My Account Sign Out
My Account
    View Cart

    Subtotal: $

    Checkout
    photos of middle eastern children

    Kriegskinder

    und ihre Träume

    von Cat Carter

    Freitag, 13. Oktober 2023

    Verfügbare Sprachen: English

    0 Kommentare
    0 Kommentare
    0 Kommentare
      Abschicken

    „Warum fragst du mich, ob es in meinem Land etwas zu essen und Wasser gibt, wo ich doch aus nächster Nähe mit ansehen musste, wie meine Freunde hingerichtet wurden? Warum fragst du nach so etwas?“

    —Hassan, 14 Jahre alt

    Am 23. Juni 2015 im Internet veröffentlicht. Zuerst erschien der Artikel in Plough Quarterly No. 5: Peacemaking. Deutsche Übersetzung von Ingrid von Heiseler.

    Soweit nicht anderweitig vermerkt sind alle Fotografien von Jonathan Hyams in: Untold Atrocities. The History of Syria’s Children. Hrsg. Save the Children

    Die Frage des vierzehnjährigen Hassan verschlug mir die Sprache. Es war zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien und ich sprach mit Flüchtlingskindern an der syrisch-libanesischen Grenze, denn ich hoffte, ich könnte erfahren, was sie brauchen. Ich dachte, ich wüsste, was ich hören würde: lange Schlangen, um Brot zu bekommen, schmutziges Trinkwasser, Angst, dass Granaten auf das Haus fallen könnten, einige würden die Geschichte ihrer Verluste erzählen … Aber nichts hatte mich auf das vorbereitet, was ich zu hören bekam. Im Strudel des Krieges üben Erwachsene Gewalt aus – aber die Kinder leiden.

    Das Völkerrecht ächtet die Rekrutierung von Kindern in bewaffneten Konflikten. Dennoch werden weltweit bis zu 300.000 Kinder in diesem Zusammenhang ausgenutzt. Einige werden zum Kampf, einige zum Minenlegen oder zum Waffentragen gezwungen. Andere werden als Spione oder Kuriere eingesetzt. Wenn Kinder verdächtigt werden, können sie gefangen genommen und inhaftiert werden – oder auch dann, wenn vermutet wird, dass ihre Eltern für ihre Freilassung bezahlen werden.

    Auch die, die nicht direkt an dergleichen beteiligt sind, leiden, weil in jedem Krieg eines der ersten Opfer die Gesundheitsversorgung ist. Krankenhäuser konzentrieren sich darauf, die Kämpfer wieder kampffähig zu machen, Mütter und Kinder kommen erst in zweiter Linie an die Reihe. Selbst dort, wo das nicht der Fall ist, ist es für Ärzte und Krankenschwestern äußerst schwierig, sich auf angemessene Weise um die Kranken zu kümmern, weil die Einrichtungen der Gesundheitsversorgung zerstört sind oder wenn sie zu wenig Personal haben oder ihre Vorräte zu Ende gegangen sind. Es wird geschätzt, dass in Syrien 60 Prozent der Krankenhäuser beschädigt oder zerstört sind und dass fast die Hälfte der Ärzte geflohen ist. In der größten Stadt des Landes, in Aleppo, waren 2014 nur noch sechsunddreißig Ärzte von den 2.500 übrig, die dort gewesen waren, bevor der Bürgerkrieg begann.

    Selbst vermeidbare Krankheiten verlaufen in Kriegsgebieten oft tödlich. Wenn man Gefahr läuft, einer Bombe zum Opfer zu fallen, während man für eine Schutzimpfung Schlange steht, oder wenn man zum Ziel eines Scharfschützen werden kann, wenn man durch die Stadt geht oder fährt, bleiben Familien verständlicherweise zu Hause. Die Folge ist, dass eine ganze Generation nicht geimpft wird. Der Krieg schafft Lebensumstände, in denen Menschen eng zusammengepfercht und im Schmutz leben, so dass sich Epidemien leicht ausbreiten. In diesen Lebensumständen sind die Kinder durch Stress und Hunger erschöpft und geschwächt und dadurch noch zusätzlich gefährdet. Bis zu 30 Prozent der Kinder, die sich während humanitärer Katastrophen mit Masern anstecken, sind in Gefahr zu sterben.

