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CheckoutDas Städtchen Cardenas, hundert Meilen östlich von Havanna an der Nordküste Kubas, ist ein alter toffeefarbener Hund, der neue Kunststücke lernt. Dreimal die Woche bringt eine Fähre von Key West heutzutage eine Ladung amerikanischer Touristen. Und diese Amerikaner, die alle solche bleichen Gesichter haben, dass es aussieht, als seien sie krank gewesen, erscheinen den Einwohnern der Stadt sonderbar und wenn sie sprechen, rennen die kleinen Jungen schnell um sie herum nach vorn, damit sie ihre Lippen sehen können, wenn sie diese mysteriösen, unverständlich fremden Worte formen.
Die kleinen Mädchen dagegen kichern hinter vorgehaltener Hand, denn die amerikanischen Frauen tragen oft Hüte und, wie jeder weiß, ein Hut ist ein Kleidungsstück, welches einzig und allein von Männern getragen wird. Aber die Mütter der kleinen Mädchen zerren sie schimpfend zurück ins Haus, denn die Amerikaner tragen Geld nach Cardenas und müssen mit der Höflichkeit behandelt werden, die das Geld verdient.
Aber dies ist eine Geschichte über etwas, was sich in Cardenas ereignete, bevor es Touristen und Fähren gab. Zu der Zeit saßen die jungen Männer in eisernen Schaukelstühlen im Park unter den königlichen Palmen und unterhielten sich angeregt über den Tag, an dem sie arbeiten würden und großen Reichtum anhäufen und schnelle Automobile kaufen würden.
Die Geschäftsbesitzer öffneten um 10 Uhr morgens, schlenderten mittags für eine große Mahlzeit von Reis und schwarzen Bohnen nach Hause, erlaubten sich eine zweistündige Siesta und kehrten dann zu ihren Geschäften zurück um bis zum Abendessen Domino zu spielen, die Preise himmelhoch setzend, damit mögliche Kunden sie nicht stören würden. Die Frauen wischten ihre weißen Fließenböden, kochten, tratschten und beim Anbruch der Dunkelheit schlossen sie sich in ihre Häuser hinter ihren schweren Holztüren ein. Und die Kinder, wenn sie Väter hatten, die das Schulgeld bezahlen konnten, gingen zur Schule. Die Jungen in weißen Hemden und Halsbinde in einem weichen Blau welches der Jungfrau Maria eigene Farbe war, besuchten die Escuela Pia. Die Mädchen, mit blauen Trägerschürzen und weißen Streifen am Saum ihrer Röcke, gingen auf die Escuela de las Madres Escolapias.
Dies bringt uns zu den drei Jungen von der Escuela Pia: Eduardo, Ramoncito und Lazaro.
Eduardo war sechzehn, Ramoncito und Lazaro waren einige Monate jünger.
Sie waren die ältesten Jungen in dem Colegio und die größten. Und zwar war Eduardo ein Riese in Kuba, wo Pferde einem großen Hund ähneln und die Hunde nicht grösser als Hasen sind: sein Spitzname war Elefant. Er hatte ein flaches Stubsnasen-Gesicht und einen kantigen Schädel auf dem sein Haar wie ein Mantel aus schimmernden schwarzem Lack war, weil er täglich duftendende Brillantine auftrug. Ramoncito hatte ein fein geschnittenes Gesicht, mit einem Kopf voller Locken und ein Zoll lange Wimpern über den Augen in der Farbe klaren grünen Seegrases. Lazaro war der kleinste der drei, aber das hinderte ihn nicht daran auch der schwerste zu sein. Er war so dick, dass er seine Kleidung zwei bis drei Mal am Tag sprengte, so dass die Knöpfe abflogen und der Saum seiner Kniebundhose oder die Schnallen die sie an seinen dicken plumpen X-Beinen zusammen hielten, aufplatzten. Lazaro aß drei große Mahlzeiten am Tag, genehmigte sich ein puddinggefülltes Eclair auf dem Weg zur Schule, frische Kokosmakronen auf dem Nachhauseweg und lutschte in der Pause hingebungsvoll Bonbons. Ramoncitos Spitzname war Affe, Lazaros war Makrone.
