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    hand holding a coffee mug beside a stethoscope

    Medizin ohne Geld

    von Monika Mommsen und Milton Zimmerman

    Mittwoch, 5. September 2018

    Verfügbare Sprachen: español, 한국어, English

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    Wie ist es, Medizin in einer Gemeinschaft zu praktizieren, in der Ärzte keine Rechnungen schicken und Patienten nicht zahlen? In Plough Quarterly, dem vierteljährlichen Magazin des Verlags der Bruderhöfe, sprechen zwei Bruderhof-Ärzte über Hausbesuche, neue Technologien und die Momente der Geburt und des Todes – und warum Spaß zu haben ein wichtiger Teil ihres Berufs ist.

    PQ: Wie seid ihr Ärzte geworden?

    Milton Zimmerman: Als ich vier Jahre alt war, hatte ich rheumatisches Fieber. Der Arzt, der sich um mich gekümmert hat, kam immer wieder zu Hausbesuchen, und er war ein freundlicher Kerl, den ich sehr gerne mochte. Ich dachte: „Hey, wenn ich groß bin, will ich so sein wie er.“ Damit hat es angefangen. Nach Amherst besuchte ich die University of Pennsylvania Medical School, Abschlussjahrgang 1954.

    Während des Medizinstudiums fand ich Jesus – oder Jesus fand mich. Das gab eine Richtung für mein Leben vor, und ich suchte nach einer Kirche, die wirklich der Bergpredigt und dem Leben und der Lehre Jesu folgte. Das hat mich dazu gebracht, Pazifist zu werden. Als ich 1957 auf der Suche nach einem Zivildienstplatz war, entschied ich mich für vom Bruderhof geführte Krankenhaus in Paraguay. Zwei Jahre später traten meine Frau und ich der Gemeinschaft bei.

    Ich habe sechzig Jahre lang Medizin praktiziert. Bis auf zwei Jahre war das alles als Hausarzt in der Bruderhof-Gemeinde – meistens habe ich Mitglieder der Gemeinschaft behandelt, aber ich habe auch im örtlichen Krankenhaus gearbeitet und in einer Klinik zur Behandlung von landwirtschaftlichen Saisonarbeitern, die hier in der Nähe ist.

    Monika Mommsen: Ich habe 41 Jahre lang praktiziert. Schon seit meiner Kindheit wollte ich Krankenschwester werden – ich bin in der Bruderhof-Gemeinschaft aufgewachsen. Aber in meinem letzten Schuljahr, nachdem ich meinen Wunsch geäußert hatte, Mitglied zu werden, fragte die Gemeinde, ob ich Ärztin werden würde, da sie eine Ärztin haben wollte. Das war eine Überraschung, aber ich habe Ja gesagt und ich liebe es seitdem. Nach einem Kunststudium studierte ich am Albany Medical College, Abschlussjahrgang 1975. Von Anfang an war Milton mein Mentor.

    Monika Mommsen and Milton Zimmerman

    Monika Mommsen und Milton Zimmerman Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung der Interviewpartner.

    Gab es damals noch andere Ärztinnen in der Bruderhofgemeinschaft?

    Monika: Ja, zwei englische Ärztinnen waren vor dem Zweiten Weltkrieg in England zur Gemeinschaft gestoßen und nach Paraguay mitgekommen, wo sie halfen, ein Krankenhaus zu gründen. Aber sie haben nicht mehr viel praktiziert. Und Dr. Miriam Brailey, eine sehr bekannte Epidemiologin, die an der Johns Hopkins School of Medicine unterrichtet hatte, war auch ein Bruderhof-Mitglied und eine Freundin unserer Familie.

    a Bruderhof doctor with a young patient

    Medizin in Gemeinschaft

    In einer christlichen Gemeinde wie dem Bruderhof könnt ihr Pflege von der Wiege bis zur Bahre anbieten. Wie sieht das aus?

    Milton: Nun, unsere Pflege ist besser als von Wiege zu Bahre – sie beginnt sechs Monate vor der Wiege. Nicht wahr, Monika?

