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CheckoutIn einem Dorf am Ufer eines Flusses im alten Mittelengland lebten einmal drei Brüder. Der älteste war der Fährmann, der zweite der Müller und der dritte der Förster in den Waldungen des Lords, die im Norden an das Dorf grenzten. Sie waren also alle drei Männer von Ansehen und Bedeutung und für die damalige Zeit wohlhabend, hatten sie doch reichlich zu essen, dauerhafte Arbeit, saubere Häuser und eine gewisse Unabhängigkeit. Doch der Fährmann sang bei seiner Arbeit nie ein Lied, wie man dies von Fahrleuten im allgemeinen gewohnt ist; der Müller war nicht der fröhliche Müller, von dem uns die Lieder berichten, so dass es keine Freude bereitete, sein Korn zum Mahlen zu ihm zu bringen; und der Förster kümmerte sich um die herrlichen Wälder, ohne einen Blick oder ein Gespür dafür zu haben. Keiner von den dreien hatte eine Frau, die seine Tage mit Fröhlichkeit erfüllt hätte, oder einen Hund zur Gesellschaft, ja nicht einmal eine Katze schnurrte zur Winterzeit am Herd.
Der Lehnsherr war ein gerechter, mäßiger Mann, der keine ungerechten Abgaben erhob und mit seinen Nachbarn in Frieden lebte. Doch da er die meiste Zeit des Jahres fern am Hof des Königs lebte, brauchte er vertrauenswürdige Leute als Verwalter, Hausmeister und Aufseher seiner Ländereien. Er kannte die drei Brüder und traute jedem von ihnen zu, ihren Mitmenschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dem Fährmann, dass er angemessenes Fahrgeld erhob und über das Fischrecht am Fluss wachte; dem Müller, dass er die richtige Menge Getreide für die Kornspeicher des Lords einbehielt und den Leuten die ihnen zustehende Menge an Mehl zurückgab; und dem Förster, dass er die Wälder wohl behütete, Holz wie Wild, und dass er Wilderer mit Festigkeit und doch menschlich behandelte.
So floss das Leben im Dorf über lange Zeit dahin, und die drei Brüder lebten von einem Tag zum anderen und von einem Jahr zum anderen. Ihre Haare wurden von Silberfäden durchzogen, und ihre Schultern krümmten sich ein wenig , doch sie waren noch immer rüstig und stark und spürten weder die Feuchtigkeit in ihren Kniegelenken noch Kurzatmigkeit bei der Arbeit. Nie dachten sie an die Zukunft oder Vergangenheit, sondern nahmen jeden Tag so, wie er kam.
Einmal in der Woche, am Sonntag oder auch an Feiertagen, verließ der Förster seine Hütte und schlug den Weg zur Mühle ein; zusammen mit dem Müller ging er den Weg am Fluss entlang zum Fährmann; und zu dritt marschierten sie dann, ohne eine Wort zu sprechen, zur Kirche.
Danach saßen sie stumm bei einem Krug Bier und einer Wildbretpastete im Wirtshaus, das sie gemeinsam wieder verließen. Zuerst trennte sich der Fährmann von ihnen. Die beiden anderen Brüder gingen am Fluss entlang zurück, wo der Förster den Müller zurückließ und in seine einsame, gemütliche Hütte am Rande des Waldes heimkehrte.
So hielten sie es jahrein , jahraus, und so wäre es wohl weitergegangen bis ans Ende ihrer Tage. Doch sie waren, ohne es zu wissen, nicht vergessen worden. Ohne ihr eigenes Suchen hatte Einer nach ihnen gesucht.
