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    Die drei Fragen

    von Leo Tolstoi

    Donnerstag, 14. Januar 2016
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    • Oswin Haas

      Ein wunderschönes Märchen. Ein wirklich christliches Märchen! Lasst uns so handeln wie der König in dieser rührenden Geschichte.

    Es war einmal ein König, dem kam der Gedanke, daß man niemals einen Fehlschlag erleiden könnte, wenn man stets im Voraus wüßte, wann jedes Ding zu beginnen sei, und mit welchen Menschen man sich abzugeben habe und mit welchen nicht, und welche der zu lösenden Aufgaben die allerdringendste wäre.

    Nachdem der König darüber nachgegrübelt hatte, ließ er im ganzen Lande verkünden, dass er denjenigen königlich belohnen wolle, der ihn lehren würde, wie man für jede Aufgabe die richtige Zeit finden könnte, welches die wichtigsten Leute seien, und welche Aufgabe am dringlichsten sei.

    Da erschienen beim König gelehrte Leute und gaben ihm die verschiedensten Ratschläge. Einige meinten man müsse sich ein Verzeichnis der Tage, der Monate und des Jahres machen und sich streng danach richten. Wieder andere behaupteten, daß es unmöglich sei, im voraus zu wissen, welche Aufgabe zu einer bestimmten Zeit zu erledigen sei. Man müsse einfach stets auf den Gang der Dinge achten, um im gegebenen Augenblick das Notwendigste zu tun. Die dritte Gruppe behauptete, daß, ein einzelner Mensch nicht in der Lage sei, immer die richtige Entscheidung zur rechten Zeit zu treffen. Deshalb brauche er weise Ratgeber und auf die er hören müsse und dann entsprechend handeln. Die vierte Gruppe meinte, daß es Dinge gäbe, die keinen Aufschub zuließen. In solchen Fällen habe man sofort eine Entscheidung zu treffen, ohne die Meinung seiner Ratgeber einzuholen. Um aber zu wissen, was in solchen Fällen zu tun sei, müsse man im voraus wissen, was geschehen würde, und das könnten nur Zauberer oder Wahrsager wissen.

    Ebenso verschieden waren auch die Antworten auf die zweite Frage. Die einen sagten, daß der König am dringendsten Mitregenten benötige, die ihm bei seinen Regierungsgeschäften behilflich wären. Die anderen behaupteten, daß für ihn Priester am wichtigsten seien, wieder andere meinten, daß Ärzte für den König die wichtigsten Leute darstellten. Die vierte Gruppe meinte, daß der König vor allem Soldaten brauche.

    Auf die dritte Frage, antworteten die einen, daß die Wissenschaften das Wichtigste auf Erden seien; die anderen meinten, das sei die Kriegskunst, und die dritten behaupteten, am wichtigsten sei die Gottesverehrung. Es stellte sich somit heraus, daß alle Antworten voneinander abwichen. Deshalb stimmte der König keiner der geäußerten Ansichten zu und gewährte niemand die erhoffte Belohnung.

    Um aber doch eine befriedigende Antwort auf seine Fragen zu erhalten, beschloss der König, sich an einen Einsiedler zu wenden, der wegen seiner Weisheit berühmt war. Der Einsiedler hauste in einem Wald, den er nie verließ, auch empfing er nur schlichte Leute. Deshalb kleidete sich der König möglichst einfach. Als er sich mit seinem bewaffneten Gefolge der Einsiedlerklause näherte, stieg er vom Pferd ab und ging ohne Begleitung der Behausung des Einsiedlers zu. Als der König bei dem weisen Einsiedler anlangte, war dieser mit dem Umgraben seiner Gartenbeete beschäftigt. Der Einsiedler, mager und schwächlich, begrüßte den König und setzte dann seine Arbeit fort. Jedes Mal, wenn er den Spaten in die Erde stieß, konnte er nur wenig Erde von der Stelle bewegen, und er keuchte schwer während seiner Arbeit.