    Schulen sind ebenso wie Krankenhäuser völkerrechtlich geschützt. In den neuen Kriegen wurden Schulen jedoch absichtlich anvisiert. Kriegsgruppen haben entdeckt, dass es äußerst effektiv ist, einen Panzer bedrohlich auf eine Schule zufahren zu lassen: Nur wenige Dorfbewohner werden angesichts einer so furchtbaren Bedrohung weiterhin auf irgendeine Weise protestieren. Und wenn eine Schule als Waffenlager oder als Abschussrampe für Raketen benutzt wird, verdoppelt sich der Schaden: Das Gebäude kann nicht als Schule genutzt werden und es verliert auch völkerrechtlich seinen Status als zivile Einrichtung.

    Im Auftrag von Save the Children habe ich mich in einigen von Kriegen erschütterten Ländern und in Flüchtlingslagern an ihren Grenzen umgesehen. Meine Aufgabe ist es, jungen Menschen und Kindern zuzuhören und zu protokollieren, was sie mir erzählen. Ich wünsche mir öfter, ich könnte ihre Berichte als wilde Fantasien abtun, aber das kann ich nicht. Ich habe bei Neunjährigen Folternarben und bei Zehnjährigen Schusswunden gesehen. Ich habe zugehört, als Kinder erzählt haben, was für ein Gefühl es ist, als menschliches Schutzschild zu dienen oder die Körperteile seiner Geschwister von der Straße aufzulesen. Mütter haben mir Fotos ihrer toten Kinder gezeigt. Ich habe stolze Männer weinen sehen.

    Ich werde wohl nie vergessen können, was ich gesehen und gehört habe. Genau so muss es sein. Ich will nicht vergessen.

    Einige der Geschichten gebe ich hier wieder. Ich habe die Namen der Einzelnen geändert. Diejenigen, die mir ihre Erfahrungen mitgeteilt haben, brauchten dafür viel Mut und ich möchte nicht, dass sie sich damit einer Gefahr aussetzen.

    Was mich antreibt, ist mein Wunsch, diesen Kindern eine Stimme zu verleihen. Auch wenn nicht viele von ihren Geschichten hören werden, fühle ich mich doch verpflichtet, sie weiterzugeben. Die Berichte wenigstens dieser Kinder sind nun festgehalten worden. Sie gehören zur Weltgeschichte.


    photo of child in Jordan Der vierzehnjährige Hassan lebt mit seinen Eltern und Brüdern in einem einzigen Zelt im Sa’atari-Lager in Jordanien. 65 Prozent der Lagerbewohner sind Kinder.

    Als ich in einem Lager außerhalb Syriens mit Fadi sprach, war er zehn Jahre alt. Als sein Dorf belagert wurde, war er neun. Sein Vater war nicht da und deshalb wurde Fadi der Mann im Haus. Seine Mutter erzählt mir, dass er darauf bestand, Nahrungsmittel und Wasser für die Familie zu holen, auch als die Kugeln flogen. Er zuckt die Achseln: „Einige Kinder fürchten sich und verstecken sich oder weinen. Andere sind wie ich.“ Er gibt sich lässig, aber ich merke, dass es ihm guttut, dass sein Mut anerkannt wird.

