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Leeren Mägen predigt sichs schlecht
von Helene Christaller
Mittwoch, 17. November 2021
Verfügbare Sprachen: English
Die Hütte hing wie ein Schwalbennest am Südabhang des Appennin. Aus dem gleichen Gestein erbaut wie der Fels, auf dem sie stand, wirkte sie wie ein Stück Natur und nicht wie Menschenwerk. Ein kleines Fensterloch war jetzt im Winter mit Stroh verstopft, um der kalten Tramontana, die über die Berge wehte, den Eintritt zu wehren.
Innen sah es armselig aus, obgleich der junge Bruder Angelo bemüht war, die Einsiedelei weihnachtlich zu reinigen und auszuschmücken. Er hatte seine braune Kutte bis zum Knie geschürzt und fegte mit einem selbstgebundenen Besen grosse Haufen Unrat weg: Gemüseabfälle, die schon wochenlang in den Winkeln gefault waren, Holz- und Rindenstücke, Asche und Reisig. Endlich kam das schmutzige Rot des holperigen Backsteinpflasters zum Vorschein, und der Franziskaner stellte den Besen in die Ecke. Befriedigt sah er sich in dem düsteren, kahlen Raum um. Durch die halbgeöffnete Tür kam mattes Tageslicht und dabei ein feuchtkalter Luftzug.
Der Mönch brach einen dürren Ast in Stücke und warf ihn in das Feuer, das auf einem schiefgemauerten Herd brannte. Er hängte einen rostigen Kessel mit Wasser über die Flamme und schloss fröstelnd die Tür. Das flackernde Licht vom Herd erhellte schwach den Raum.
"Es soll warm sein, wenn die Brüder heimkommen, und festlich", murmelte er und blickte mit Stolz auf das rohe Holzkreuz an der Wand, das er mit frischem Efeu umwunden hatte. Zwei weisse Wachskerzen waren auf die Kreuzesbalken geklebt; sie sollten heute zur Feier der heiligen Nacht brennen.
Das Wasser begann zu kochen und stiess grosse Dampfwolken aus, das Feuer flackerte und knisterte und schüttete seine Funken über den Mönch, der mit ungeschickten Händen gemahlenes Korn in den Topf warf zur Suppe. Es wurde warm in dem kleinen Gemach, nur vom Fenster her zog es, und der Nordwind stob zu dem Kämin herein und blies den Rauch in die Hütte.
Bruder Angelo setzte sich in die Nähe des Feuers auf den Boden, legte die feinen braunen Hände um die hageren Knie und lauschte hinaus. Das weiche hellblonde Haar hing ihm bis auf die Schultern. Das vornehm geschnittene Gesicht mit der gebogenen Nase und dem feinen Mund sah eher dem eines jungen Kreuzritters, als dem eines braunen Bußbruders ähnlich.
Da ging die Tür auf, und auf nackten Sohlen trat ein kleiner, dürftiger Mann ein, den groben Sack halb gefüllt über dem Rücken, ein Krüglein Wein in der Hand.
Bruder Angelo schnellte dienstbeflissen in die Höhe und nahm dem Eingetretenen die Last ab.
"Komm ans Feuer, Bruder Franziskus, und wärme dich", sagte er geschäftig. "Es ist kalt draussen, aber die Suppe kocht schon, und die Brüder werden gleich kommen."
Der dunkelhaarige Mann mit dem abgemagenen Gesicht, in dem mächtige Augen leuchteten, blickte sich in der Hütte um.
"Du bist fleissig gewesen, Bruder Angelo. Das heilige Kind mag wohl in unserer Hütte einkehren. Dass unsere Herzen auch so wohlbereitet wären!
"Ja, Bruder Franziskus." Es klang wie eine leise Verlegenheit aus dem jungen Mund. Fragend hob der Ältere die Augen.
Der Jüngling schwieg und senkte den Kopf.
"Du warst allein heute morgen?"
"Nicht immer. Ich hatte einen grossen Schreck. Drei Räuber aus dem Gebirge, man kennt sie wohl hier, kamen und begehrten Speise von mir."
"Und du?"
"Ich schickte sie weg und schalt sie sehr über ihren schlechten Lebenswandel. Ich sagte ihnen, dass Gott sie verdammen werde in alle Ewigkeit."
"Das sagtest du und schicktest sie weg?"
"Ihre Hände waren rot von Blut."
"Sie streckten sich um Hilfe aus, und du liessest sie ungefüllt?"
"Es waren Räuber, Bruder Franziskus!"
"Es waren Brüder, Bruder Angelo!"