    Monika: Oft vertrauen sich Mütter mir an, wenn sie denken, dass sie schwanger sein könnten. Normalerweise sehen wir sie in der zwölften Schwangerschaftswoche in meiner Praxis, wenn wir den Herzschlag hören können. Natürlich bieten wir ihnen die bestmögliche Schwangerschaftsvorsorge an, und wenn es Anlass zur Sorge gibt, sorgen wir dafür, dass eine Mutter von einem qualifizierten Spezialisten besucht wird. Aber eines der wunderbarsten Dinge, die ich ihnen sagen kann, ist, dass es tatsächlich kaum Ärzte gibt, die in diesem Stadium medizinisch etwas anderes tun können als zu beobachten – Gott hält diese Schwangerschaft in seiner Hand. In gewisser Weise kann die Tatsache, dass die Eingriffsmöglichkeiten der Medizin vor der Geburt so begrenzt sind, eine gesunde Erinnerung sein, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: dass wir hier ein Geheimnis erleben, die Erschaffung eines neuen Lebens.

    Eine der besonderen Erfahrungen ist es, eine neue Seele in die Welt kommen zu sehen und diesen ersten Schrei zu hören.

    Ich bin normalerweise bei der Geburt anwesend, die sehr stark im Kontext des Gebets – und der Freude – stattfindet. Das ist eines der wunderbarsten Erlebnisse: Eine neue Seele in die Welt kommen zu sehen und den ersten Schrei zu hören, der für das Leben des Kleinen wirklich lebenswichtig ist – den ersten tiefen Atemzug zu nehmen, zu schreien.

    Dann bin ich da für alle Untersuchungen und Impfungen, und dann kommen oft die normalen Kinderkrankheiten wie Bronchitis und Ohreninfektionen, und später, wenn aus den Babys Teenager geworden sind, Akne. Dann sehe ich sie wieder, wenn sie heiraten und Kinder bekommen. Vor kurzem habe ich begonnen, die Enkelkinder der Leute zu sehen, die ich zuerst als Kinder behandelt habe.

    Verwendet ihr alternative Therapien?

    Monika: Nein, es ist konventionelle, wissenschaftlich fundierte Medizin.

    Als Ärzte seid ihr auch dabei, wenn Menschen Tragödien erleben.

    Monika: Es gibt sehr harte Momente, zum Beispiel eine Mutter durch eine Geburt zu begleiten, wenn sie weiß, dass das Kind nicht mehr am Leben ist. Dennoch kann es ein sehr bewegendes Erlebnis sein, ein Kind aufzunehmen, das uns bereits genommen wurde – zu erkennen, dass dieses Kind in Gottes Augen sehr viel Wert hatte und seine Arbeit bereits auf Erden getan hatte, sogar während es in der Mutter war. Dann ist es unser Privileg, mit den Eltern zu trauern und zu tun, was wir können, damit ihre Familie und die Gemeinschaft dieses Erlebnis mit ihnen gemeinsam tragen können.

    Jedes Kind, auch eine frühe Fehlgeburt, hat eine Botschaft – mit Sicherheit für die Eltern, aber auch für alle anderen Beteiligten. Die Ehrfurcht vor dem Leben, vor der Kostbarkeit des Lebens, nimmt immer weiter zu, wenn man älter wird, denke ich.

    Außerhalb einer gemeinschaftlichen Lebensweise wird die Medizin typischerweise in einem kommerziellen Umfeld praktiziert: Geld fließt zwischen Arzt und Patient, zwischen dem Arzt und seinem Arbeitgeber und von Arzt und Patient zu den Krankenkassen und Versicherern. Welchen Unterschied macht es, Medizin zu praktizieren, ohne dass dabei Geld im Spiel ist?