Die Tatsache, dass sie die drei ältesten Schüler waren, legte eine große Verantwortung auf Eduardo, Ramoncito und Lazaro. Wenn die 47 Jungen der Schule sich in den Bus für das jährliche Picknick bei Sankt Michael drängten, waren Eduardo , Ramoncito und Lazaro die, die alles überwachten, Ballspiele organisierten, Streitigkeiten schlichteten und generell den Anstand zu bewahren suchten. Und zur Weihnachtszeit war es ihre Pflicht als älteste Schüler, die drei Könige aus dem Morgenland zu spielen.
Jesu Geburtstag ist in Kuba ein Tag, an dem man zur Kirche geht, nicht ein Tag für Geschenke. Geschenke werden später verteilt, am sechsten Januar, nicht vom Weihnachtsmann, sondern von den drei Königen, die die Geschenke für das Christkind zur Krippe nach Bethlehem trugen. Deswegen rief Pater Miguel Eduardo, Ramoncito und Lazaro am zweiten Januar zu sich in sein Studierzimmer.
„Setzt euch,“ wies er sie an.
Pater Miguel, 82 Jahre alt, war so gebrechlich, dass sein weißer leinener Talar fast unbewohnt erschien. Es weilte nicht mehr sehr viel von ihm auf dieser Erde. Er hatte einen kleinen, dichterisch geformten Kopf und eine Stimme, und das war auch schon alles. Seine Stimme hatte, trotz all der Jahre in der Fremde, immer noch das Lispeln seiner heimatlichen österreichischen Berge, und sie war sehr zerbrechlich – ein leises musikalisches Summen, wie das von einer kleinen energischen Fliege im Schulzimmer an einem heißen Nachmittag.
„Kinder,“ sagte er, denn er war so alt, dass er den Unterschied zwischen 16 und 6 nicht mehr wahrnahm „viele Male habe ich dies getan, aber es ist neu für euch, deswegen muss ich euch die Aufgabe der drei Könige erklären. Alle Geschenke, die eure Klassenkameraden von ihren Familien und Freunden bekommen, sind oben im Hausmeisterzimmer. Auch die Geschenke der Mädchen sind da; Mutter Oberin brachte sie von der Madres Escolapias zu mir. Ich möchte, dass ihr zwei Stunden vor Anbruch der Dunkelheit am fünften Tag hier erscheint um die Packesel zu beladen, die Pferde zu satteln und euch in eure Kostüme zu kleiden. Die Kostüme werden passen; sie passen immer. Könnt ihr reiten?
„Ja, Pater.“ murmelten die Jungen. Alle kubanischen Jungen sind gut zu Pferde, ohne Sattel und ohne Zaumzeug, nur ein Stück Seil mit einer Schlaufe an einem Ende über das Maul gestülpt.
„Bueno; ihr werdet schon stattlich beritten sein. Don Alfredo schickt mir drei cremefarbene Stuten von seiner Farm, mit silberumrandeten mexikanischen Sätteln und Packsättel für die Maultiere. Ihr werdet bei Anbruch der Dunkelheit losziehen. So ungefähr drei Stunden werdet ihr brauchen, um die Geschenke zu verteilen; dann kommt ihr hierher zurück, um die Tiere an Don Alfredos Vorarbeiter abzugeben und eure Kostüme wieder wegzuhängen. Verstanden?“
„Verstanden, Pater.“ antwortete Eduardo, da weder Ramoncito noch Lazaro den Mund aufmachten. Er wollte nicht der Anführer sein. Es ärgerte ihn eigentlich. Aber es wurde ihm immer wieder auferlegt.
