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CheckoutWer zum ersten Mal nach Rom kommt wird einfach von dieser Stadt überwältigt. Es ist nicht einmal die Größe der Gebäude (die nicht im entferntesten mit London oder New York zu vergleichen wären), es sind auch nicht die Menschenmassen (die ja einfach zum Massentourismus gehören), nein, es geht um den schwindelerregenden Reichtum an Architektur, Geschichte und Kunst. In manchen Stadtteilen herrscht ein solches Übermaß an geschwungenen Bögen, Säulen, Springbrunnen, Statuen, Fresken, Inschriften, Denkmälern und ständigen archäologischen Ausgrabungen, so dass man kaum einen Häuserblock weitergehen kann, ohne immer wieder versucht zu sein, einfach stehen zu bleiben und das sich bietende Bild aufzunehmen.
Zum Beispiel die alte Steinbrücke unter dem Schloss Sant Angelo die über den Tiber führt. Als Flussübergang ist sie ziemlich unbedeutend; weder die Länge noch die Höhe sind besonders erwähnenswert und der verwendete Stein ist längst durch die Umweltverschmutzung löcherig und verschmutzt. Und doch nimmt diese Brücke einen einfach gefangen. Das mag zum Teil an der klassischen Konstruktion der Bogenbrücke mit ihren fünf Keilsteingewölben liegen, die im Lichte der Nachmittagssonne den Eindruck erwecken, als würde die ganze Brücke auf dem Tiber gleiten. Es liegt sicher auch daran, dass man einmal auf der Brücke angelangt, auch dem üblichen Straßenlärm entkommen ist. Die Brücke ist nämlich für den Autoverkehr geschlossen. Was einem dann aber wirklich im Schritt innehalten lässt sind die fünf Engelpaare, die sich auf dem Brückengeländer gegenüberstehen.
In einer Stadt die nur so von Engeln in jeglicher Form wimmelt, stechen diese Engel in besonderer Weise heraus. Sie haben nichts mit Raphaels "Putten" zu tun, diesen beflügelten, pausbäckigen, nackten Kindergestalten des Barock wie man sie in der Sixtinischen Kapelle findet. Sie haben auch keine Harfen unter den Armen oder Trompeten an den Lippen. Man würde sie auch nicht unter den Schutzengeln in Kinderbüchern finden. Sie haben auch nichts gemeinsam mit den apokalyptischen Reitern und bringen auch nicht die frohe Botschaft des Erzengels Gabriel. Nein – diese Engel haben eine andere Botschaft: die Leiden Christi auf Golgatha. Als solche trägt jeder von ihnen ein Symbol der Passion (Lateinisch: leiden, erdulden), dazu gehört die Peitsche, die Lanze, ein Nagel, der Schwamm mit Essig getränkt, das Kreuz und die Dornenkrone.
Als Boten, die eigentliche Wortbedeutung von "Engel", stehen diese Statuen am richtigen Platz. Sie wurden im 17. Jahrhundert von Gian Lorenzo Bernini und seinen Schülern geschaffen, und haben seit über 300 Jahren über den Pilgern der "Ewigen Stadt" gewacht: reisemüde, staubige, hungrige Horden auf der Suche nach einem Heilmittel, einem Segen, Heilung, Vergebung und dem Zuspruch der Erlösung.
Ursprünglich wurde die Brücke nur ca. hundert Jahre nach Christi Sterben von Kaiser Hadrianus erbaut und als Pons Aelius nach ihm benannt. Jahrhunderte später bekam sie durch einen Erlass des damaligen Papstes ihren jetzigen Namen: Ponte Sant'Angelo – Engelsbrücke, nachdem ein Engel erschienen sei und das Ende einer verheerenden Seuche verkündet hatte. 1450 war die Brücke Schauplatz einer furchtbaren Tragödie, als während einer Feier die Brücke wegen Überlastung teilweise einbrach und eine große Menschenmenge ertrank. In späteren Jahrhunderten, bis ins 20. Jahrhundert hinein, wurden hingerichtete Gefangene zur Abschreckung auf der Brücke zur Schau gestellt.