    Milton: Als ich anfing, Medizin zu praktizieren, hatte ich meine eigene Hausarztpraxis in einem halb-ländlichen Gebiet außerhalb von Philadelphia. Ich habe 3 Dollar 50 Cent für einen Praxistermin und 5 Dollar für einen Hausbesuch berechnet. Kannst du dir das vorstellen? Aber ich konnte meine Schulden aus dem Studium innerhalb eines Jahres abbezahlen und es hat außerdem noch viel Spaß gemacht. Man kommt aber nicht drum herum: Der Zahlungsverkehr zwischen Arzt und Patient steht immer im Hintergrund und bestimmt die Beziehung.

    Hier im Bruderhof gibt es keine Zahlungen. Da wir eine gemeinsame Kasse haben, ist Geld sowohl für den Patienten als auch für mich irrelevant und hat keinen Einfluss auf die Behandlungen, die wir leisten. Das ermöglicht ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient in einem Maße, wie es sonst nur selten möglich ist.

    Monika: Es befreit uns dazu, uns in erster Linie um jemanden als Mensch zu kümmern. Wir bekommen keine Bezahlung, also beeinflusst das, was ich tue oder nicht tue, nicht mein Einkommen. In einer konventionellen Praxis haben Ärzte heute zehn bis fünfzehn Minuten Zeit für die Behandlung eines Patienten, das sind zwanzig bis fünfundzwanzig Patienten an einem Tag, und es gibt einfach keine Zeit, die sie sich zum Zuhören nehmen können. Hier haben wir diese Zeit und wir werden nicht von der Wirtschaft getrieben. Auch die Beziehung zwischen Kollegen (es gibt etwa ein Dutzend Bruderhof- Ärzte), Krankenschwestern und Mitarbeitern ist eng, weil wir den gleichen Glauben haben und uns dieser Gemeinschaft verpflichtet fühlen. Es bestehen keine Arbeitgeber-Arbeitnehmer- Beziehungen zwischen uns.

    Dennoch ist meine Praxis nicht nur für Mitglieder der Gemeinschaft. Ich habe auch Patienten aus unserer Nachbarschaft, die kein Geld haben, und ich mache es immer umsonst. Ich habe solche Freude daran – es macht es eigentlich einfacher, sich um jemanden zu kümmern, wenn es kein wirtschaftliches Belohnungssystem gibt.

    Das gibt euch also die Freiheit, Hausbesuche zu machen?

    Monika: Auf jeden Fall. Zum Beispiel besuche ich oft eine Mutter zu Hause mit ihrem neuen Baby. Man bekommt einen ganz anderen Eindruck von beiden, und man trinkt eine Tasse Tee zusammen und spricht darüber, wie es mit dem Füttern läuft – es ist viel weniger formell. Ich werde dasselbe tun, wenn eine Mutter am Wochenende ein krankes Kind hat, und natürlich für Patienten, die älter sind – ab einem gewissen Punkt kommen sie eigentlich gar nicht mehr zu mir in die Praxis, ich mache dann nur noch Hausbesuche. Natürlich ist alles viel bequemer in der Praxis, aber ich denke, es zeigt, dass jemand einem wichtig ist, wenn man zu ihm nach Hause kommt.

    Milton: Man lernt auch viel darüber, was los ist – zu sehen, wie die Familie mit dem Patienten umgeht, ob die Nachbarn ihn unterstützen, ob das Haus schmutzig oder übermäßig sauber ist.

    Monika: Wenn ein Patient in die Notaufnahme muss oder einen Spezialisten aufsucht, gehen wir oft mit. In solchen Situationen ist es unsere Aufgabe, die Fürsprecher unserer Patienten zu sein. Oft sind die Spezialisten sehr überrascht, dass die Patientin ihren eigenen Arzt mitbringt, aber im Allgemeinen sind sie dankbar, und wir bekommen auf diese Weise sicherlich eine viel bessere Versorgung.

    Monika Mommsen with a mother and newborn

    Monika Mommsen mit Mutter und Neugeborenem

    Technik und Medizin

    Im Laufe der Jahrzehnte, die ihr praktiziert habt, haben Forscher immer leistungsfähigere Technologien entwickelt, von Fruchtbarkeitsbehandlungen über experimentelle Krebsmedikamente bis hin zur Lebenserhaltung, die Menschen jahrelang am Leben erhalten können. Was haltet ihr von der Technisierung der Medizin?