    Fadi tat sein Bestes, aber die Vorräte waren eines Tages aufgebraucht. Da es keine sicheren Straßen ins Dorf oder aus dem Dorf gab, waren die Familien zwischen Bewaffneten und Hunger gefangen. „Die Menschen versuchten in Gruppen von zehn oder zwanzig zu fliehen. Größere Gruppen wurden getötet. Es gab eine Kreuzung, die wir ‚Todesreise‘ nannten. Wenn man dorthin kam, war es ein Lotteriespiel, ob man erschossen wurde oder durchkam. Man konnte durchkommen – oder auch nicht. Es war sehr schwierig und gefährlich. Unsere Herzen rasten, bis wir dorthin kamen.“

    „Einige Kinder fürchten sich und verstecken sich oder weinen. Andere sind wie ich.“

    Ich frage Fadi, wie sein Dorf aussah, bevor sie es verließen. „Ich habe viele Leichen gesehen – auf der Straße, sie wurden aus den Häusern und sogar in den Fluss geworfen. Wenn sie ein Kind sehen, schießen sie, ohne zu zögern. Einige Menschen findet man niemals wieder.

    Sie feuerten Raketen auf unsere Schule. Die Raketen trafen und zerstörten das halbe Gebäude. An diesem Tag war ich nicht in der Schule, aber ich sah, wie sie brannte.“

    Fadi sagt, er will über diese Dinge sprechen und die Worte sprudeln nur so aus ihm hervor. Aber dann sagt er, er sei sicher, dass er das alles niemals verstehen werde. „Ehrlich, wenn ich dir erzählte, was wir in Syrien gesehen haben und was uns diese Männer angetan haben, würdest du mir nicht glauben.“


    photo of Lebanese child Der zehnjährige Fadi spielt mit seinen Freunden Kriegsspiele, daheim in der Stadt im Libanon, wohin er und seine Familie einen Monat zuvor gekommen sind.

    Als ich Nada während des Konflikts 2014 in Gasa kennenlerne, ist sie fünf Jahre alt. Sie kann nicht mehr sprechen und Albträume lassen sie nicht schlafen. Sie weint fast unaufhörlich.

    Nadas Vater Ahmad führt mich die mit Granatsplittern gespickte Treppe ihres Hauses hinunter und zeigt auf ein blaues Fahrrad unter der Treppe. Ich bin überrascht – es ist nur ein altes Fahrrad … Ahmad sagt schnell etwas auf Arabisch. Als vor zwei Wochen die Bombardierung begann, brachte er seine schwangere Frau und zwei seiner fünf Töchter unter diese Treppe, um sie vor fallenden Trümmern zu schützen, und er schob das Fahrrad aus dem Weg. Dann eilte er die Treppe hinauf, um seine anderen drei Töchter zu holen.

    Ahmad hält einen langen Augenblick inne und zeigt auf die Tür hinter mir. Ich drehe mich um und sehe tellergroße Löcher von Granatsplittern. Während ich mich langsam wieder zurückwende, beginne ich zu verstehen. Auch hinter dem Fahrrad sind große Löcher. Eben diese Granatsplitter hatten seine Frau und seine Töchter zerrissen.

    Ahmad kann sich nicht verzeihen, dass er sie dort versteckt hatte. Das Fahrrad war nicht beschädigt. Die beiden Mädchen von drei und dreizehn Jahren waren sofort tot, ihre Mutter kämpfte noch einige Zeit um ihr Leben. Ahmad hat gerade erst unter der Treppe saubergemacht. Er stellte das Fahrrad zurück, denn – er zuckt traurig die Achseln – er weiß nicht, was er sonst damit anfangen soll.

    Von seinen überlebenden Töchtern sind zwei mit schweren Verwundungen im Krankenhaus, während Nada zwar körperlich unverletzt, aber emotional gebrochen ist.

    Ahmad fragt mich um Rat: Was kann er Nada sagen, um ihre Welt wieder in Ordnung zu bringen?


    photo of orphan child in Gaza Die fünfjährige Nada. Ihre Mutter und zwei Schwestern wurden bei einem Luftangriff auf ihr Haus in Gasa getötet. Fotografie von Anas Baba / Save the Children

    Der elfjährige Omar stritt sich mit seiner Kusine Fatima. Sie war neun und die beiden hatten an diesem Morgen im Haus von Omars Eltern miteinander gespielt. Fatima war ärgerlich und lief wegen des Streites mit Omar nach Hause. Kurz nachdem sie zu Hause angekommen war, traf eine Granate ihr Haus und tötete die ganze Familie.