„Jetzt geht nach Hause“ schloss der alte Priester, „und lasst niemanden wissen, dass ihr die drei Könige seid. Wir möchten doch nicht die Herzen von einem dieser Kleinen traurig machen.“
Während der nächsten Tage, als sie die Rollen, die sie spielen sollten, besprachen, wurde Ramoncito ein bisschen gegen „die Kleinen“ verbittert. „Was kümmert uns das, wenn sie herausfänden, dass die Könige nicht echt wären?“ rief er aufgebracht aus. „Wir haben es auch herausgefunden.“ „So sollte man nicht reden“ antwortete Eduardo schroff in seiner tiefen Stimme „bevor wir wussten, dass es die Könige nicht gab, dachten wir auch, sie wären ein Wunder. Wir sind ja beinahe völlig durchgedreht, als wir warteten, dass sie zu unserem Haus kämen und an die Tür klopften, nicht wahr?“ Der kleine dicke Lazaro hatte nichts dazu oder dagegen zu sagen. Stattdessen machte er eine Straßenkarte und plante den Weg, den sie entlanggehen würden, damit sie die Häuser auf ihrer Liste ohne langes hin und her erreichen konnten. Lazaro war effizient. Entweder das oder faul. Oder vielleicht sind Effizienz und Faulheit einfach dasselbe und es trägt zwei verschiedene Namen.
Die leere Schule in den Ferien, der Spielplatz, alles erschienen den Jungen fremd, als sie sich dort am späten Nachmittag des fünften Januars trafen. Es war ein einsamer Hof aus roter körniger Erde, über der trockene Blätter flatterten. Landkrabben hatten sich auf dem Basketballplatz gemütliche Höhlen gebuddelt.
Die vier Packesel beluden sie einen nach dem anderen. Während Eduardo die schweren Spielzeuge trug – die Dreiräder und Miniautomobile – weil er der stärkste war, arrangierte Lazaro die Kisten und Päckchen nach seiner Straßenkarte und Ramoncito, der ein leidenschaftlicher Angler war, und gut im Knoten machen war, füllte die großen Leinensäcke, die als Satteltaschen dienten, und befestigte sie an den Mahagonipacksätteln. Die Packesel, intelligenter als die Pferde, wussten sofort, dass sie zu einer Art Spiel eingeladen waren. Sie benahmen sich gut, weder störrisch noch bissig. Als die Esel beladen waren, sattelten die Jungen die drei wunderschönen kleinen Stuten, die für einen Amerikaner ausschauten, als seien sie gerade von einem Karussell heruntergesprungen. Dann legten die Jungen ihre Kostüme an.
Die Schule hatte diese Kostüme schon so lange, dass sich niemand erinnerte, wer sie eigentlich angefertigt hatte – irgendeine Mutter wahrscheinlich – wer auch immer sie war, sie hatte dieselben reichen Stoffe verwendet, die sie für eine bestickte Altardecke für die Kirche benützt hätte. Eduardos Mantel war aus türkisenem Satin, umgürtet mit einer Goldkordel, und auf seinen Kopf trug er einen vielfarbigen Turban. Lazaros Mantel war von schwerem Silberbrokat und sein Turban von lila Samt. Ramoncito hatte ein Gewand chinesischer Art aus blauer Seide, kunstvoll bestickt, und einen weinroten Turban. Sie trugen ihre normalen Schuhe, denn die glockenförmigen mexikanischen Steigbügel würden sie verstecken, wenn sie auf den Pferden saßen und die langen Mäntel würden sie bedecken, wenn sie abstiegen und in die Häuser gingen. Als letztes klebten sie sich ihre langen weißen Bärte an und mit einem Fettstift malten sie Falten des Alters auf ihre jungen braunen Gesichter.
Dann, als die Pferde bereit waren und, die Packesel an ihren Leinen aneinandergereiht ungeduldig warteten, beobachteten die Jungen, wie die Sonne im Westen hinter den Palmenhainen unterging. Sie sank, ein riesiger leuchtender Pfirsich, der Strahlen von goldenem Licht durch die Wolken schickte. Nachdem sie hinter dem Horizont verschwunden war, war der Himmel von schimmerndem limonen-grünem Licht erfüllt, und dann, ohne Unterbrechung, kam die Abenddämmerung. Der Sonnenuntergang war wie ein Fruchtpunsch samt Maraschinokirschen und Zitronensorbet, aber die Jungen sahen so einen Sonnenuntergang jeden Abend und sie nahmen an, die Sonne würde sich in allen Ländern so außergewöhnlich benehmen. Für sie war es einfach ein Signal, dass es Zeit war, anzufangen.
„Aufsitzen!“ befahl Eduardo, und sie schwangen sich auf die goldgeprägten Sättel mit hoher Rückenlehne. Der führende Packesel wieherte froh im Geiste des Abenteuers. Und schon waren sie unterwegs.