In jenem Jahr gegen Ende der Erntezeit kam eine Nacht, in der der große Sturm losbrach. Drei Tage lang war die Luft dunkel und schwer gewesen, und seltsame weiße Seevögel waren über den Wiesen im Binnenland zu sehen. Die Nächte waren still und dumpf, die lebhaften Grillen schwiegen, und die Blätter hingen bewegungslos an den Bäumen. Die Buben, die für gewöhnlich auf der Dorfwiese umhertollten, hielten sich in der Nähe ihrer Häuser auf , und die Kleinen klammerten sich an Mutters Rock fest, als fühlten sie eine namenlose Furcht.
Am dritten Abend brach das Unwetter los: Zuerst türmten sich die Wolken hoch in der Luft zusammen und in den Baumwipfeln heulte der Wind ; da flüchtete sich alles in die Häuser. Mit Anbruch der Dunkelheit brach das Unwetter mit Sturm und Regen in voller Wucht herein.
Völlige Dunkelheit senkte sich nieder, und jedermann, gleichgültig wie stark er war, empfand seine eigene Bedeutungslosigkeit und wurde von Furcht vor dem Unbekannten gepackt.
Nun schritt der Förster in jenen sturmdurchtosten Tagen durch seine Wälder und notierte im Geist die abgestorbenen und sterbenden Bäume, die bei einem starken Wind umstürzen könnten. Dabei bemerkte er, wie still die Tiere waren und wie sich die Vögel versteckten und verstummt waren. Er war sich auch des tadellosen Zustandes seiner kleinen, niederen gemütlichen Hütte bewusst, die sich an den Rand des Forstes hinschmiegte. Zum
Glück hatte er sie aus Stein gebaut. Allerdings bedauerte er, dass er nicht schon längst eine große, abgestorbene Buche gefällt hatte, die hundert Schritte von seiner Hütte entfernt stand.
An dem Abend, als der Sturm losbrach, saß er drinnen, die Asche seines Herdes glühte schwach, und das Licht einer Kerze auf dem Tisch warf Schatten, die an den Wänden hin und her tanzten und flackerten. Voller Angst und Schrecken kauerte er auf einem Stuhl und horchte auf den Tumult draußen. Er dachte an die Bäume und an die Tiere im Wald, die kaum Schutz fanden; er dachte auch an seine Brüder und wie sie wohl zurechtkamen, und schließlich dachte er auch an die Menschen in seinem Dorf in ihren ärmlichen Hütten, und was wohl aus ihrer spärlichen Ernte werden würde. Ein schwacher Funke von Mitleid glomm in seinem Herzen auf - in diesem Augenblick hörte er das Kind weinen.
Zuerst wusste er über dem Heulen des Windes und dem Trommeln des Regens nicht, was er vernommen hatte. Doch da war es wieder , schwach und deutlich - das Weinen eines Kindes. Er erhob sich , ging zur Tür und blieb mit dem Griff in der Hand stehen.
»Ich kann da nicht hinausgehen «, dachte er bei sich. »Ich würde weggeblasen oder von einem fallenden Ast erschlagen. Ich bin ein alter Mann. Und welches Kind wäre wohl jetzt noch draußen? Bin ich denn von Sinnen?«
Doch als er noch mit sich selbst sprach, kam der Schrei von neuem. Darauf folgte ein lautes Krachen, das langgezogene dumpfe Dröhnen eines fallenden Baumes, und er wusste, dass die große Buche umgestürzt war. Er wartete wie erstarrt und spitzte die Ohren, doch kein weiterer Schrei war zu vernehmen . Da zögerte er nicht länger, riss die Tür auf, zog sie wieder hinter sich zu und stürzte in den Sturm hinaus auf den umgestürzten Baum zu. Keuchend arbeitete er sich durch das dunkle Tosen voran, bis er auf die zu Boden gestreckten Äste stieß. Er ließ sich auf die Knie nieder, tastete mit den Händen den Boden unter dem großen hingestürzten Stamm ab und rief : »Kleines, Kleines! Wo bist du? Ich bin da, um dir zu helfen. Kleines, antworte mir!«