    Milton: Richtig eingesetzt, können viele der neuen Technologien ein großer Segen sein. Aber so oft dient die Technologie dem Profit, nicht dem Patienten. Die Medizin war früher ein Beruf, aber sie hat sich zu einem Geschäft entwickelt – so offen, so unverhohlen. Die sogenannte Gesundheitsindustrie wird von oben nach unten durch den Mammon angetrieben. (Über die Pharmafirmen rede ich hier überhaupt nicht.) Also führen die Ärzte am Ende zu viele Tests und Behandlungen durch, die nicht wirklich den Patienten zugutekommen. Die Versicherung deckt oft große Operationen und teure Medikamente ab, aber nicht die tägliche Pflege, die beispielsweise für einen älteren Menschen weitaus wertvoller wäre als ein dramatischer Eingriff.

    Technologie wird so oft in den Dienst des Geldes gestellt, nicht im Interesse des Patienten.

    Ein verwandter Faktor beim Einsatz von Technologie ist der starke Drang der Ärzte, eine Krankheit zu überwinden – „den Kampf zu gewinnen“, indem sie den Patienten heilen. Natürlich kann uns dieser Antrieb motivieren, unser Bestes zu geben, um jemandem zu helfen. Sie kann aber auch die Entscheidungsfindung des Arztes negativ beeinflussen, wenn das „Gewinnen“ wichtiger wird als das Wohl des Patienten. Zum Beispiel starb meine Schwiegertochter vor drei Jahren an Krebs. Bei ihrem letzten Besuch bei einem Onkologen wurde sie mit ein paar barschen Worten „Ich habe Ihnen nichts mehr zu bieten“ abrupt entlassen. Der Onkologe erkannte, dass er nicht mehr „gewinnen“ konnte und hörte von diesem Moment an auf, sich um die Patientin zu kümmern. Sie und ihr Mann gingen weg und fühlten sich am Boden zerstört.

    Aber es gibt immer noch etwas, was wir für einen Patienten tun können. Das erfuhr ich schon früh, nachdem ich in der Gemeinschaft zu praktizieren begann, als eine Mutter ein Kind mit hohem Fieber zu mir brachte. Ich überprüfte ihn – alles war in Ordnung; es war nur eine Virusinfektion, die ihren Lauf nehmen würde, und der Junge war nicht in Gefahr. Ich sagte zur Mutter: „Er braucht keine Antibiotika, hier gibt es nichts mehr zu tun.“

    Sie stemmte die Hände auf ihre Hüften und sah mich mit einem durchdringenden Blick an und sagte: „Ist das alles, was sie dir in der Uni beigebracht haben? Was dieses Kind braucht, ist Aspirin, Saft und Liebe. Sag mir nicht, dass es nichts mehr zu tun gibt!“ Und sie hatte Recht – wir können nicht immer Heilung anbieten, aber wir können immer Fürsorge und Pflege anbieten.

    Monika: Technologie kann uns die Illusion geben, dass wir die Kontrolle über alles haben. Doch als Menschen müssen wir akzeptieren, dass nicht alles so ist, wie wir es uns wünschen. Zum Beispiel bin ich dafür, einer Frau zu helfen, die Probleme hat, Kinder zu empfangen, aber es gibt eine Grenze. Wie kann es richtig sein, In-Vitro-Fertilisation anzuwenden, wenn sie zu so vielen tiefgefrorenen, unerwünschten Embryonen führt? Natürlich gibt es unzählige Formen der Medizintechnik, für die ich dankbar bin. Aber es gibt einen Punkt, an dem man aufhören muss.

    Ein technologiezentrierter Ansatz in der Medizin stört auch die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Ich war kürzlich bei einer Augenärztin, und abgesehen davon, dass sie mich vielleicht zweimal anschaute, verbrachte sie ihre ganze Zeit am Computer. Wir verlieren den unschätzbaren Wert des Untersuchens, des Berührens eines Patienten.