"Brüder? Die Räuber?"
Franziskus sah ihn ernst an, und seine mächtigen Augen flammten. "Ja, die Räuber," sagte er mit Nachdruck.
Der junge Mensch wurde rot und antwortete nicht.
"Sie irren in Kälte und Hunger", fuhr Franziskus fort, "du lässt dir wohl sein im warmen Hause. O Angelo, dein Herz ist nicht wohlbereitet zur Weihnacht wie diese Hütte!"
In den Augen des Jünglings standen Tränen. "Zürne mir nicht, mein Bruder, ich will gut machen, was ich verfehlt."
Ein mildes Licht glühte in dem ernsten Gesicht des Mönchs auf. "Willst du gutmachen, so nimm den Sack mit Brot und den Krug mit Wein und geh die Räuber im Gebirge suchen. Bringe ihnen die Speise und bitte sie um Vergebung für deine Härte und dann kehre wieder, dass wir Weihnachten mit reinem Herzen zusammen feiern."
"Und wenn sie mich im Zorn töten?"
Franziskus lächelte mit erhabener Sorglosigkeit und schwieg.
Da neigte der junge Mensch gehorsam das Haupt, warf den Sack über die Schultern und schritt ohne ein Wort des Widerspruchs aus dem Hause.
Über dem Gebirge lag eine leichte Schneedecke. Dunkle Massen gewaltiger uralter Steineichen hoben sich von dem blendenden Weiß ab; hier und da wurzelte ein knorriger Ölbaum, an dem noch reife Früchte hingen, in dem steinigen Boden. Auf seinen Ästen lag Schnee, und wenn der Wind hindurchfuhr, fiel er mit leisem Knistern auf die Erde.
Angelo hatte die Augen gesenkt und suchte die Spur. Da waren Tritte von Rehen und Füchsen, die kamen aus dem nahen Walde; und dort, das war ein Maultier mit einem Treiber, der schwere Holzsandalen trug. Aber hier, das waren nackte Füße; sie liefen kreuz und quer durcheinander, wie wenn mehrere Menschen hintereinander her gegangen waren. In der einen Fußspur war Blut, das sich immer aufs neue zeigte. Diesen Fußstapfen folgte der Mönch. Sie führten ins Gebirge. Die Sonne stand nicht mehr allzu hoch. Er musste sich beeilen, wenn er die Räuber noch finden wollte, ehe die Nacht einbrach. Schneewind hatte sich erhoben und wirbelte ein paar Hände weißer Flocken dem Wandernden ins Gesicht. Dann zerrissen die Wolken, und die Sonne lachte durch, um gleich wieder aufs neue von grauen Ungeheuern, die eilig vor dem Wind herjagten, verschlungen zu werden. Seine braune Kutte wurde in die Höhe gepeitscht, und die langen blonden Haare flatterten, während der Mönch sich geduldig dem Wind entgegenstemmte, die Augen auf dem Boden richtete und acht gab, dass er den Wein im Krug nicht verschüttete.
Die Gegend wurde einsam und wild. Er kam an eine zerfallene Hütte, aber sie war verlassen. Felsbiöcke, die Schneehauben trugen, lagen über die Berglehne zerstreut. In der fernen Ebene wogte ein dichtes Nebelmeer und verbarg die stumpfen Kirchtürme und Mauerzinnen, den geschlängelten Fluss, die Häuser der Menschen. Kein Ton drang hier herauf, kein Geläut, kein Ruf. Schweigen des Todes, Steine, trotzige Felsen, eisiger Schnee, Heulen des Sturmes. Eine Krähenschar flog kreischend über den Wanderer hin, der Ebene zu und verschwand in den wogenden, grauen Nebelschwaden.
Der Mönch hielt an. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte zurück. Wie lange war er schon durch diese winterliche Stille gegangen, im stumpfen Gehorsam, einem abenteuerlichen Ziele zu? Dieser Bußweg heute schien ihm wie ein Bild seines Lebens. So hatte er Reichtum und Familie verlassen auf ein Wort des Mönchs, der ihn nun zu den Räubern schickte. Sein Angesicht erhellte sich von innen, als er nun an Bruder Franziskus dachte. "Nein, nicht stumpf und leblos wie ein Leichnam," rief er laut, "in freudigem Gehorsam gehe ich den Weg, den du mich sendest, Bruder Franziskus!" Mit neuem Eifer klomm er über die Felsen. Hier auf der Höhe hatte der Wind den Schnee weggeblasen und die Spur verwischt. Hinter ihm krochen die Nebel des Tals und feuchteten seine hellen Haare und den Saum seiner Kutte, dass sie schwer an seine Beine klatschte.