Nach fieberhaftem Suchen fühlten seine Hände ein feuchtes Gesicht, und seine Hand spürte das flatternde Klopfen eines kleinen Herzens. Das Kind wurde von einem Ast zu Boden gedrückt. Er begann an dem Ast zu ziehen und zu zerren . Schließlich nahm er sein Messer vom Gürtel und hackte das Hindernis Stück um Stück ab; so befreite er nach und nach den kleinen Körper. Es war, als umgebe ihn ein seltsamer Schein, denn er konnte im Dunkeln sehen; als er das Kleine befreit hatte und es auf den Arm nahm, lag der Pfad klar vor ihm. Der Wind schien sich zu legen, und der Regen klatschte nicht mehr so heftig nieder. Der alte Mann trug das Kind in die Sicherheit seines Heims. Sobald er drinnen war, legte er es neben den Herd und entfachte eilends die Glut in der Asche zu neuem Feuer. Er zog dem Buben die nassen Sachen aus, wickelte ihn in seinen Mantel und rieb ihm die kalten Hände und Füße. Er suchte behutsam ab, ob irgendwelche Knochen gebrochen waren , und wischte vorsichtig das Blut von einer langen Schramme über der Augenbraue. Nach einiger Zeit seufzte das Kind und erwachte; es regte sich, schaute sich um und lächelte den Förster an. Und mit diesem Lächeln schien sich der Sturm zu legen, das Trommeln des Regens hörte auf, und Friede kehrte ein.
Das Kind drehte sich auf die Seite, kuschelte sich in den alten Mantel und schlief ein. Der Förster hielt neben ihm Wache, blickte auf das schmale, ruhige Gesicht, das wirre Haar und die braunen Händchen, bis auch er von Erschöpfung an Leib und Seele übermannt wurde und einschlummerte.
Er erwachte vom gleißenden Licht der Sonne und dem Singen der Vögel. Die Türe stand weit offen , und der kühle Morgenwind strömte herein. Der Herd war leer, nur sein alter Mantel und der blutverschmierte Lappen hingen da. Die zerdrückten kleinen Kleidungsstücke, die dort zum Trocknen gehangen hatten , waren ebenso verschwunden wie das Kind selbst. Er stürzte zur Tür und rief laut in den frischen Morgen hinaus: »Kleines , Kleines! Wo bist du ?« Doch nur die Vögel antworteten, die Eichhörnchen hüpften zwischen den umgestürzten Bäumen umher, und die Kaninchen sprangen über das Gras.
Da machte er sich auf, die Verwüstung in seinem Fürst anzuschauen, und er dachte an seine Brüder und die Leute im Dorf. Tiefes Mitleid durchflutete ihn und Freude, dass er noch lebte und ihnen helfen konnte. Er eilte den Weg zum Dorf hinab.
Der Müller hatte in jenen trüben Tagen fieberhaft gearbeitet, um das Korn einzubringen, bis die ganze Ernte des Lords sicher in der großen steinernen Mühle untergebracht war. In der Nacht, als der Sturm losbrach, legte er sich früh zu Bett, zog sich die Decke über den Kopf, um das Wüten des Sturmes nicht zu hören, und betete, dass ihm die Ziegel nicht vom Dach fliegen mochten. Dann sank er in einen ruhelosen Schlummer. Er träumte, er sei wieder ein Kind und spiele mit seinen Brüdern auf der Wiese. Dabei sah er, wie er im Zorn seinen jüngeren Bruder schlug und ihn ins Gras schleuderte, wo dieser weinend liegenblieb. Im Traum fühlte er einen Anflug von Reue für den lieblosen Schlag, den er seinem kleinen Bruder versetzt hatte. In diesem Augenblick erwachte er und hörte tatsächlich durch das Toben des Sturmes ein Kind weinen.