    Omar glaubte, dass er an Fatimas Tod schuld sei. Wenn sie nicht gestritten hätten … Wenn er sie nicht geärgert hätte … Wenn, wenn, wenn…

    Omar ist nicht das einzige Kind, das sich schuldig fühlt. Sehr viele denken, sie hätten auf irgendeine Weise Schuld an den Tragödien um sie herum. Ein ganzes Jahr lang konnte Omar nicht über das sprechen, was ihn quälte. Erst nach vielen Gesprächen mit dem Team von Save the Children und Gruppengesprächen mit anderen Kindern begann er das Gefühl abzuschütteln, er sei an Fatimas Tod schuld.

    Auch jetzt kann ich wenig über Einzelheiten bei den Vorgängen damals berichten, denn es fällt ihm sehr schwer, über seine Geschichte zu sprechen. Ich will es ihm nicht noch schwerer machen, deshalb dränge ich ihn nicht.


    photo of Lebanese  refugee children Der elfjährige Omar lebt mit seiner Familie im Flüchtlingslager Sa’atari in Jordanien. „Ich hatte solche Angst, dass meine Zunge gelähmt war, ich konnte nicht einmal sprechen.“

    In einem Lager für syrische Flüchtlinge im Libanon erzählt Jemilah :

    „Wir hatten uns in unserem Keller versteckt. Es war dunkel, denn es gab keinen Strom mehr. Da wir kein Telefon hatten, wussten wir nichts von der Außenwelt. Niemand konnte Vorräte in unser Dorf bringen und niemand konnte das Dorf verlassen. In diesen vier Tagen im Keller aß mein vierzehnjähriger Sohn nur ein halbes Brot und trank zwei Gläser Wasser. Dann war alles aufgebraucht.

    Wir hatten ein Kleinkind bei uns, meine Enkelin Safaa. Sie war ein Jahr alt, deshalb wollte meine Tochter sie abstillen, aber Safaa schrie laut. Wir hatten schon erlebt, dass ein schreiendes Kleinkind die Aufmerksamkeit Bewaffneter erregt hatte. Sie kommen das Kind suchen und töten die ganze Familie. Jedes Mal, wenn das Kind schrie, gab meine Tochter ihr die Brust, damit wir nicht alle getötet würden.

    Mein Sohn sagte zu mir: ‚Ich bin ein Mann, ich habe keine Angst.‘ Aber als eine andere Familie kam und berichtete, dass Männer die Keller nach Familien durchsuchten, bekam er große Angst. Er weinte an meiner Schulter und fragte, was geschehen werde, wenn sie uns finden würden. Ich wusste die Antwort, aber ich log. Ich sagte, ich würde ihn schützen und dass alles in Ordnung kommen werde.

    Täglich kamen mehr Familien zu uns, nachdem ihre Häuser zerstört worden waren. Wir hatten einen großen Keller, fast das ganze Haus war unterkellert. Am Ende waren mehr als hundert Leute da und immer noch gab es weder Essen noch Wasser. Die Lage war verzweifelt. Als uns klar wurde, dass sich bewaffnete Männer unserer Straße näherten, beschlossen wir zu fliehen. Nicht alle, aber viele. Wenn wir blieben, müssten wir sterben. Wir beschlossen, nicht zu warten, bis der Tod zu uns käme.

    Wir gingen hinaus auf die Straße. Es war sechs Uhr morgens, ein neuer Tag. Wir rannten zu unserem Auto. Es war ein kleines Auto, hatte nur zwei Türen und alle Kinder wurden hineingestopft. Im Auto waren schließlich acht Personen. Mein Mann, der das Auto fuhr, war der einzige Mann. Die Übrigen waren Mütter mit kleinen Kindern.