    Milton: Dieses Thema wurde kürzlich in einem Artikel über Dr. Abraham Verghese, Professor für Innere Medizin an der Stanford University, behandelt, der seine eigenen Erfahrungen als Krankenhauspatient beschrieb. Zu oft waren die Ärzte und Krankenschwestern mit Monitoren, Laborberichten und Bildgebung beschäftigt. Er meinte: „Ich erhielt Pflege, fühlte mich aber nicht umsorgt.“

    Monika: Auch am Ende des Lebens, wenn es eigentlich nichts gibt, was man tun kann, weil die Patienten sterben – wenn sie Schmerzen haben: berühre sie, untersuche sie! Wie wichtig das ist, erfuhr ich von meiner Schwester, die vor einigen Jahren an metastasierendem Krebs starb. Als ich sie untersuchte, fühlte sie, dass ich sie verstand und ihr zuhörte, dass ich ihre Sorge ernst nahm. Ich war ehrlich und sagte: „Ja, der Tumor wächst.“

    Medizin und Glaube

    Einige Christen scheinen zu glauben, dass es einen Widerspruch zwischen dem Vertrauen in die Medizin und dem Glauben an das Gebet gibt. Seht ihr das als Konflikt?

    Monika: Überhaupt nicht. Ich denke, es muss immer zusammenpassen. Ich bete oft, bevor ich jemanden sehe, besonders in Situationen, in denen ich nicht weiß, was ich tun soll oder Schwierigkeiten habe, so dass sich bei der Begegnung nicht meine Frustration zeigt, sondern Geduld und Liebe. Es ist ein Gebet sowohl für mich als auch für den Patienten, für inneren Frieden.

    Milton: Es gibt absolut keinen Konflikt, wenn man Gott um Heilung bittet und gleichzeitig ein Werkzeug wie die Medizin verwendet. Im Vaterunser bitten wir um unser tägliches Brot, aber die Tatsache, dass wir für unsere Nahrung gebetet haben, hält uns nicht davon ab, Getreide anzubauen und zu kochen, um Mahlzeiten auf den Tisch zu bringen. Wir tun beides: beten und handeln.

    Was ist mit Krankheiten, die sowohl eine physische als auch eine emotionale oder gar spirituelle Komponente beinhalten?

    Milton: Nun, jede Krankheit oder gesundheitliche Beschwerde hat einen spirituellen, emotionalen oder psychiatrischen Aspekt – ob Kopfschmerzen, Asthma, Krebs oder eine schwere Infektion. Entscheidend ist die Einstellung eines Menschen zu seiner Krankheit. Vielleicht brauchen wir medizinische Hilfe, um das Problem zu überwinden, aber wir können die innere, emotionale und spirituelle Seite nicht vernachlässigen.

    Monika: Chronische Kopfschmerzen oder chronische Schmerzen gehören oft zu dem, worüber wir sprechen – die Untersuchungen zeigen keinen Befund, wir können nicht erkennen, was vor sich geht, und wir finden vielleicht kein Medikament. Dann müssen wir einen Weg finden, solchen Patienten zu helfen, ohne sie abzustempeln oder ihnen zu misstrauen. Für sie kann dies bedeuten, dass sie lernen müssen, den Schmerz zu akzeptieren, was nicht einfach ist. Wir müssen zu ihnen stehen und ihnen glauben, weil wir ihren Schmerz nicht kennen.

    Natürlich sind psychische Störungen oft nicht ausschließlich medizinischer Natur. Ich erinnere mich an einen meiner Patienten, ein junges Mädchen mit Magersucht, das definitiv medizinische Probleme hatte, die wir behandelt haben. Aber das Wichtigste, was ich für sie tun konnte, war ihr zu sagen, dass ich an sie glaubte, aber dass sie die Entscheidung treffen musste, ihre Krankheit zu überwinden – niemand konnte es für sie tun. Als sie das endlich tun konnte, machte sie große Fortschritte in ihrer Genesung.