„Zum oberen Ende der Prinzessinenstraße,“ wies Lazaro an. „die Montoros wohnen dort in Nummer 17.“
„Ich glaube es dir“ antwortete Ramoncito, dessen geheime Absicht es war, einmal die mittlere der Montoro-Schwestern, Gladys, zu heiraten.
Die Häuser von Cardenas, wie die meisten Häuser in lateinamerikanischen Städten, sind unsichtbar. Das heißt, man sieht nichts von ihnen außer der vorderen Mauer, welche sich an die vorderen Mauern der nebenliegenden Residenzen anschließt und mit demselben goldenen Stuck verputzt ist. Innerhalb der Mauer, von vorne nach hinten hin, ist jedes Haus in zwei lange Streifen geteilt. Einer dieser Streifen, der kein Dach hat, ist ein gepflasterter Garten mit einem Springbrunnen, steinernen Blumentrögen, Limonen- und Mango- und Papayabäumen und einigen Gartenmöbeln. Hier wohnt die Familie 300 Tage im Jahr. Der lange Streifen auf der anderen Seite, bedacht mit verblichenen zinnoberroten Ziegeln, verbirgt das offizielle Wohnzimmer mit seinem Kronleuchter und schweren Mahagonimöbeln; die Schlafzimmer, die alle ihre eigene Tür zum Garten haben, das Esszimmer mit noch einem Kronleuchter und einem großen elektrischen Kühlschrank aus den Vereinigten Staaten in einer Ecke; und die Küche, wo das Essen über quadratischen, gusseisernen Körben voll wohlriechender glühender Kohlen gekocht wird. Hinter der Küche wohnen die Dienstboten und alle ihre Verwandten, die es schafften, sich eine überzeugende Elendsgeschichte auszudenken.
Aber da ist noch etwas mit den Häusern in Cardenas, was noch merkwürdiger ist. Das ist, dass der reichste Mann neben dem ärmsten wohnen könnte. Es gibt arme Viertel und reiche Viertel, aber oft wohnt ein Bankier im armen und ein Krabbenverkäufer im reichen Viertel. Und deshalb, als die Jungen beim Haus der Montoros abstiegen, konnten sie es nicht vermeiden, von den neun barfüßigen Kinder von Emilio dem Schuster, in nichts als zerlumpten Hemden gkleidet, hoffnungsvoll angestarrt zu werden, als sie die Satteltaschen herunternahmen, die die Geschenke der Montorokinder bargen. Eduardo, dessen Stimme schon tiefer war als eines manchen Mannes, klopfte mit dem Messingklopfer an die Tür und rief laut: „Wohnen die guten Kinder von Señor Montoro hier?“
Señor Montoro schwang die hohe Tür auf, elegant in seinem gestärkten weißen Hemd aus gefaltetem Leinen: „Ja, Señores, wir haben brave Kinder in diesem Haus.“ antwortete er „Darf ich fragen wer ihr seid, Señores?“
„Wir sind die drei Könige aus dem Morgenland“ dröhnte Eduardo.
„Dann tretet ein. Dies ist euer Haus.“
Die Montorokinder, aufgeregt herumplappernd, nahmen die Geschenke, welche ihre Namen trugen und die Eduardo und Ramoncito aus dem geöffneten Leinensack herausnahmen, entgegen. Es wurde sich schnell verabschiedet. Die Könige erklärten, dass sie vor Morgenanbruch noch eine lange Reise vor sich hätten, stiegen auf und ritten davon.
„Die Schusterkinder weinen alle richtig.“ sagte Lazaro über das Klippklapp der Hufe. „Ich kann sie hören. Sie dachten, wir würden etwas für sie bringen, als wir das Haus der Montoros verließen.“
„Vielleicht wird Jaime Montoro ihnen seinen Expresswagen geben, nachdem er ihn kaputt gemacht hat.“ sagte Ramoncito, „Ich wette bis morgen ist kein Rad mehr dran.“
Beim Haus der Caberas in der Muschelstraße lieferten sie eine französische Puppe für 50 Dollar an Myriam Cabera ab, zusammen mit einem Dutzend anderer Pakete. Nachdem sie wieder aufgestiegen waren, lenkten sie in die Angelinastraße ein.
