. Das nächste Stück hobelte er zu dünn. Das folgende Stück geriet mit viel Mühe richtig und wurde zu dem fertigen Stapel gelegt. Er warf nochmals einen Blick auf den Fremden und begegnete seinem Blick, der ihm tief ins Herz drang. In seiner Brust spürte er ein eigenartiges Pochen, der Hobel fiel ihm polternd aus der Hand, er erhob sich blindlings und stolperte über das Pflaster durch den Hof, an den Kindern vorbei, die zur Seite wichen. Der Fremde saß schweigend in ihrer Mitte. Giles tauchte in die Dunkelheit der Wirtschaft, ging durch die Halle zur Theke, wo er laut klopfte und nach Bier verlangte.
Als er eine gute Stunde später wieder herauskam, waren die Kinder und der Fremdling verschwunden. Giles, der vom Bier auf leeren Magen benommen war, taumelte, ohne auf den Weg zu achten, über das Pflaster in die Werkstatt zurück zu seiner Bank. Schwankend hielt er inne und umklammerte den Türrahmen. Neben seiner Bank lag anstelle eines Haufens roher Holzstäbe ein sauberer Stapel vollkommen gearbeiteter Speichen. Die Hobelspäne waren ordentlich fortgefegt worden, und sein Speichenhobel hing am gewohnten Nagel. Giles nahm all dies mit verschwommenem Blick wahr, während er dastand und in der stillen Luft des Mittags nur seine eigenen Atemzüge vernahm. Dann fuhr er mit einem Fluch herum, ging die Straße hinab aus dem Ort hinaus, doch nicht nach Hause, sondern in eine andere Richtung. Selbst die Hunde scheuten vor ihm zurück, und die braven Hausfrauen schüttelten den Kopf und schwiegen vor Mitleid und Bestürzung still, als sie ihn erblickten.
Am späten Nachmittag warfen die Hecken ihre Schatten halb über die Straße. Zaunkönig und Drossel waren in der Hitze für eine Weile verstummt, doch ein paar braune Sperlinge hüpften und flatterten im kühlen Staub, wo vor langer Zeit eine Pfütze ausgetrocknet war. Giles, der so ungefähr eine Stunde unter einer Brücke gelegen und in trunkenen Schlaf gefallen war, bis ihn das Rattern eines Wagens auf den hölzernen Bohlen geweckt hatte, wanderte nun zur Straße zurück. Er wusste und achtete nicht darauf, wohin er ging. Er trug einen Stock bei sich, denn das Gefühl von Holz in seiner Hand war ihm zur Gewohnheit geworden. Er schritt mit gesenktem Kopf dahin, ziellos, als werde er gejagt. Er versuchte, alles Denken, alles Fühlen aus seinem Geist zu verdrängen, an der barmherzigen Leere festzuhalten, in der es keinen Schmerz gab; doch der alte Trick des Vergessens, der ihm so lange auf diese Weise geholfen hatte, hielt dem kleinen Stich des Gedächtnisses nicht stand, den Blick auf lange, braune Finger, die eine Holzente in die Hände eines schmutzigen Kindes legten, den Stapel van Speichen neben seiner Werkbank, die Helligkeit in der Luft des Hofes hinter der Wirtschaft. Die Schöpfung um ihn verkündete laut den Lobpreis Gottes, die einfache Liebestat erwartete seine Hand. Ach, wann hatte ihn das Böse erstickt? Wo hatte der verkehrte Weg ohne Rückkehr seinen Anfang genommen, das dichte, giftige Gestrüpp sich hinter ihm geschlossen? Er war der Ausgestoßene, der Vergessene Gottes !
Seine Hand hob sich, denn wie im Traum sah er den Sperling im Staub. Der Stock traf unfehlbar; der kleine Spatz flatterte und fiel nieder, ein kleines struppiges Häuflein mit verkrümmtem Kopf. Giles hielt an und starrte auf das, was er getan hatte.
Da bemerkte er, dass die Straße herauf jemand nahte, auf einem Pfad der Helligkeit, als habe sich der Schatten einer Wolke von der Sonne geschoben. Mit entsetzlicher Anstrengung spähte er und sah, dass es der Fremde war, der sich, noch weit entfernt, stetigen Schrittes näherte. Ächzend ließ sich Giles ins tiefe Gras fallen und kroch unter die Hecke. Eine Zeitlang verbarg er sein Gesicht, dann hob er den Kopf wie unter einem Zwang. Ein seltsames Pochen dröhnte in seiner Brust und erschütterte seine ganze Gestalt. Der Fremde kam näher und näher. Er ging mit gleichmäßigem Schritt, und doch nahm er alles um sich herum wahr, nicht wie einer, der sein Augenmerk nur auf seine eigenen Angelegenheiten richtet. Die eigenartige Helligkeit umgab ihn. Das Pochen in der Brust schwoll an, und Giles war keiner Bewegung mehr fähig, nur das Zittern hielt an. In seinen Ohren dröhnte es laut. Näher und immer näher kam der Fremde. Es war, als hinge alles Leben an diesem Augenblick, als bebe es in dieser Sekunde, und wie durch Nebel sah Giles, wie der Fremde anhielt, den Blick auf die Straße gerichtet. Im Staub zu seinen Füssen lag der tote Sperling. Er bückte sich, hob ihn auf und drückte ihn mit beiden Händen an sich. Bevor das Dröhnen in seinen Ohren ihn überwältigte, sah Giles, wie der Mann die Hände ausstreckte und sie öffnete. Der Vogel flatterte und hupfte auf seinen Fingern und flog davon.
Als Giles wieder zur Besinnung kam , setzte er sich unter der Hecke auf. Er fühlte sich schwach und leer, kaum dass er seinen eigenen Namen wusste. Im nächsten Augenblick aber raffte er sich auf, lief zur Straße und suchte nach dem toten Sperling, der nirgends mehr zu sehen war. Dann rannte er die Straße hinauf und hinab, doch auch der Fremde war fort. Da stand er nun, sog die Luft tief in seine Lungen und sah wie ein Narr vor sich hin, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Die Fesseln in seinem Inneren zersprangen eine nach der anderen. Die Luft um ihn war hell und strahlend, und aus dem Wald kroch schon die Kühle des Abends. Mit einem Freudenschrei lief er querfeldein, auf dem kürzesten Weg nach Hause, um Prue zu erzählen, was sich zugetragen hatte.
From The Secret Flower And Other Stories by Jane Tyson Clement.