Er lag zusammengekauert im warmen Bett und horchte, und in seinem Inneren erhob sich ein Zwiespalt. Was sollte er, ein alter Mann, tun? In einem solchen Sturm Kopf und Kragen riskieren? Hatte er seine Sinne nicht mehr beieinander? Doch dann war das Weinen wieder zu vernehmen, schwach und mitleiderregend , und traf sein Herz von neuem. So erhob er sich und eilte zur Tür. Der Wind drückte dagegen, und der Regen stürzte in Bächen herab, doch er stieß die Türe auf und ließ sie hinter sich zufallen. Dann horchte er in der aufgewühlten Dunkelheit nach dem Schrei des Kindes und vernahm ihn in einiger Entfernung. Auf den Knien kroch er voran, um sich vorzutasten, und rief: »Kleines, Kleines, ich komme! Hab keine Angst, ich komme .« Als er endlich ganz heiser vom Rufen mit zerschundenen, schmerzenden Knien und blutenden Händen einen Felsbrocken am Weg fand, saß da eine kleine, zusammengekauerte Gestalt und schluchzte heftig. Bei der Berührung seiner Hände schlangen sich die kleinen Ärmchen um seinen Hals, der nasse, strubbelige Kopf lag auf seiner Schulter, und er spürte das stoßweise Schluchzen , das die kleine Gestalt erschütterte. »Hab keine Angst, Kleines, du bist in Sicherheit«, brummte er und erhob sich, denn er sah nun den Weg auf seltsame Weise klar vor sich, und Wind und Regen schlugen ihm nicht mehr so stark ins Gesicht. Sicher trug er den Jungen nach Hause, legte ihn behutsam auf sein Bett, zog ihm die nassen Kleider aus und wickelte ihn in seine Decke ein. Sorgfältig wischte er das Blut von der Stirn des Kindes, die von einem langen Kratzer durchzogen war. Dann brachte er ihm eine heiße Brühe zu trinken; allmählich ließ das Schluchzen nach, und sein stoßweises Keuchen ging in ein gleichmäßiges Atmen über. Es blickte dem Müller ins Gesicht und lächelte, und mit diesem Lächeln erstarb der
Wind, der Regen hörte auf, und Friede senkte sich auf die Welt. Dann legte sich das Kind nieder , kuschelte sich in die Decke und schlief ein. Der Müller saß lange an seiner Seite und wachte; schließlich legte er sich neben seinem Herd nieder, seinen aufgerollten Mantel unter den Kopf geschoben, und fiel in Schlaf, erschöpft an Leib und Seele.
Als er erwachte, stand die Türe weit offen, und das Sonnenlicht der ganzen Welt strömte herein. Die Vögel sangen dem frischen, neugeschaffenen Morgen ein Lied. Der Müller sprang auf und eilte zum Bett, aber das Kind war verschwunden. Auch die kleinen, zum Trocknen aufgehängten Kleidungsstücke waren weg. Nur durch eine Kuhle war noch zu sehen, wo es gelegen hatte, und ein blutiger Lappen und eine leere Tasse waren noch da. Er lief vor die Tür und rief: »Kleines, Kleines, wo bist du?« Doch nur der Gesang der Vögel antwortete ihm. Da sah er die Verwüstungen, die der Sturm angerichtet hatte, dachte an das zu Boden gedrückte und vernichtete Getreide der Dorfbewohner und die reiche Ernte, die sicher in seiner Mühle gespeichert war, und tiefes Mitleid erfüllte sein Herz. Er sah den Weg vor sich, den Weg ins Dorf; mit starken Händen und einem neu schlagenden Herzen lief er los, um zu helfen.
Der Fährmann war tagelang schlechter Laune gewesen. Der Fluss floss wild und düster dahin, fast an der Hochwassermarke, so dass er seine Fähre hoch aufs Ufer ziehen und an den stämmigsten Bäumen festzurren musste. Nicht einmal für alles Geld der Welt hätte er noch jemanden übergesetzt. Er saß auf der Bank vor der Türe, studierte den Himmel, überschlug seine Verluste und war ärgerlich und unzufrieden. An dem Abend, als der Sturm losbrach , ging er früh nach drinnen, verriegelte die schweren Fensterläden, setzte sich mit einem Krug Bier hin und horchte auf das Rauschen des Flusses, das Toben des Sturmes und das Trommeln des Regens.