Als leblose Statuen haben Berninis schweigende Schöpfungen keinen Grund, ihr Dasein rechtfertigen zu müssen. Sie sind wertvolle Kunstwerke in sich selbst. Aber als Wächter und Zeugen die genug menschliches Elend, um damit Chroniken zu füllen, an sich haben vorüberziehen sehen, haben sie uns sehr wohl etwas zu sagen. Wenn diese Engel sprechen könnten, würden sie uns vielleicht daran erinnern, dass ihre traditionelle Darstellung als süße, freundliche Geschöpfe sie doch sehr begrenzt. Und dass ein Engel mit einer Peitsche in der Hand, anstatt uns zu schockieren, uns daran erinnern soll, dass Gott nicht immer nur mit tröstenden Worten spricht.
Für jeden, der auch nur ein wenig mit den Evangelien des Neuen Testamentes vertraut ist, sollte das allerdings kein neuer Gedanke sein. Christus wurde von seinen engsten Freunden verraten und verlassen, öffentlich gedemütigt und zwischen zwei Kriminellen hingerichtet. Und während er alle seine Leiden voraussagte, tat er doch nichts um sie zu vermeiden. Wenn auch mit Bangen, so hat er sich doch diesem Leidensweg als göttlich bestimmtes Schicksal hingegeben. Und er ermahnte seine Nachfolger, dass sie das gleiche zu tun haben. So wie es im 9. Kapitel des Lukasevangeliums zu lesen ist "Wenn jemand mir nachkommen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf täglich und folge mir nach!"
In einem Zeitalter in dem die Christenheit als Ganzes so viel Macht, Einfluss und Besitz wie nie zuvor hatte, und doch immer noch klagt, dass alle gegen sie seien, passt diese Ermahnung irgendwie schlecht. Wir leben in einer Zeit wo es gar nicht so sehr an guten Menschen und guten Werken mangelt, wo wir mit einer guten Planung Widerständen aus dem Weg gehen können und Verfolgung für viele nur vom Hören und Sagen bekannt ist. Das Kreuz aufzunehmen steht nicht für viele auf dem Plan.
Im individuellen Leben ist das Ergebnis einer solchen Haltung ein eigenwilliges, tiefsitzendes Gefühl, dass man ein Recht darauf hat, stets glücklich zu sein. Wir tun, als ob wir die Segnungen einer Stabilität, des Reichtums und der Gesundheit verdient haben. Nur wenige ernsthafte Christen würden das bestreiten. Die meisten würden eingestehen, dass tatsächlich jede Seele eines Tages auf dem Weg nach Golgatha ist. Aber lasst uns einmal ehrlich sein, es ist doch bequemer diese Feststellung aus dem Abseits zu machen. Es ist bestimmt nicht etwas, das wir uns für uns selbst oder unsere Lieben wünschen. Deswegen ist auch die natürliche erste Reaktion, wenn uns Schlimmes trifft, die Frage "Warum ich?"
Und diese Frage bringt uns zu den Worten Jesu zurück. Er idealisiert oder rät nicht zum Stoizismus und er ruft uns auch nicht auf, nach dem Märtyrertod Ausschau zu halten. Hier geht es nicht im geringsten um einen geistlichen Masochismus. Seine innere Not trieb ihn zu solcher Verzweiflung, dass er ausrief "Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen?" Und doch hat er am Ende nicht rebelliert. Die Lektion ist unmissverständlich, wie sie im Lukasevangelium steht: um unser Leben wirklich zu retten, müssen wir bereit sein, es zu verlieren. Und wenn uns Schweres auf unserem Weg begegnet, ist es das Beste, wenn wir uns dem ergeben und es annehmen.