Jetzt war es dunkel. Das einzige Licht, das auf die Straßen fiel, kam von unbeschirmten Glühlampen an den Kreuzungen. Als sie weiterritten, merkten sie, wie Leute - Erwachsene sowie auch Kinder - sie vom Gehweg her beobachteten. Alle waren für einen Spaziergang in der kühlen Abendbrise, die von der Bucht her wehte, herausgekommen. Immer mal wieder rief jemand: „Schau, die drei Könige!“ Und jedes Mal war die Stimme voller Aufregung und Ehrfurcht. Es war eine geheimnisvolle Nacht.
Die Packesel merkten es und stellten ihre Ohren auf und die Pferde, um anzugeben, schüttelten ihre Mähnen und hoben ihre Vorderbeine höher als sie es wirklich brauchten, als sie das Gemurmel der Bewunderung hörten. Eine Gruppe Männer um einen weißen Handkarren mit Tamalero, jubelten und winkten. Einer von ihnen, ein Bauer mit seinen hohen Schnürstiefeln und einem Zuckerrohrmesser am Gürtel, rannte auf die Straße und versuchte, Eduardos Pferd mit seiner Tamale zu füttern.
In der Sankt-Johannes-Straße scheuten die Pferde bei dem Erdnussverkäufer der laut „Erdnüsse, ein bisschen heiß. Erdnüsse, ein bisschen heiß“ anpries. Und da waren auch wieder Zuschauer im Dunklen unter den rauschenden Palmen. Ganz klar hörten die Jungen, wie ein kleines Mädchen ihre Mutter mit zitternder Stimme fragte: „Mama, werden sie zu uns kommen?“ Und sie hörten die geduldige und verzweifelte Antwort der Mutter: „Wer weiß, Seele meiner Seele? Aber wenn sie nicht heute Nacht kommen, musst du tapfer sein, dann kommen sie bestimmt nächstes Jahr.“
Eduardo, der voranritt, kannte einige Wörter, die Pater Miguel nicht billigte. Jetzt murmelte er ein ganz besonders schlimmes. „Jetzt weint sie,“ rief Lazaro aus, „weil wir an ihrem Haus vorbeigeritten sind.“
„Wenn du denkst, das sei schlimm,“ sagte Ramoncito, „warte bis wir unten beim Markt sind. Mein Bruder Pepe erzählte mir, als er König war, ritt er durch vier Straßenblockaden mit schreienden Bettelkindern.“
„Die Armen sind immer mit uns.“ antwortete Eduardo schroff „Jesus sagt das in der Bibel.“
„Er meint, sie seien immer mit uns, damit sie uns daran erinnern, etwas für sie zu tun, Elefant!“ sagte Lazaro „Das meint er!“
„Was willst du?“ rief Eduard zurück „Ist es meine Schuld, wenn manche Familien nicht ihren Lebensunterhalt verdienen können? Die Zuckerrohrernte ist dieses Jahr schlecht.“
Eduardos Wut musste man sofort im Zaum halten, das war bekannt. „Nein, lieber Elefant, es ist nicht deine Schuld.“ sage Ramoncito „Wir sagen das ja gar nicht.“
„Dann haltet gefälligst das Maul!“
„Ich dachte gerade“ sagte Lazaro mit seiner klaren süßen Stimme, die es ihm noch mit fünfzehn erlaubte, im Chor mitzusingen, „es ist eine Schande die Geschenke den reichen Kindern wie uns zu bringen, wenn die armen sie aber doch brauchen.“
„Ich auch. Mein Vater schenkt mir ein Fahrrad.“, fügte Ramoncito hinzu „Was soll ich mit einem Dominospiel und Karten, um Rechtschreibung besser zu lernen?“
„Pater Miguel hat uns gesagt, was wir zu tun haben“, sagte Eduardo hart, „und das machen wir auch.“
Aber nicht hundert Meter weiter rannte ein kleiner Junge, etwa sieben oder acht Jahre alt, in einem Hemd aus einem alten Leinensack, weißgefärbt für die Feiertage, aufgeregt auf die Straße und rief: „Oh Könige, Könige! Wir wohnen hier, Señores, in Nummer 22!“
Eduardo zog die Zügel so straff, dass es der Stute im Maul wehtat. Von seinem Sattel herunterlehnend, brüllte er den Jungen mit so einer Stimme an, dass es ihn beinahe zu Tode erschreckte: „Wie heißt du? Habt ihr Licht in eurem Haus, damit wir sehen können? Dann bringe uns dorthin. Affe, galoppiere zurück und hole das heulende Mädchen!“
In dem Ein-Zimmer-Haus Nummer 22, wo die ganze Familie auf dem Tonboden schlief und das einzige Licht von einer kleinen Flamme in einem roten Becher am Fuße der Jungfrau kam, händigten sie ein halbes Dutzend Päckchen aus. Eduardo finster, Ramoncito ängstlich, aber entschlossen und Lazaro sich abmühend, sein Kichern zu unterdrücken, welches immer im falschen Moment über ihm kam. Die Dankbarkeit des kleinen Jungen und Mädchens beschämte sie so sehr, dass sie sich schnell fortmachten und die klapprige Tür hinter sich zuschlugen. Sie trafen sich bei den Pferden.