    Die Einstellung zum Leben und zu den Beschwerden ist äußerst wichtig. Wir können Schmerzen nicht abschaffen. Sie gehören zum Leben, besonders, wenn man älter wird.

    Dem Ende des Lebens ins Auge sehen

    Ihr habt viele Menschen beim Sterben begleitet. Wie kann man einem Menschen sagen, dass er oder sie nicht mehr lange zu leben hat?

    Milton: Auf jeden Fall muss man offen und ehrlich sein. Wir lügen den Patienten nie an.

    Monika: Und eigentlich versuchen wir, dieses ehrliche Gespräch früh genug zu beginnen, bevor eine Diagnose gestellt wird. Wenn Patienten im Alter von siebzig oder fünfundsiebzig Jahren zur Routineuntersuchung kommen, werde ich mit ihnen über das Ende ihres Lebens sprechen. Ich werde fragen: „Hast du jemals mit deinem Ehepartner oder deiner Familie über deine Wünsche gesprochen? Hast du dir überlegt, was wir tun sollen, wenn du durch einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt plötzlich nicht mehr kommunizieren kannst? Möchtest du eine Behandlung im Krankenhaus, eine Betreuung zu Hause oder ein anderes Arrangement? Hast du jemandem eine Vollmacht erteilt, der in diesem Fall für dich entscheiden kann?“ Dieses Gespräch kann zu einem sinnvollen Gespräch über das Leben führen – oft haben Patienten nicht darüber nachgedacht oder wollten erst zu einem späteren Zeitpunkt darüber nachdenken, und das ist eine Gelegenheit für sie, es zu tun.

    Es gibt absolut keinen Konflikt, Gott um Heilung zu bitten und gleichzeitig Medizin zu benutzen.

    Wenn dann jemand mit einer potenziell tödlichen Krankheit wie Krebs diagnostiziert wird, werden wir uns in der Regel mit dem Patienten, seiner Familie und einem Seelsorger treffen. In diesen Gesprächen, wie Milton sagte, ist Ehrlichkeit wirklich wichtig – auch Ehrlichkeit im weiteren Verlauf, besonders wenn man sich dem Ende nähert. Natürlich haben wir keine Ahnung, wann jemand sterben wird, und ich bin sehr vorsichtig geworden, eine Prognose abzugeben. Aber wenn man sehen kann, dass das Ende nah ist, sagen wir es der Familie offen – oft merken sie nicht, dass sie nur noch ein paar Stunden oder Tage zu leben haben.

    Ich habe es vor etwa zwölf Jahren mit einem älteren Paar erlebt. Der Mann hatte mit ziemlicher Sicherheit einen Schlaganfall erlitten und war sehr erregt; wir konnten nicht mehr mit ihm kommunizieren. Ich setzte mich mit seiner Frau zusammen und sagte: „Ich glaube, dein Mann stirbt.“ Das war ein riesiger Schreck für sie, aber dann sagte sie: „Danke, vielen Dank. Ich hatte keine Ahnung. Und jetzt werde ich wirklich jede Minute mit ihm verbringen.“ Eine Woche später war er tot.

    Milton: Es ist so einfach für Ärzte, sich in Laborwerten und -daten, Berichten und Konsultationen, Telefonaten und Plänen, Behandlungen und Medikamentendosen zu vergraben; wir können uns so sehr darin verstricken, dass wir vergessen, dem Ehemann zu sagen: „Sie liegt im Sterben.“

    Milton Zimmerman with a longtime friend and patient

    Milton Zimmerman mit einem langjährigen Freund und Patienten

    Milton: Jeder Fall ist anders, aber wir versuchen, mit dem Patienten im Gebet nachzudenken: Was will Gott von uns? Was sollen wir tun? Wie weit sollten wir mit aggressiven Behandlungen gehen? Wenn es eine gute Wahl gibt, werden wir uns für sie entscheiden. Aber an einem bestimmten Punkt ist es eine der Aufgaben des Hausarztes, dem Patienten zu helfen, zu erkennen, wann eine Behandlung am Ende mehr schadet als nützt. Der Patient trifft die Entscheidung, aber es ist unsere Aufgabe, ihm die Informationen zu geben, die er braucht.