    Der König trat zu ihm und sagte: »Weiser Einsiedler ich bin zu dir gekommen, um dich zu bitten, mir drei Fragen zu beantworten:
    Ich möchte von dir erfahren, welche Zeit man für jedes Unternehmen zu wählen hat, um den richtigen Augenblick nicht zu versäumen; welche Menschen die wichtigsten scheinen, und mit welchen man aus diesem Grunde sich vornehmlich abgeben soll; endlich, welche Geschäfte die wichtigsten sind und deshalb zuerst in Angriff genommen werden müssen.«

    Der Einsiedler hörte den König an, doch antwortete er ihm nicht, sondern spuckte in seine Hände und begann aufs neue, die Erde umzugraben. »Du bist übermüdet«, sagte der König, »reich mir den Spaten, ich werde jetzt für dich arbeiten.« »Ich danke dir«, erwiderte der Einsiedler und überreichte dem König den Spaten. Dann setzte er sich auf die Erde nieder. Nachdem der König zwei Beete umgegraben hatte, hörte er zu graben auf und wiederholte seine Fragen. Wiederum schwieg der Einsiedler still. Dann erhob er sich und langte nach dem Spaten. »Jetzt werde ich...«, sagte er — »und du erholst dich von deiner Arbeit.« Doch der König behielt den Spaten in der Hand und setzte das Umgraben fort.

    Es verging eine Stunde und dann eine zweite. Die Sonne verschwand bereits hinter den Bäumen, da steckte der König den Spaten in die Erde und sagte: »Weiser Mann ich bin zu dir gekommen, um Antwort auf meine Fragen zu erhalten. Wenn du sie nicht beantworten kannst, so sag es mir - und ich werde mich wieder nach Hause begeben.« »Sieh, da kommt jemand gelaufen«, sagte der Einsiedler, »wir werden sehen, um wen es sich handelt.«

    Der König wandte sich um und sah wie ein bärtiger Mann aus dem Walde gelaufen kam. Der Mann hielt mit beiden Händen seinen Leib. Unter seinen Händen quoll Blut hervor. Als der Mann den König erreichte, brach er zusammen. Seine Augen schlossen sich, und er blieb leise stöhnend, unbeweglich auf der Erde liegen. Der König öffnete mit Hilfe des Einsiedlers die Kleider des Mannes. Im Unterleib des Verletzten klaffte eine tiefe Wunde. Der König wusch die Wunde, soweit er es verstand, und verband sie mit seinem Taschentuch und einem Handtuch des Einsiedlers. Doch das Blut hörte nicht auf zu rinnen, und der König musste mehrere Male den von Blut durchtränkten Verband erneuern, wobei er jedes Mal die Wunde des Verletzten auswusch. Als das Blut gestillt war, kam der fremde Mann zu sich und bat um Wasser. Der König brachte frisches Wasser herbei und stillte den Durst des Verwundeten. Inzwischen war die Sonne untergegangen, und es war kühl geworden. Der König trug mit Hilfe des Einsiedlers den Verwundeten in die Klause, und sie legten ihn aufs Bett. Der Verwundete schloss die Augen und verhielt sich still.

    Der König war von der Arbeit und von der Pflege des Verwundeten so müde geworden, daß er sich auf die Schwelle der Klause hockte und in einen so tiefen Schlaf versank, daß er während der kurzen Sommernacht nicht einmal aufwachte. Als er am Morgen zu sich kam, konnte er sich lange Zeit nicht besinnen, wo er sich eigentlich befand, und wer dieser seltsame bärtige Mensch sei, der auf dem Bett lag und ihn mit seinen glänzenden Augen durchdringend betrachtete.

