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Auszug aus dem Klassiker: „Die Brüder Karamasow,“
von Fjodor Dostojewski
Samstag, 16. März 2024
In diesem Auszug des Klassikers „Die Brüder Karamasow,“ gibt uns die Gestalt des Priesters Vater Sossima zu verstehen, das sogar um das Sterbebett Hoffnung erweckt und innere Heilung erlebt werden kann.
Kinder waren wir zwei: ich und mein großer Bruder Markel. Er war acht Jahre älter als ich, von hitzigem, reizbarem Temperament… Es begannen die Großen Fasten, doch Markel wollte nicht fasten. Er schimpfte und lachte darüber: »Das ist ja alles dummes Zeug«, sagte er. »Es gibt gar keinen Gott.« Durch solche Reden versetzte er unsere Mutter und die Dienerschaft in Schrecken – und mich kleinen Knaben natürlich auch. Ich war zwar erst neun Jahre alt, erschrak aber über diese Worte gleichfalls zutiefst.
Und da, in der sechsten Fastenwoche, ging es auf einmal meinem Bruder gesundheitlich schlecht. Er war von jeher kränklich und von schwacher Konstitution gewesen. Er musste sich erkältet haben, und der eilig gerufene Arzt teilte alsbald der Mutter mit, es sei die galoppierende Schwindsucht und er werde das Frühjahr nicht überleben. Die Mutter fing an zu weinen und bat den Bruder mit aller Vorsicht, um ihn nicht zu erschrecken, er möchte sich durch Fasten und Kirchenbesuch aufs Abendmahl vorbereiten und es dann nehmen; er konnte damals nämlich noch ausgehen.
Als er das hörte, wurde er ärgerlich und schimpfte auf die Kirche. Dann ließ er sich die Sache jedoch durch den Kopf gehen; er begriff sofort, dass er gefährlich krank war und die Mutter ihn deshalb zur Vorbereitung aufs Abendmahl anhielt, solange er noch die Kraft dazu besaß. Übrigens hatte er selbst schon länger gewusst, dass er krank war…
Es vergingen drei Tage, dann begann die Karwoche. Und da ging der Bruder vom Dienstagmorgen an zur Kirche. »Ich tu‘ das eigentlich nur für Sie, liebe Mutter, um Ihnen eine Freude zu machen und Sie zu beruhigen«, sagte er zu ihr. Die Mutter fing vor Freude, aber auch vor Kummer an zu weinen.
»Sein Ende muss nahe sein«, sagte sie, »wenn plötzlich so eine Veränderung mit ihm vorgeht!« Aber er konnte nicht mehr lange zur Kirche gehen. Er musste sich ins Bett legen, so dass ihm schon zu Hause die Beichte abgenommen und das Abendmahl erteilt wurde.
Er war seelisch ein ganz anderer Mensch geworden, so eine wunderbare Veränderung war plötzlich mit ihm vorgegangen! Da kam zum Beispiel die alte Kinderfrau in sein Zimmer. »Erlaube, Täubchen, ich möchte bei dir das Lämpchen vor dem Heiligenbild anzünden.« Früher hatte er das nicht zugelassen, sondern das Lämpchen sogar wieder ausgeblasen. Aber jetzt sagte er: »Zünde es an, meine Liebe, zünde es an. Ich war ein Unmensch, dass ich es euch früher verboten habe. Du betest zu Gott, indem du das Lämpchen anzündest, und ich bete zu ihm, indem ich mich über dich freue. Also beten wir zu ein und demselben Gott.«
Diese Worte kamen uns seltsam vor. Die Mutter ging auf ihr Zimmer und weinte immerzu; nur wenn sie zu ihm hineinging, trocknete sie ihre Tränen und nahm eine heitere Miene an. »Weine nicht, liebe Mutter, mein Täubchen!« sagte er manchmal. »Ich kann noch lange mit euch leben und mich noch lange mit euch freuen, das Leben ist ja so heiter und fröhlich!« – »Mein lieber Sohn, was hast du denn für Freude am Leben, wenn du in der Nacht vor Fieber glühst und hustest, dass dir fast die Brust zerspringt?« – »Mama«, antwortete er ihr, »weine nicht. Das Leben ist ein Paradies; wir sind alle im Paradies und wollen es nur nicht wahrhaben. Wenn wir es wahrhaben wollten, würde gleich morgen auf der ganzen Welt das Paradies anheben.« Alle staunten über seine Worte, alle waren gerührt und weinten, so seltsam und so nachdrücklich hatte er gesprochen.
Es kamen Bekannte zu uns. »Liebe teure Menschen«, sagte er zu ihnen, »wodurch habe ich es verdient, dass Sie mich, einen solchen Menschen, lieben? Und wie ist es nur möglich, dass ich das früher nicht erkannt und nicht zu schätzen gewusst habe?« Zu den Dienstboten sagte er häufig: »Meine Lieben, Teuren, weswegen dient ihr mir? Bin ich das denn wert, dass ihr mir dient? Wenn Gott sich meiner erbarmen und mich leben lassen würde, dann möchte ich euch dienen, denn wir müssen alle einander dienen.«
Jeder von uns trägt allen gegenüber an allem Schuld, und ich mehr als alle.
