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Das Gewissen und seine Wiederherstellung
von Eberhard Arnold
Dienstag, 26. April 2022
Im Jahr 1932, in den letzten Tagen der Weimarer Republik veröffentlichte Eberhard Arnold ein Buch über das Gewissen und dessen Verhältnis zu Politik und Gesellschaft. Der Artikel ist diesem Buch entnommen.
Das Gewissen ist als innerste Empfindung des menschlichen Geistes ein Organ von außerordentlicher Zartheit und Empfindlichkeit. Es ist wie ein überfeiner Messapparat durch jede Witterung beeinflussbar, bei jeder Erschütterung aufs Äußerste gefährdet. Es ist nicht nur die Veräußerlichung des Lebens, es ist nicht nur das unbedachte Öffnen aller Tore für jeden Wind und für jede Temperatur der Zeitstimmung, was das Gewissen aus seinem Gleichgewicht zu bringen droht.
Ebenso stark kann die gedanklich geistige Entwicklung des Inneren in die Irre führen. Selbst religiöser Aufschwung kann finsterste Umnachtung bringen. Auch auf den heiligsten Gebieten ist das Gewissen ein unsicherer Faktor. Das Gewissen bleibt krankhaft, solange es nicht durch die Kraft des hingegebenen Lebens Jesu geheilt ist. Das Gewissen bleibt in der Gebundenheit an falsche Ideale als an irrige Menschengedanken unzuverlässig und entartet, bis es in dem wahren und wesenhaften Wort Gottes, in dem lebendigen Geist Jesu Christi seine Freiheit erlebt und behauptet.
Die Krankhaftigkeit des verirrten Gewissens äußert sich in geistesverwirrender Heftigkeit feindseliger Vorwürfe und vernichtender Selbstanklagen. Hier ist die Reaktion des Gewissens fehl am Platz. Es ist die typische Wirkung aller falschen Ideale und Ziele, dass sie dem Gewissen der Hauptsache gegenüber jede Sicherheit nehmen. Sie alle heften es an Nebendinge. Ohne Treffsicherheit zuckt die irritierte Kompassnadel hin und her, solange neben dem magnetischen Pol andere Anziehungskräfte Geltung haben.
Diese Unruhe erzeugt ein flackerndes Urteil, das wie ein Raubvogel Beute sucht. Es gibt Fälle, in denen ein krankes Gewissen keinen Gedanken aufkommen und keinen Schritt geschehen lässt, ohne ihm mit schweren Bedenken und harten Urteilssprüchen entgegenzutreten. Eine solche Erkrankung erfüllt das ganze Leben mit Unlust und Kränkung, mit Selbstzerfleischung und Ungerechtigkeit.
Sie kann allein dadurch geheilt werden, dass das an sich selbst leidende Gewissen durch den Geist Christi seinen Freispruch erlebt. Wem viel vergeben ist, der liebt viel. Wer die Liebe erfährt, vergibt viel.
Dennoch muss der uralte, heute in neuer Form auftretende Versuch, die gesündesten Regungen des Gewissens als Erkrankung zu bezeichnen, die man missachten sollte, muss entschieden zurückgewiesen werden. Das Gewissen darf niemals betäubt oder verachtet werden. Es muss vielmehr zu heller Gesundung geführt werden, indem es von seinen falschen Zielen befreit und auf das Reich Gottes hingeleitet wird. Auf diese Weise findet eine neue Klärung und inhaltliche Ausrichtung statt, eine Befreiung und Erfüllung, die zu lebendiger Aktivität führt. Das gilt für alle Gebiete des Lebens, die das Gewissen umfasst. Am deutlichsten wird es für die öffentliche Verantwortung und für die berufliche Arbeit.
Das Gewissen muss auf das Reich Gottes hingeleitet werden.