"Ihr Räuber, wo seid ihr?" rief er laut in seiner Ratlosigkeit. Aber nur das Echo antwortete, und eine neue Krähenschar rauschte über ihn hin. Dunkle Höhlen und Spalten gähnten hier in den Felsen, kein Baum belebte die Öde, kein Wasser rauschte über Steine. Alles war weiß und grau; auch am Himmel war das letzte blaue Fleckchen verschwunden, und die Sonne hing blass wie die Mondscheibe hinter düsteren Schleiern.
Da tauchte plötzlich ein schwarzer, struppiger Kopf hinter einem Felsen auf und starrte den Nahenden mit finster glühenden Augen an.
Der Fuß des Jünglings stockte, und das Grauen griff nach seinem Herzen. Er erblasste.
"Heh!" rief der Räuber und sprang zornig auf. Langsam erhob sich ein zweiter und drohte mit der behaarten Faust zu dem erschrockenen Mönch hinüber. Der dritte rupfte eine Krähe, die er auf einem kleinen, mühsam schwelenden Feuer braten wollte.
"Du willst wohl an unserem Weihnachtsschmaus teilnehmen, frommer Bruder?" höhnte er. "Mehr als ein Bein kann ich dir nicht versprechen!"
"Was willst du, Mönch?" brüllte der erste ihn an, dass Angeleo erbebte. "Uns eine Bußpredigt halten, wie heute morgen? Leeren Mägen predigt sichs schlecht, nimm dich in acht!"
"Nein", sagte Bruder Angelo und trat demütig näher. Er legte den Sack mit Brot ab und stellte vorsichtig den Krug mit Wein auf die Felsplatte. Dann kniete er in den Schnee nieder und sagte mit bittender Stimme: "Liebe Räuber, vergebt mir, dass ich euch heute mit harten Worten von unserer Schwelle wies. Ich bin nun gekommen, um euch Brot und Wein zu bringen und euch für meine Sünde um Verzeihung zu bitten." Mit gesenktem Haupt blieb er auf den Knien.
Die wilden Männer sahen auf die feine, vornehme Gestalt, auf das jugendliche, beseelte Gesicht. Da wurde der älteste sehr bleich, biss sich auf die trotzigen Lippen und kehrte sich ab. Dem andern stieg das heiße Blut bis unter die schwarzen Haarbüsche über der Stirne, und er deckte die Hand über die Augen wie ein Kind, das sich schämt. Aber der dritte und jüngste lachte einwenig verlegen und sagte: "Vergeben wollen wir dir gern, denn du bist ein guter Mensch. Wir sind sehr hungrig gewesen heute..."
"Steh doch auf, sagte der Bleiche.
"Bleib und iss mit uns", der andere.
Bruder Angelo erhob sich und schüttelte den Schnee von seiner Kutte.
"Ich kann nicht bei euch bleiben und mit euch essen", sagte er schüchtern. "Bruder Franziskus erwartet mich zur Christmette unten im Kloster, und ich muss eilen, denn die Nacht bricht bald herein. Aber vielleicht besucht ihr uns einmal im Kloster, wenn ihr etwas braucht."
"Und Bruder Franziskus?"
"Wird er nicht schelten?"
Das Gesicht des Jünglings erstrahlte. "Er nennt euch Brüder."
"Brüder!" sagten alle drei wie aus einem Munde und schwiegen beklommen.
"Leb' wohl, Bruder Räuber", sagte Angelo und nahm die Hand, an der Blut klebte, in seine feinfingerige Rechte. "Auf Wiedersehen!" Ohne ein Wort zu erwidern, starrten die drei wilden Gesellen dem jungen Mönch nach, der rasch ihren Blicken entschwand. Keiner griff nach Wein und Brot, und jeder mied den Biick des Gefährten.
Nun hatte der Nebel die Gestalt des Jünglings verschlungen, und still und weiß lag das öde Land. Da erhob sich eine helle Stimme in der Ferne. Sie tönte bald wie tiefe Glockenklänge, bald wie Priestergesang am Altar und dann wieder wie Lerchenjubel. Und zu den drei Verlorenen wehte das alte Weihnachtslied herauf:
Herbei, o ihr Gläubigen,
Fröhlich triumphierend,
O kommet, o kommet nach Bethlehem.
Die Sage berichtet, dass die drei Räuber später in den Orden der Franziskaner getreten seien und ein frommes Leben geführt haben bis an ihr seliges Ende.
Katharina Schröder
Vielen Dank für diese Geschichte vom Bruder Räuber!