Als die Mutter das hörte, schüttelte sie den Kopf. »Du mein teurer Sohn, du redest so, weil du krank bist!« – »Mama, du meine Freude«, sagte er, »es muss ja wohl Herren und Diener geben. Aber auch ich will der Diener meiner Diener sein, so wie sie die meinigen sind. Und noch eins will ich dir sagen, liebe Mutter. Jeder von uns trägt allen gegenüber an allem Schuld, und ich mehr als alle.«
Die Mutter lächelte darüber sogar, sie weinte und lächelte zugleich. »Nun«, sagte sie, »inwiefern trägst du denn allen gegenüber mehr Schuld als alle? Es gibt Mörder und Räuber, was hast du schon gesündigt, dass du dir mehr Schuld beimisst als allen anderen?« – »Liebe Mutter, du mein Blutströpfchen«, sagte er, »Du sollst wissen, dass in Wahrheit ein jeder allen gegenüber an allem Schuld trägt. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, doch ich fühle, fühle es qualvoll und schmerzhaft, dass es so ist. Wie haben wir früher nur so leben können – im Zorn und ohne Wissen!«
Manchmal, wenn der Arzt kam, ein alter Deutscher namens Eisenschmidt, sagte der Kranke scherzend zu ihm: »Nun, wie steht‘s, Doktor? Werde ich noch einen Tag auf dieser Welt leben?« – »Sie werden nicht nur einen Tag sondern noch viele Tage auf dieser Welt leben«, antwortete der Arzt. »Monate und Jahre werden Sie noch leben!« – »Wozu noch Jahre und Monate!« rief er dann manchmal. »Wozu die Tage zählen, wo doch ein einziger Tag für den Menschen ausreicht, um das volle Glück kennenzulernen? Meine Lieben, warum streiten wir, warum prahlen wir, warum tragen wir einander Kränkungen nach? Lasst uns in den Garten gehen und spazieren und umhertollen und einander lieben und loben und unser Leben glücklich preisen!«
»Ihr Sohn wird nicht mehr lange leben«, sagte der Arzt zur Mutter. »Infolge der Krankheit ist eine geistige Störung eingetreten.«
Die Fenster seines Zimmers gingen auf den Garten hinaus. Unser Garten war schattig, von alten Bäumen bestanden; an den Bäumen kamen die Frühlingsknospen hervor, und am Morgen kamen die Vögel geflogen, zwitscherten und sangen ihm in die Fenster. Und wie er sie so ansah und sich über sie freute, begann er auf einmal auch sie um Verzeihung zu bitten:
»Ihr Vöglein Gottes, ihr fröhlichen Vöglein, verzeiht auch ihr mir, denn auch vor euch habe ich mich versündigt.« Das konnte nun niemand von uns verstehen. Er aber weinte vor Freude. »Ja«, sagte er, »es war eine solche Gottespracht um mich herum, die Vögelchen und die Bäume und die Wiesen und der Himmel! Ich allein lebte in Schande, ich allein entehrte alles und bemerkte all die Schönheit und Pracht gar nicht.«
»Du wirfst dir gar zu viele Sünden vor« sagte die Mutter manchmal weinend.
»Liebe Mutter, du meine Freude, ich weine ja vor Glück, nicht vor Kummer! Es verlangt mich ja selbst, ihnen gegenüber Schuld zu tragen. Ich kann es dir nur nicht erklären, denn ich weiß nicht, wie ich sie nur lieben soll. Mag ich mich auch ihnen gegenüber versündigt haben, dafür werden sie mir alle verzeihen – und das ist eben das Paradies. Bin ich denn jetzt nicht im Paradies?«
»Nun, jetzt geh und spiele und lebe für mich!«
Und so sagte er noch vieles, was ich nicht im Gedächtnis behalten habe. Ich erinnere mich, dass ich einmal zu ihm ins Zimmer kam, als niemand bei ihm war. Es war eine klare Abendstunde, die Sonne neigte sich zum Untergang und erleuchtete das ganze Zimmer mit ihren schrägen Strahlen. Als er mich sah, winkte er mich heran, ich trat zu ihm. Er fasste mich mit beiden Händen an den Schultern und sah mir liebevoll ins Gesicht. Er sprach nichts, sah mich nur ungefähr eine Minute so an, dann sagte er: »Nun, jetzt geh und spiele und lebe für mich!« Ich ging damals hinaus und spielte. Aber in meinem späteren Leben habe ich mich oftmals unter Tränen erinnert, wie er mich geheißen hatte, für ihn zu leben. Er sagte noch viele solche wunderbare und schöne, für uns damals allerdings unverständliche Worte.
Er starb in der dritten Woche nach Ostern, bei vollem Bewusstsein, und wenn er auch nicht mehr reden konnte, veränderte er sich bis zu seiner letzten Stunde nicht mehr. Sein Gesicht hatte einen freudigen Ausdruck, seine Augen glänzten heiter, mit seinen Blicken suchte er uns, lächelte er uns zu, rief er uns. Ich war noch zu jung, ein Kind, doch blieb das alles unauslöschlich in meinem Herzen...
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