Diese Befreiung schließt die Befreiung vom Eigentum, vom Blutvergießen und von der Lüge ebenso ein wie die Reinigung des sexuellen Lebens. Bis in Kreise hinein, die seit langen Zeiten eine gewisse moralische Instinktsicherheit bewiesen haben, ist während des [ersten] Weltkrieges und in seiner Folgezeit Geschäftsbetrug aller Art vorgedrungen. Politischer Mord in billig zu konstruierender Notwehr, leichtfertigste Bereitschaft zu Krieg, Bürgerkrieg und Brudermord haben bei mehr als der Hälfte des Volkes jede schlagkräftige Abwehrkraft des Gewissens gegen die Mächte der Hölle zerstört.
Dass sich in dieser Lage kaum hier und da eine wirkliche Beunruhigung über die Ungerechtigkeit des Mammons und Eigentums zeigt, die in Wahrheit jede Liebe und das ganze Leben abtötet, kann niemanden verwundern, der die Zeichen der Zeit versteht. Auch über die immer maßloser werdende Untreue, ja über die Unbeherrschtheit alles Begehrens darf man bei der offenkundigen Gewissensverwirrung der gesamten Bevölkerung nicht erstaunt sein. Die Masse ist in Bewegung. Die Menschheit dreht sich um ihren Wendepunkt. Mit größter Wahrscheinlichkeit führt diese entscheidende Bewegtheit zum Untergang. Bedrohlichste Anzeichen häufen sich auf allen Seiten. Das Gefährlichste ist die Bereitschaft geistiger Führer, die ständig wachsende Verworrenheit so verblüffend zu begründen, dass sich niemand mehr beunruhigt fühlt.
In Christus wird das Gewissen unser Freund, wie es vor ihm unser Feind war. Vorher musste es unser Leben verdammen. Nun aber sagt es „Ja“ zu dem neuen Leben, das uns in Christus gegeben ist. Durch die Gemeinschaft mit Christus von aller Unreinheit befreit, nimmt der Geist des Menschen die Zusicherung und Gewissheit auf, die in Jesus Christus gegeben ist. So wird das Gewissen als Christusgewissen zum Beauftragten Gottes.
Die Liebe als Agape ist der Weg Jesu. Diese Liebe ist einzigartig. Sie gibt eine klare Weisung. Sie ist Weg; und dieser Weg ist sehr deutlich vorgezeichnet. Jesus Christus führt in dem Erleben der Gottesliebe auf den höchsten und reinsten Gipfel der Willensenergie, der Erkenntnisklarheit und der Herzenskraft, die Freude ist. Er tut es nicht für uns selbst. Er will, dass wir die Ströme dieser ins Herz gegossenen Liebesmacht weiterleiten. Sie sollen die Erde überfluten. Sie sollen das Land erobern. Sie sollen das Herz Gottes offenbaren. Sie sollen die Ehre Gottes aufrichten.
Die Liebe verzichtet auf alles Eigene. Die Gerechtigkeit Christi führt keine Prozesse. Sie treibt keinen Zwischenhandel. Sie führt keine Geschäfte zum Nachteil des Nächsten. Sie verlässt allen eigenen Vorteil, opfert jedes Vorrecht und verteidigt kein Recht. Sie sitzt in keinem Schwurgericht, nimmt niemandem die Freiheit und fällt kein Todesurteil. Sie kennt keine Feinde und bekämpft niemanden. Sie zieht gegen kein Volk zu Felde und tötet keinen Menschen.
Und dennoch ist ihre Arbeit die aktivste Gerechtigkeit, der tätigste Friede und der wirksamste Aufbau. Die Summa Summarum alles dessen, was zu tun geboten ist, heißt Liebe: Liebe aus reinem Herzen, von gutem Gewissen und in unverfärbtem Glauben. Jesus hat dem Gewissen in der verantwortlichen Gottesgemeinschaft als in dem Wesen seines Reiches und seiner Gemeinde die freie Bahn der völligen Liebe gewiesen.
Auszüge aus dem Kapitel Die Gesundung des Gewissens aus Eberhard Arnolds Hauptwerk Innenland, 1936 posthum veröffentlicht.