    Wir bogen in eine Seitenstraße, um den Scharfschützen zu entgehen, aber was wir sahen, war ein Horror. Ganze Familien, die wir kannten und die in unserer Straße gewohnt hatten und mit deren Kindern unsere Kinder gespielt hatten, wurden an die Wand gestellt und erschossen. Sie wurden exekutiert, selbst die Kinder. Wir schrien und nahmen einen anderen Weg. Sie schossen auf uns, aber mein Mann kannte die Gegend und es gelang uns zu entkommen, indem wir einen schmalen Pfad zwischen Bauernhöfen entlangfuhren. Ich weiß nicht, was mit den anderen Familien in unserem Keller passiert ist.

    Noch sind viele Familien in der Stadt. Sie können sich nicht bewegen, sie können die Stadt nicht verlassen. Es gibt nichts für sie. Die Läden sind geplündert und Vorräte kommen nicht in die Stadt hinein. Es gibt weder Medizin noch Nahrungsmittel noch Trinkwasser. Sie können nicht zu den Bauernhöfen, um sich Obst oder Kartoffeln zu holen. Diese Familien sind schon tot.

    „Versprich mir, dass du allen Menschen erzählen wirst, was du heute gehört hast.“

    Wenn ich an Syrien denke, sehe ich nichts als das – und die Berge von Leichen. Die Nacht, bevor wir flohen, verübten sie einen Massenmord. Als wir flohen, sahen wir aufeinandergestapelte Leichen. Wir sahen, wie Männer Bagger benutzten, um die Leichen wegzuschieben, weil es zu viele waren, als dass man sie ordentlich hätte begraben können.

    Ich wünschte, die Männer, die die Menschen umbrachten, wären aus einem anderen Land gewesen, aus einem feindlichen Land. Nicht das. Nicht unsere eigenen Leute, die das einander antun. Es ist viel mehr, als ein Mensch ertragen kann.

    Ich erzähle dir das, weil diese Männer denken, es wird keine Beweise für diese Massaker geben. Sie denken, die Leichen werden beseitigt und ihre Verbrechen werden niemals bekannt werden.

    Versprich mir, dass du allen Menschen erzählen wirst, was du heute gehört hast.“


    Roha, eine junge Frau, ist so nervös, dass sie mir nicht erlaubt, das Gespräch aufzuzeichnen oder auch nur den Namen ihres Herkunftslandes zu nennen. Sie ist dreiundzwanzig und spricht leise, aber entschlossen. Wir sitzen beisammen, um über die Folgen des Krieges für ihre Familie zu sprechen, aber unser Gespräch wird schnell sehr düster.

    Roha ist aus einem Gebiet im Nahen Osten geflohen, von dem bekannt ist, dass es dort heftige Kämpfe gibt. Als ich die Vermutung äußere, dass sie deshalb geflohen sei, schüttelt sie den Kopf und ihre Blicke huschen zu den Männern im Raum. Sie bittet darum, dass sie den Raum verlassen, und ich habe ein unheilverkündendes Vorgefühl. Ich habe viele – zu viele – Gespräche geführt, für die es notwendig war, dass die Männer den Raum verlassen, und ich weiß, was das bedeutet.

    „Die Kämpfe waren zwar schlimm, aber damit konnten wir leben, wir konnten überleben. Womit wir nicht leben konnten, war die ständige Bedrohung durch Vergewaltigung…“ Roha verstummt. Ich warte.

    Roha sagt, die sexuelle Gewalt in ihrem Dorf eskalierte rasch. Eines Tages, als sie nach einem schweren Kampf aus dem Haus ging, fand sie die nackten Leichen von fünf Mädchen zwischen zehn und zwölf Jahren. Sie waren dorthin gelegt worden, um das Dorf davor zu warnen, noch weitere Schwierigkeiten zu machen. Roha sagt, es war klar, dass sie alle vergewaltigt worden waren. Ich frage nicht, woher sie das weiß. Ich will es nicht wissen.