    Wir können Schmerzen nicht abschaffen. Sie gehören zum Leben, besonders, wenn man älter wird.

    Ich sehe einige unserer armen Nachbarn, die alle möglichen nutzlosen und vergeblichen invasiven Behandlungen im Krankenhaus bekommen, und mir tut es weh, wenn ich an all die unnötigen Schmerzen denke, die sie durchmachen müssen, um zu sterben. Inwieweit spielt dabei das Gewinnstreben der Gesundheitsindustrie eine Rolle? Man wünscht sich das nicht, man hofft es nicht, aber Tatsache ist, dass mit vielen dieser Behandlungsmethoden sehr viel Geld verdient wird.

    Monika: Palliativmedizinische Maßnahmen anstelle einer Behandlung bedeuten auch nicht, dass man „aufgibt“. Im Gegenteil, neuere Forschungen legen nahe, dass Krebspatienten, die sich für Palliativmedizin entscheiden, oft länger und besser leben als Menschen, die eine Chemotherapie bekommen. Egal, ob ein Patient sich für eine Chemotherapie oder eine Operation entscheidet oder darauf verzichtet, ich werde ihn gleichermaßen unterstützen und begleiten.

    Am Ende ist, wie das Neue Testament sagt, der Tod der letzte Feind. Eines Tages werden wir uns alle damit abfinden müssen. Wenn dieser Moment kommt, ist es wichtig, dass ein Mensch in einer friedlichen Umgebung ist – Frieden zwischen uns als Arzt und Patient, Frieden in der Familie des Patienten und Frieden in der Gemeinschaft um sie herum. Wenn es jemand ist, der ein erfülltes Leben gelebt hat, kann es eine zutiefst schöne Erfahrung sein, so schwierig es auch sein mag.

    Milton: Das ist sehr richtig. In einem solchen Moment anwesend zu sein, erweitert mein Leben und vergrößert meine Liebe, meine Liebe zu Jesus. Ich werde nie einen meiner Patienten vergessen, der an Lungenkrebs gestorben ist. An seinem letzten Morgen schaute er aus dem Fenster und sah Venus, den Morgenstern. Sein Sohn und ich haben ihn darauf hingewiesen: „Schau dir den Morgenstern an, wie hell er heute ist!“ Und er schaute hinüber, sah es, lächelte und starb. Einfach so.

    Wie man ein guter Arzt wird

    Wie hat sich eure Herangehensweise an die Medizin verändert?

    Milton: Ich habe gelernt, dass Menschen zu dienen, weil man sie liebt, alle Ideale von Professionalität und humanistischer Ethik einschließt und übertrifft. Zu oft ist Professionalität ein wenig wie Diplomatie: Diplomatie ist, höflich zu lügen, und in ähnlicher Weise kümmert sich der Profi um seine Patienten, als ob er sie lieben würde. Wenn man sie wirklich liebt, erfüllt und übertrifft man professionelle Standards.

    Monika: Ich stimme zu. Als ich mit dem Medizinstudium begann, schrieb mir mein Vater, dass ich es ganz als Dienst am anderen tun sollte, in der gleichen Demut, die das Beispiel Jesu zeigt, der seinen Jüngern die Füße wäscht. Ein Arzt zu sein, sollte nichts mit dem eigenen Ego zu tun haben.

    Man muss lernen, den ganzen Menschen zu sehen, nicht nur die medizinische Diagnose.

    Zuhören ist wirklich wichtig. Über psychische Krankheiten habe ich das meiste von meinen Patienten gelernt – zum Beispiel um zu verstehen, wie es ist, an Depressionen zu leiden. Ich hatte eine Patientin in den Vierzigern, die eine bipolare Störung hatte, und sie erzählte mir, wie es sich anfühlte – eine viel bessere Beschreibung als aus einem Lehrbuch.