Er dachte an seine Brüder und fragte sich, wie sie wohl zurechtkamen und ob sie sich auch in Sicherheit befänden wie er. Dann dachte er an das Dorf und seine Einwohner, an die Bauern mit ihren kleinen Feldern, die nun zerschlagen und vernichtet wurden. Und er erinnerte sich an den Mann und dessen Frau, die erst gestern am anderen Ufer gestanden und ihn gerufen hatten. Er sollte sie doch übersetzen, denn sie waren in der Stadt auf einer Hochzeit gewesen und wollten nun zu ihren Kindern heimkehren , ehe das Unwetter einsetzte. Doch in seiner Hartherzigkeit hatte er ihr Rufen nicht beachtet und war nach drinnen gegangen, und das Ehepaar hatte sich schließlich Flussaufwärts entfernt. Er fragte sich, wo sie wohl waren und wie es ihren Kindern ging. Das gab ihm einen Stich im Herzen; er empfand Reue bei dem Gedanken, dass er so kalt und hartherzig gewesen war und nur an die eigene Haut gedacht hatte. In diesem Augenblick hörte er ein Kind weinen .
Er setzte den Krug ab und spitzte seine Ohren, und wieder war das Weinen zu vernehmen. Er sprang erschrocken auf , denn der Schrei kam nicht aus der Nähe, sondern wurde durch den Wind vom anderen Ufer herübergetragen. Wie festgewurzelt stand er da und dachte:
»Was ist das für ein Schrei? Welches Kind ist in einer solchen Nacht draußen? Unmöglich! Das kann ich nicht! Ich müsste ja von allen guten Geistern verlassen sein !« Doch wieder drang das Weinen zu ihm, verzweifelt und klar. Er stand da, im Inneren noch aufgewühlt, dann hieb er mit der Faust auf den Tisch und rief : »Was bin ich doch für ein Narr!« und stürzte in die tobende Finsternis hinaus.
Durch das Unwetter draußen kämpfte er sich bis zum Ufer ; dort blieb er stehen und lauschte, ob das Weinen erneut zu hören sei, und als er es vernahm, konnte er auch erkennen, woher es kam - von Flussabwärts nahe bei der Windung. Das Stimmchen klang dünn und ganz verloren, aber deutlich. Er starrte angestrengt in die pechschwarze Dunkelheit, und dann, als ob der Mond für einen Augenblick zwischen den jagenden Wolken hindurchblinkte, erhaschten seine Augen Flussabwärts den schwachen Schimmer einer winzigen Gestalt, die sich an einer überhängenden Weide festklammerte.
»Großer Gott«, keuchte er, »das Kleine wird ertrinken, wenn ich mich nicht spute.«
Er stürzte am Ufer entlang zu der Stelle, wo er die Fähre gut festgebunden hatte. Im Dunkeln mühten sich seine Finger mit den Tauen und lösten sie eins ums andere; dann zerrte er die Fähre zum Ufer hinab, schob sie in den tobenden Fluss und sprang mit der Stange in der Hand auf sie. Sogleich wurde er von dem reißenden Strom fortgetragen. Fest stieß er mit der Stange auf den Grund, um das Hin- und Herschleudern des Bootes zu verhindern . Sooft er fühlte, dass die kräftige Stange den Grund berührte, dankte er und rief laut: »Kleines, halt dich fest! Kleines, ich komme !« Seine Schultern schmerzten, die Brust brannte und sein Atem ging keuchend. Fast schien es nicht zu gelingen, auf den Beinen zu bleiben und die Stange in den Händen zu behalten.