    Es kommen immer mehr Geschichten – eine führt zur nächsten, und die führt zu noch einer … und noch einer – ein unaufhaltsamer und peinigender Strom. Schließlich erzählt sie mir, dass sie die Vergewaltigung einer zwölfjährigen Nachbarin durchs Fenster mit angesehen hat. Sie war zu erschüttert, um einzuschreiten, sie war wie gelähmt. Sie schämt sich sehr, dass sie es nicht getan hat. Die Vergewaltigung war eine Bestrafung des Vaters des Mädchens. Als die Bewaffneten den Ort verließen, töteten sie auch ihn.

    Als Roha sicher war, dass die Vergewaltiger weg waren, lief sie schnell zu dem Mädchen, um ihm zu helfen. Sie überlebte, aber in einem gewissen Sinn starben sie an dem Tag beide – auf verschiedene Weise. Roha sagt leise: „Ich habe das mit eigenen Augen gesehen. Es hat sich mir unauslöschlich eingebrannt.“

    Inzwischen weint sie. Ich sitze neben ihr und halte ihre Hand. Was könnte ich sonst auch tun?

    Roha nimmt sich zusammen. Plötzlich bricht ihre Wut hervor: auf diese Männer wegen dessen, was sie getan haben, und auf sich selbst wegen dessen, was sie nicht getan hat. Und auf ihre Dorfgemeinschaft deswegen, weil sie sich weigerte, darüber zu sprechen, dafür, dass sie dergleichen Vorfälle aus Schamgefühl verschwiegen.

    „Das ist das wichtige Thema – aber niemand will darüber sprechen. Warum nicht? Warum nicht? Weil wir uns schämen? Stattdessen sollen die sich schämen, die so etwas tun.“ Sie schlägt mit der Hand auf den Betonboden, ihre Armreifen klirren.

    Die Männer kommen zurück. Abrupt steht Roha auf und wischt sich die Tränen weg. Eine lange Minute lang sieht sie mich an. „Möchtest du einen Tee?“, fragt sie.


    photo of Jordanian refugee child Muna, 5 Jahre alt, und Tamer, 3, sind mit ihrer Mutter Laila aus Syrien in den Libanon geflohen, nachdem bewaffnete Banden in Syrien gedroht hatten, ihre Familie zu ermorden. Sie hoffen, dass sie ihren Vater wiederfinden, der ein Jahr zuvor aus Syrien geflohen ist, um nicht zum kämpfen gezwungen zu werden. „Wir lebten in einem kleinen Dorf in den Bergen,“ erzählt Laila, „wir hatten einen großen Bauernhof, Gewächshäuser, Traktoren und einen Mähdrescher.“ Jetzt lebt sie mit ihren Kindern in einem verlassenen Kuhstall. Foto mit freundlicher Genehmigung von Save the Children

    Der syrische Jugendliche Wael, lebt in einem Lager im Libanon. Er erzählt mir: „Ich wurde mit Hunderten von jungen Männern festgenommen. Sie sonderten die Kinder aus. Ich war mit sechzehn der älteste. Ich kann nicht sagen, wie viele wir waren, aber wir waren sehr viele. Wir wurden in eine Zelle gequetscht. Es war so eng, dass wir nicht treten konnten – es gab nicht einmal eine Toilette, nur ein Loch im Fußboden. Wenn sie hörten, dass wir miteinander sprachen, schlugen sie uns. Darum sprachen wir nicht. Alles, was wir hörten war Schreien, Weinen und dann nichts mehr.

    Nach den Eltern von dreizehn oder vierzehn der Kinder wurde gefahndet. Diese Kinder bekamen weder Essen noch Wasser. In den Essenszeiten umringten Bewaffnete ihre Gruppe. Die hinderten die anderen Kinder daran, ihnen von ihrem Essen etwas abzugeben. Diese Kinder waren zu schwach zum Schreien. Sie lagen nur so auf dem Boden. Sie wurden immer wieder mit Stöcken geschlagen, schlimmer als wir anderen.“

    Wael träumt jetzt davon, nach Syrien zurückzukehren, um dort auf irgendeine Weise für den Frieden zu arbeiten.