    Ich nehme mir viel mehr Zeit mit meinen Patienten als am Anfang. Ich versuche auch, mehr Mitgefühl zu haben. Verurteilen Sie sie nicht so schnell. Glauben Sie an den Patienten. Glauben Sie an das, was er oder sie sagt und fragt, auch wenn klar sein mag, dass es nicht wirklich eine medizinische Notwendigkeit ist.

    Welchen Rat würdet ihr Medizinstudenten geben, die sich darauf vorbereiten, heute Medizin zu praktizieren?

    Milton: Lernt von euren Patienten. Vor 65 Jahren wurde mir im zweiten Jahr des Medizinstudiums gesagt: „Verbringe so viel Zeit wie möglich auf der Station mit Patienten. Lass dich nicht in Büchern versinken.“ Das ist immer noch der Fall, obwohl es hier und da vergessen worden ist.

    Zweitens, habt keine Angst, Medizin im Kontext des Glaubens zu praktizieren – das öffnet mehr Türen und Möglichkeiten zur Heilung als der Versuch, Medizin ohne Glauben zu praktizieren. Glaubt also, betet, studiert die Bibel und die Lehrbücher und lasst die Technologie nicht zu einer Barriere zwischen euch und dem Patienten werden. Arbeitet mit der Familie, mit dem Pfarrer und der Gemeinde – eine Gemeinde kann ein fantastisches Netz sozialer Unterstützung sein.

    Wir als Ärzte helfen nur bei einem Heilungsprozess, den Gott bewirkt.

    Monika: Demut ist wichtig. Wenn ihr aus dem Medizinstudium kommt, seid ihr jung und voller Energie - und ihr habt auch eine Menge Arroganz in euch hineingepumpt, besonders wenn ihr akademisch gut wart. Ihr müsst diesen Stolz ablegen, denn Demut bringt Mitgefühl. Ihr müsst lernen, den ganzen Menschen zu sehen, nicht nur die medizinische Diagnose. Eine Person ist so viel mehr als nur die medizinischen Aspekte: die Seele und der Geist, der ganze soziale Aspekt der Familie.

    Und auch: viel Spaß. Zum Beispiel, wenn jemand mit unerklärlichen chronischen Schmerzen kommt: Zuerst muss man dem Patienten glauben – aber dann muss man Humor finden! Wenn jemand eure Praxis verlässt, sollte er ermutigt worden sein. Ich hatte eine Frau mit einer langwierigen psychischen Erkrankung, und mein Ziel war es, bei jedem Termin gemeinsam zu lachen. Eine andere Patientin, eine ältere Frau mit fortschreitender Alzheimer-Krankheit, war auch meine Nachbarin, also sah ich sie jeden Tag. Manchmal war sie sehr aufgeregt, aber wenn man etwas zum Lachen finden konnte, durchbrach es immer die Barrieren ihrer Krankheit.

    Medizin zu praktizieren ist ein großes Privileg: jemanden zu begleiten, in sein Leben einzutreten, wie es nur wenige Menschen können, außer vielleicht ein Seelsorger. Je länger ich das gemacht habe, desto mehr habe ich es geliebt. Und ich hatte das große Glück, all die Jahre in einer Gemeinschaft praktizieren zu können, die mich dabei unterstützt.

    Milton: Wenn wir uns um jemanden kümmern, helfen wir als Ärzte nur bei einem Heilungsprozess, den Gott bewirkt. Das zu wissen, verändert unsere Einstellung zu unserer Arbeit – das ist es, was der Medizin ihren Wert verleiht.


    Das Interview wurde am 22. Mai 2018 von Peter Mommsen geführt. Es ist zuerst in Plough Quarterly erschienen.

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    Plough ist der Verlag des Bruderhofs, einer Gemeinschaft von Menschen, die gemeinsam Jesus nachfolgen wollen.

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    Von

    Dr. Milton Zimmerman und Dr. Monika Mommsen leben auf dem Woodcrest-Bruderhof in Rifton, USA

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