Doch er durfte nicht aufgeben! Ein letzter Stoß brachte ihn dann endlich ans andere Ufer, wo die Fähre sich an einem Baumstumpf verfing und um die Weide herumschwang. Er fasste den Körper des Kindes. Die kleinen Arme ließen los, und das Kind fiel bewusstlos zu Boden. Mit dem geretteten Kind in den Armen saß der Fährmann auf dem glitschigen , schwankenden Deck seiner Fähre und weinte vor Freude, Erleichterung und Erschöpfung. Das Weinen tat ihm weh, so ungewohnt war es für ihn, der seit seiner Kindheit keine Träne mehr vergossen hatte. Die Tränen strömten ihm über das Gesicht und tropften auf ein kleines weißes Gesicht, das an seiner Brust lag. Das Kind regte sich und erwachte aus seiner Ohnmacht. Es sah erstaunt auf und lächelte den Fährmann an. Und mit diesem Lächeln erstarb der wilde Sturm, und der Regen hörte auf; zwischen den Wolken schienen schwach die Sterne hindurch, und die Fähre schaukelte friedlich auf einem ruhigen Fluss.
»Nun wollen wir mal heimgehen , Kleines «, schnaufte der Fährmann. »Der Fluss ist wie durch ein Wunder ruhig, und am Himmel ist ein Glanz, dass ich den Weg leicht finde.« Er legte das Kind behutsam auf das Deck und griff wieder nach der Stange, stieß das Boot von der Böschung ab und trieb es mit sicheren Stößen über das Wasser ans andere Ufer. Nachdem er es festgebunden hatte, bückte er sich und nahm das nasse, zitternde Kind, eilte die Uferböschung hinauf und trug den leichten Körper nach Hause.
Dort legte er ihn beim Feuer auf einen Strohsack und zog ihm die nassen Kleider aus, wickelte ihn in seinen warmen Mantel und wischte behutsam das Blut von einer langen Schramme über der Augenbraue. Das Kind schlief ruhig ein, und der Fährmann kniete lange Zeit neben ihm und starrte ihm ins Gesicht. Schließlich seufzte er auf und nahm seine eigene schmerzhafte Müdigkeit wahr; er sank auf seinem Lager nieder und schlief ein.
Als er erwachte, stand die Türe weit offen und das Sonnenlicht eines neuen Morgens strömte herein ; er hörte den Ruf des Eisvogels über dem Fluss und den Gesang einer Lerche. Er sprang auf und lief zum Herd, doch das Kind war verschwunden. Neben dem Strohsack lag der blutige Lappen, mit dem er die Wunde abgetupft hatte. Die kleinen Kleidungsstücke, die er zum Trocknen aufgehängt hatte, waren ebenfalls fort. Er lief zur Türe und rief in die Morgenluft hinaus: »Kleines, Kleines, wo bist du?« Doch niemand antwortete. Die Enten paddelten friedlich auf einem Seitenarm in der Nähe des Flussufers, und der Eisvogel am anderen Ufer klapperte mit dem Schnabel. Er stand da und blickte auf die Verwüstungen, die der Sturm angerichtet hatte, seinen zerstörten Garten, die umgeknickten Bäume. Da dachte er an seine Brüder. Ob sie wohl noch lebten? Auch das heimgesuchte Dorf fiel ihm ein, und sein Herz brannte vor Mitleid. Dann schaute er seine Hände an, die fest und kräftig und geschickt waren, und dankte Gott dafür. Er machte sich auf den Weg zum Dorf mit dem Wunsch im Herzen, den Menschen zu helfen . Und als er so in Richtung Dorf marschierte, erblickte er plötzlich seine Brüder . Auf ihren Gesichtern lag ein Glanz, den er nie zuvor wahrgenommen hatte.