„Nun ja,“ sagte Eduardo „diese zwei werden nicht die ganze Nacht heulen. Aber was nun? Ihr wisst, wir müssen dem Pater gehorchen.“
„Tu eres jefe,“ antwortete Ramoncito schulterzuckend „du bist der Boss.“
„Ich bin nicht der Boss!“ schrie Eduardo „Ihr macht mich immer zum Boss und ich bekomme dann immer Ärger. Wisst ihr, was das für ein Skandal wäre, wenn wir runter zum Markt reiten und all dies Zeug den Bettelkindern geben würden?“
„Natürlich wäre das ein Skandal,“ antwortete Ramoncito, „es wurde noch nie gemacht.“
„Wir sitzen schon in der Tinte.” protestierte Eduardo. Er wandte sich Lazaro zu: „Was sagst du dazu, Makrone?“
Wenn jemand mit spanischem Blut nicht weiß, was er sagen soll, antwortet er mit einem Sprichwort. „Was uns nicht umbringt“, zitierte Lazaro, „macht uns dick.“ Dieser Spruch passte zwar nicht besonders zu der Situation, aber er drückte seine Meinung aus.
„Na gut,“ sagte Eduardo „aber ihr sitzt auch mit drin. Vergesst das ja nicht!“
„Für einen Elefanten“, sagte Ramoncito, „redest du sehr viel.“ Theatralisch knüllte Lazaro seine Straßenkarte zusammen und warf sie in die Gosse. Sie lenkten die Pferde um und ritten im Trott auf den Markplatz zu. In der Oberst-Hangman-Straße, die zum Marktplatz führte, mit ihrem Gerüchen von verdorbenen Fischköpfen und Kohl, hielten sie die Pferde an. Jemand hatte die Straßenlaterne mit einem Kohl oder einem Steinchen in einer Schleuder zerschmettert, aber die Sterne waren hell genug, um sehen zu können; die Sterne hingen über den Dächern wie an Kabeln von Himmel heruntergelassene Weihnachtsbaumdekoration. Eduardo stand aufrecht in seinen Steigbügeln. „Hört mich!“ rief er „Ist dies Cardenas in Kuba?“ Das war ein schöner Einfall. „Gibt es hier gute Kinder in dieser Straße, die das ganze Jahr über brav waren? Wenn ja, dann kommt alle zum Marktplatz!“
Der Markt, ein Labyrinth mit Gängen aus schweren Steingewölben, war hell erleuchtet. Neugierige, lachende Metzger und Gemüseverkäufer versammelten sich sogleich um die drei Könige, die ihre massigen Satteltaschen hinterherschleiften. Schon als die Menschen noch dabei waren, einen Kreis um sie zu bilden, kamen barfüßige Kinder mit ungekämmten Haaren und triefenden Nasen, und schubsten und zappelten, und wenn nötig, traten sich ihren Weg zur Mitte frei. Rücksichtslos rissen Eduardo, Ramoncito und Lazaro Geschenkpapier und Schleifen auf, um die Geschenke sehen zu können und teilten sie aus. In der Menge brachen Streitigkeiten aus, aber nicht unter den Kindern. Die schnappten sich ihre Puppen und Malfarben, ihre Feuerwehrautos und Roller und rannten damit fort, kreischend, die beste Neuigkeit ihres Lebens zu Brüder und Schwestern und treuen Freunden bringend.