    »Verzeih mir«, sagte der bärtige Mann mit einer schwachen Stimme, als er bemerkte, daß der König erwacht war und auf ihn schaute. »Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Ich bin dein Feind, der geschworen hatte, sich an dir zu rächen, weil du meinen Bruder hinrichten ließest und mir mein Vermögen raubtest. Ich wußte, daß du allein auf dem Weg zum Einsiedler warst, und beschloss, dich auf deinem Rückweg zu töten, doch es verging ein ganzer Tag, und du kehrtest noch immer nicht zurück. Da verließ ich mein Versteck, um zu erfahren, wo du geblieben seiest, und stieß dabei auf deine Leibwache. Sie erkannten mich und fügten mir die Wunde zu. Es gelang mir, vor ihnen zu fliehen. Ich wäre verblutet, wenn du nicht meine Wunden verbunden hättest. Ich wollte dich töten, und du hast mir das Leben gerettet. Sollte ich am Leben bleiben, so werde ich, wenn du willst, dein treuster Knecht sein. Ich werde dir dienen und meinen Söhnen befehlen, das gleiche zu tun. Verzeih mir!«

    Merke dir also, daß der wichtigste Zeitpunkt stets nur der eine ist: der gegenwärtige Augenblick.

    Der König war sehr froh darüber, daß es ihm gelungen war, auf eine so leichte Weise seinen Feind zu versöhnen. Er verzieh ihm nicht nur, sondern versprach ihm, sein Vermögen zurückzuerstatten und ihm  außerdem seinen Arzt und seine Bedienten zu schicken. Nachdem der König sich von dem Verwundeten verabschiedet hatte, verließ er die Klause und blickte sich nach dem Einsiedler um, um an ihn zum letzten Mal seine Fragen zu richten, ehe er ihn verließ. Der Einsiedler befand sich draußen, kroch auf den Knien die gestern umgegrabenen Beete entlang und säte Gemüsesamen. Der König näherte sich ihm und sprach: »Weiser Mann ich bitte dich zum letzten Mal, mir meine Fragen zu beantworten!« »Du hast ja schon Antwort auf deine Fragen erhalten«, sagte der Einsiedler, wobei er auf seinen mageren Schenkeln hockend den vor ihm stehenden König von unten bis oben betrachtete. »Auf welch eine Weise ?« fragte der König. »Ganz gewiss«, antwortete der Einsiedler:

    »Hättest du gestern mit meiner Schwäche kein Mitleid verspürt und nicht statt meiner die Beete umgegraben, dann wärest du allein zu deiner Leibwache zurückgegangen und so hätte dich dieser Mensch überfallen, und du hättest es bereut, nicht bei mir geblieben zu sein. Somit war für dich der rechte Augenblick gekommen, als du an meiner Stelle das Umgraben der Beete besorgtest, und ich war für dich in diesem Augenblick der wichtigste Mensch, und deine wichtigste Tat war in jenem Moment, für mich Gutes zu tun. Und als jener zu uns gelaufen kam, war es gerade die rechte Zeit, seine Wunde zu verbinden. Hättest du ihm die Wunde nicht verbunden, so wäre er gestorben, ohne sich mir dir ausgesöhnt zu haben. Also war er in jenem Augenblick für dich der wichtigste Mensch. Und das, was du für ihn getan hast, war damals dein wichtigstes Geschäft!  Merke dir also, daß der wichtigste Zeitpunkt stets nur der eine ist: der gegenwärtige Augenblick. Er ist aus dem Grunde der wichtigste, weil wir nur im selben Augenblick über uns frei verfügen können. Und der allerwichtigste Mensch ist stets derjenige, mit dem du gerade zu tun hast, weil niemand weiß, ob er überhaupt noch mit irgendeinem anderen Menschen etwas vorhaben wird. Die wichtigste Handlung ist aber stets, Gutes zu tun, und dem Menschen ist allein aus diesem Grunde das Leben verliehen

    Von LeoTolstoy Leo Tolstoi

    Leo Tolstoi (1828-1910) hat als großer russischer Schriftsteller Weltruhm erlangt. Bekannt wurde er durch seine Hauptwerke Krieg und Frieden und Anna Karenina.

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