    „Ich kannte einen Jungen, der zu dieser Gruppe gehörte, er hieß Ala’a und war sechs Jahre alt. Er verstand nicht, was geschah. Sein Vater gehörte zu einer rivalisierenden bewaffneten Gruppe. Man sagte ihm, sein Kind müsse sterben, wenn er sich nicht ergeben würde. Er ergab sich nicht. Ala’a wurde mehr als alle anderen in dem Raum gequält. Er lebte nur drei Tage und starb dann einfach. Ich sah, wie er auf dem Boden starb. Sie behandelten seinen Leichnam, als wäre er ein toter Hund.

    Inzwischen konnte ich über nichts mehr nachdenken. Ich dachte, ich würde in dieser Zelle sterben und ich konnte mir nichts anderes vorstellen. Als ich diesen Ort verließ, glaubte ich, dem Tod entkommen zu sein.

    Jetzt glaube ich, dass Syrien allen anderen Menschen gleichgültig ist. Niemand hilft uns und wir sterben. Wenn es in der Welt auch nur ein Prozent Menschlichkeit gäbe, würde das nicht geschehen. Ich habe ein Gefühl, als ob ich innerlich sterbe. Wenigstens wird das, wenn ich sterbe, vorbei sein.“

    Wael weint.

    „Folter ist nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Wenn man Frauen und Kinder schreien hört und sterben sieht, hat das eine tiefe Wirkung auf einen. Alle Syrer werden durch diesen Krieg innerlich zerstört. Ich kann damit nicht fertigwerden, ich habe keine Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Ich habe gesehen, wie Kinder abgeschlachtet wurden. Ich denke nicht, dass ich mich von alldem jemals erholen kann …“

    Wael weiß nicht, was aus den anderen Kindern geworden ist.

    Als Waels Eltern schließlich seine Freilassung erwirkten, indem sie ein hohes Lösegeld zahlten, wollte er nach Syrien zurückgehen, um dort zu kämpfen. Aber er hat seine Meinung geändert – er sagt, er hat zu viel Tod und Zerstörung gesehen.

    Wael träumt jetzt davon, nach Syrien zurückzugehen, um dort anderen Kindern Mut zu machen und sie anzuspornen, ihnen Hilfe zu bringen, ihnen zuzureden, sie sollten die Hoffnung nicht verlieren – und auf irgendeine Weise für den Frieden zu arbeiten.


    Von Cat Carter

    Cat Carters Arbeit mit der internationalen Hilfsorganisation Save the Children hat sie in den vergangenen sieben Jahren nach Haiti, Indonesien, Kenia, Äthiopien und auf die Philippinen geführt. In letzter Zeit hat sie die Geschichten von Kindern in Syrien, im Südsudan, in Gasa und der Ostukraine festgehalten. Sie lebt in London und schreibt ihren Blog. www.savethechildren.org

    Mehr lesen

    Ich weiß, es genügt nicht, diese Geschichten zu erzählen. Welche Reaktion könnte überhaupt jemals angemessen sein? Wenn mir Familien von ihren Erfahrungen erzählen, fühle ich mich von ihrem Vertrauen geehrt und von ihrem Mut berührt – aber jedes Mal ist es auch ein tiefer Schmerz. Wenn ich von einem Einsatz zurückkomme, habe ich oft Albträume.

    Als ich den ersten Tag für Save the Children arbeitete, gab mir mein Chef Gareth Owen einen guten Rat: Lasse zu, dass dich diese Arbeit verändert! Und das ist auch die einzige Schlussfolgerung, die ich hier anbieten kann: Lassen wir zu, dass diese Geschichten uns verändern. Wenigstens das können wir tun.

    Organisationen, die Kinder in Kriegsgebieten helfen, sind dringend auf unsere Unterstützung angewiesen. Dieses sind zum Beispiel:

    www.savethechildren.org
    www.worldvision.org
    www.doctorswithoutborders.org

    0 Kommentare