In zwanzig Minuten waren die Satteltaschen leer. Noch nicht mal ein Dauerlutscher blieb übrig. Sogar Ramoncitos weißer Bart war weg, denn er fiel auf den Zementboden und ein kleines Kind schnappte ihn im Glauben es sei ein Spielzeug. Schweiß überströmt und so heiser wie Krähen stießen sich die drei Jungen durch die plappernde, verwirrte, bewundernde Menge, die in den Gehwegen dicht gedrängt einen Häuserblock entlang stand, stiegen auf und trotteten bei untergehendem Mond zurück zur Schule. Der Mond schaffte es nicht, ganz so spektakulär zu sein, wie die Sonne, aber er tat sein Bestes. Er verwandelte die gewaltigen Wolken über dem Meer in große Büschel von weißen Kamelien, jeden Strauß als sei er in schimmernde Aluminiumfolie gewickelt.
Wissenschaftler sagen, nichts verbreite sich so schnell wie das Licht. Das ist nicht wahr; in einer Kleinstadt verbreiten sich gute Nachrichten, schlechte Nachrichten, jede Art von Neuigkeit, schneller. Zur der Zeit, als die drei Jungen ihre Kostüme aufgehängt und die Tiere wieder an Don Alfredos Vorarbeiter abgegeben hatten, richteten die wütend gestikulierenden Eltern schon Strafpredigten an die Väter der Jungen. Und am Morgen hatte sich der Ärger in der Forderung gefestigt, sie sofort von der Schule zu verweisen. Die Bewegung wurde von Triunfo Anilina angeführt, der einen großen Haufen Geld mit seiner kleinen Drogerie machte, indem er Medizin viel teurer verkaufte als sie wert ist, an Leute, die zu krank waren, um über den Preis zu streiten.
Der Drogist schickte eine Bekanntmachung per Bote an jedes Haus, verlangte dass alle Eltern der Jungen, die das Colegio besuchen, sich dort treffen und über diese Angelegenheit um 16 Uhr abstimmen sollten. Um 16 Uhr an diesem Nachmittag waren die aufgebrachten Eltern in der Schule - nicht zwei Stunden zu spät, noch nicht mal eine Stunde zu spät, wie gewohnt, sondern pünktlich. Dicke Väter mit Zigarren und mollige Mütter mit kleinen feinen Füßen in hochhackigen Lacklederschuhen folgten Triunfo Anilina in ein großes kühles Zimmer, in dem Arithmetik unterrichtet wurde. Dort quetschten sie sich in die Sitze hinter den kleinen Pulten der Schüler, während der stämmige Drogist sich arrogant an das erhöhte Lehrerpult stellte. Die Jungen selber, Eduardo, Ramoncito und Lazaro, stellten sich mit dem Rücken zur Tafel auf, ohne dass sie jemand dazu aufgefordert hätte. Ihrer Meinung nach waren sie schuldig, verurteilt und bereit für das Exekutionskommando.
„Wir sind hier“ sagte Triunfo Anilina knapp, „lasst uns anfangen.“ Er legte einen ausführlichen Bericht über die kriminelle Tat dar, in dem er eine Reihe großer beeindruckender Wörter gebrauchte, die er von seinem Bruder, einem Rechtsanwalt, aufgeschnappt hatte. Er brauchte eine halbe Stunde.
Danach sprachen die Väter der Täter für deren Verteidigung. Eduardos Vater bot an, alle Geschenke zu bezahlen, Ramoncitos Vater bat einzusehen, dass Jungen eben Jungen seien, und Lazaros Vater bot sich an, Triunfo und alle anderen männlichen Mitglieder der Familie Anilina, die er als Küchenschaben bezeichnete, durchs Fenster zu befördern. Aber Triunfo Anilina brüllte die Verteidigung nieder, hämmerte mit seiner haarigen Hand auf das Pult, und schmiss dabei die Tinte um.