Die drei Männer trafen sich auf dem Weg und sahen einander an. Stumm fassten sie sich bei den Händen. Der Förster ergriff als erster das Wort: »In dieser Nacht, Brüder, hörte ich ein Kind weinen, und ich habe es gefunden.«
Der Müller unterbrach ihn : »Ich auch , Bruder.«
Und der Fährmann rief laut: »Und ich auch, meine Brüder. Am anderen Ufer war es, schon fast am Ertrinken, aber ich habe es noch rechtzeitig erreicht ... und als es lächelte, erstarb der Sturm ... doch heute Morgen war es fort.«
»Genauso war es bei uns«, sagte der Müller. Die Drei standen schweigend beisammen , vom Wunder erfüllt. Nach langer Zeit sprach der Förster: »Nun ist die Welt neu geworden.« Dann wandten sie sich um und gingen zum Dorf, um zu sehen, wie sie helfen könnten .
Dergroße Sturm hatte wirklich viel Unheil angerichtet und über Mensch und Tier den Tod gebracht. Drei Menschen waren gestorben, ein kleines Mädchen, das auf der Suche nach seinem vermissten Kätzchen draußen herumgestreift war, ein alter Mann, dessen Herz vor Angst ausgesetzt hatte, und ein junger Ehemann, der von einem fallenden Baum erschlagen worden war. Häuser waren zerstört, Obstbäume entwurzelt, Viehherden zerstreut und Felder vernichtet. Doch überall, wo die Brüder hinkamen , wurde der Kummer gemildert, neue Hoffnung keimte auf, und Wärme zog in die Herzen ein. Alle waren wie durch ein unsichtbares Band verbunden. Das wenige, was ihnen geblieben war, wurde freiwillig geteilt. Gemeinsam trauerten sie und begruben ihre Toten, gemeinsam nahmen sie den Wiederaufbau in Angriff.
Die drei Brüder sprachen beim Lehnsherren vor und schütteten ihm ihr Herz aus.
»In der Mühle ist reichlich Getreide gespeichert, aber die Dorfbewohner haben keines mehr«, sagte der Müller.
»Im Wald ist Brennbolz und Wild in Hülle und Fülle, doch in den Hütten ist der Herd kalt, und es gibt nichts mehr zu essen«, sagte der Förster.
»Im Fluss gibt es genügend Fische, aber es ist ja verboten zu angeln«, sagte der Fährmann.
Der Lehnsherr konnte ihren leuchtenden Gesichtern nicht widerstehen. »Wald, Fluss und Mühle gehören nun dem Dorf«, sagte er. »Ich brauche sie nicht.«
So kamen sie alle durch den ersten, harten Winter, der in Wahrheit ihr schönster war.
Von diesem Tag an sang der Müller bei seiner Arbeit, und die Kinder bettelten darum , das Getreide zur Mühle bringen zu dürfen. Der Förster hatte bei seinem Gang durch die Wälder stets ein Kind an seiner Seite, und gemeinsam entdeckten sie die Nester der Vögel, die Baue der Füchse und das Dickichte , in dem das scheue Rotwild seinen Unterschlupf fand. Jeder Baum wurde zum Freund. Der Fährmann fuhr die Kinder jeden Tag um den Preis eines Liedes über den Fluss hinüber und wieder zurück, und über dem Wasser erscholl ihr Singen und Lachen .
Die Menschen teilten, was sie hatten; keiner litt an Hunger oder Kälte, an Einsamkeit oder Angst; und das geschah aus ihrer neuen Freude heraus, denn es war wie ein neuer Morgen.
Fremde, die in das Dorf kamen, waren verblüfft und spürten , dass an diesem Ort etwas erreicht worden war, etwas, was sie an keinem anderen Ort vorgefunden hatten. Die Dorfbewohner konnten nur sagen: »Es war der große Sturm, als wir so viel leiden mussten. Damals kam diese Freude über uns, und die Welt war wie verwandelt.«
Die Brüder aber bewahrten das Kind in ihrem Herzen.
Diese Kurzgeschichte ist ein Auszug aus The Secret Flower von Jane Tyson Clement