Deswegen haben mir diese zehn Engel auf der Tiberbrücke in Rom etwas zu sagen. Sie sind eine sichtbarer Erinnerung daran, dass die schrecklichsten Dinge in unserem Leben vor der Kreuzigung Jesu verblassen müssen, und dass wir eine Botschaft Gottes verpassen wenn wir leidensscheu sind.
Wenn uns nichts und niemand hindert, wenn wir weder angebunden noch angenagelt sind, wie oft versuchen wir dann doch in Eigenkontrolle Dinge zu unserem Besten und unserem Vorteil umzubiegen, so dass wir bekommen was wir wollen, selbst wenn uns das am Ende nicht unbedingt glücklich macht? Wie oft wählen wir statt der Dornenkrone den Heiligenschein menschlicher Anerkennung? Wie oft saugen wir die Schmeicheleien auf wie ein Schwamm, selbst wenn wir wissen, dass all die guten Dinge die über uns gesagt werden, kaum wahr sind?
Ohne einen Schlag, der uns auf die Knie zwingt, aalen wir uns doch so oft in glühender Selbstachtung oder lassen uns in der falschen Sicherheit dahintreiben, dass doch alles mit uns bestens ist und vergessen dabei unseren wahren Zustand und unsere verzweifelte Abhängigkeit vom Gebet.
Ohne die bitteren Pillen des Lebens, die unangenehme Selbsterkenntnis des eigenen Versagens, den Schmerz unverminderter Einsamkeit, würden wir nie die Grenzen des "Erfolges" kennenlernen und die Leere oberflächlicher Freundschaft erkennen und den Wert der Abgeschiedenheit schätzen lernen. Und wenn uns nie eine persönliche Katastrophe die Flügel gestutzt hat, wenn wir nie einen unerwarteten Schlag ertragen haben, nie durch ein scheinbar sinnloses Dilemma bestürzt wurden, so können wir auch nie wirklich von unserer Selbstgenügsamkeit und unserem Stolz befreit werden.
Vielleicht, wirklich nur vielleicht, tragen diese Engel die Instrumente zu einem neuen Leben. Eine so schwere Traurigkeit, dass wir unsere eigenen Hilfsmittel aus der Hand legen und uns bei anderen stützen müssen. Wunden, die so tief sind, dass sie uns von unserem übersteigerten Selbstbewusstsein und der arroganten Anmaßung befreien, mit der unsere Worte andere Seelen verletzen. Verluste, die uns reinigen und von einem oberflächlichen fröhlichen Ratgeber zu einem Zuhörer machen, der längst den Bankrott der eigenen Worte erlebt hat. Kreuze, die nur bewältigt werden indem wir sie schultern und die uns zwingen aus einer anderen Kraftquelle als unserer eigenen zu schöpfen.
Berninis Engel predigen weder Leiden noch drängen sie es uns auf. Sie wissen wohl, dass das Leiden an sich nichts Nobles in uns bewirkt. Sie wissen, dass wir nicht alle jederzeit dazu bereit sind. Sie wissen auch, dass so lange alles glatt läuft, wir kaum einen Grund haben ihnen auch nur einen ernsthaften Gedanken zu widmen. Und sollten wir doch einmal über sie nachdenken, dann werden wir sie vielleicht zuerst als Hindernis oder Stolperstein erleben. So, anstatt sich von oben auf uns herabzustürzen, warten sie ganz einfach.
Manche von ihnen stehen in der vollen Sonne mit einem majestätischen Glanz auf ihren Schultern und Flügeln. Andere sind schon vom Spiel der langen Schatten gesprenkelt. Und am westlichen Ende stehen einige schon im Dunkeln, in Gedanken und Zwielicht verloren. Keiner von ihnen hat eine Antwort. Sie sind nur Boten. Aber sie sind jeden Tag da und halten Wache – nicht nur über dem Tiber, sondern über allen Brücken, die wir in unserem Leben überqueren müssen.