„Diese Diebe müssen bestraft werden!“ rief er.
„Die Wahrheit der Sache ist die,“ sagte Eduardos stattlicher Vater, sich aufrichtend, „das dich nichts befriedigen würde – nicht eine ehrbare Entschuldigung, keine Rückzahlung. Was du willst, ist Rache.“
„Ja, Rache!“ keuchte Triunfo Anilina in seiner Jacke die dunkel vor Schweiß war. „Was für ein Skandal! Das ist das erste Mal in der Geschichte unseres Colegio, das so etwas geschah!“
„Oh Anilina,“ kam eine schwache Stimme wie ein musikalisches Summen von der letzten Reihe, „da hast du einen springenden Punkt getroffen.“
Jeder wandte sich Pater Miguel zu, als er in seinem talgfarbenen Talar den Gang entlang kam und ein paar Mal stehen blieb, um Kraft zu schöpfen. Die Mütter und Väter hatten ihn völlig vergessen. Triunfo Anilina sprang ungeschickt auf: „Nehmen Sie meinen Platz, Pater.“
„Es ist nicht dein Platz“, antwortete Pater Miguel. Auf der Anhöhe stehend, sich mit seiner kleinen, trockenen Hand an der Kante des Pultes abstützend, sein kahler Kopf das weiße Licht vom Fenster reflektierend, wandte er sich den Eltern zu: „Liebe Freunde,“ flüsterte er, „es ist so. Für fünfzig Jahre schickte ich am Abend des Dreikönigstages die drei ältesten Jungen der Schule in die Stadt. Und immer verteilten sie die Geschenke so, wie ich es ihnen aufgetragen hatte, weil sie brave Jungen waren. Bis auf gestern Abend haben sie meine Anweisungen immer befolgt.“
Hinter dem Pult nickte Triunfo Anilina deutlich seine Zustimmung. „Aber die drei Jungen sind auch brave Jungen, denn alle Jungen sind brave Jungen“, fuhr Pater Miguel fort. „Also, um ihnen gerecht zu werden, müssen wir ihre Missetat genauer untersuchen. Genau was, müssen wir uns fragen, haben sie getan? Sie nahmen die reichen Geschenke, die die Großzügigkeit unserer geliebten Insel bereitgestellt hatte, und trugen sie zu den Kindern, die auf Strohpaletten schlafen, wenn sie Glück haben, genug Stroh auf den Straßen um dem Markt zu finden. Erinnert Sie das Stroh an etwas, Señores und Señoras? Es erinnert mich an ein anderes Kind, in raue Windeln gewickelt, das auf Stroh in einer Krippe schlief, weil es keinen Platz in der Herberge gab. Und wenn wir daran denken, wird es ohne Zweifel klar, dass dieses nicht brave Jungen sind. Nein, sie sind mehr als außergewöhnlich brave Jungen. In der Großzügigkeit ihres Herzens, in der Zartheit ihres Geistes, in dem Mut ihres Willens sind sie in der Tat drei junge Könige.“
An der Tafel, die Arme steif an den Seiten herunterhängend, sprach Eduardo aus dem Mundwinkel zu dem kleinen dicken Lazaro. „Nur ein Kichern“ sagte er, „und ich sage dir, dass es dein letztes Gekicher gewesen ist.“
In dem Schulzimmer herrschte Stille. Dann fing Ramoncitos Mutter zu weinen an und Lazaros Vater brach in ein ausgelassenes Gelächter aus. Pater Miguel erhob seine Hand. „Nun,“ sagte er, „wenn Sie bitte so höflich sein könnten und mir zu meinem Haus nebenan helfen, eine Delegation aus der Nachbarschaft des Marktes wartet dort. Sie wünschen Ihnen für Ihre Sympathie und Freundlichkeit zu danken, die sie zutiefst berührt hat. Sie möchten auch die Identität der drei edlen Könige kennenlernen, so dass sie ihre Hände küssen können.“
Karlheinz Ungar
Was für eine schöne Geschichte. Fast bin ich geneigt zu sagen: So etwas können nur Kinder ...