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    In Defense of Chastity

    Keusche Kreaturen

    Widerspricht die kirchliche Sexuallehre der Natur?

    von Erik Varden

    Donnerstag, 8. August 2024

    Verfügbare Sprachen: English

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    Gunnel Vallquist, die erste schwedische Übersetzerin Marcel Prousts, hat für mich ihr Tagebuch vom Zweiten Vatikanischen Konzil transkribiert, welches sie als Korrespondentin begleitete. Sie griff die Bibelpassage aus dem Brief an die Galater 5,1 auf: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ Dieser Satz stellte für sie, wie für jeden Christen, den Kern des Evangeliums und damit den Auftrag der Kirche dar. Befreit die Lehre der Kirche zu Sex und Keuschheit? Viele Menschen glauben, dass sie das nicht tut. Betrachtet man diese Frage näher, sind jedoch einige Unterscheidungen erforderlich.

    Wir als Gesellschaft sind uns nicht im Klaren, was „befreit zu sein“ bedeutet. Normalerweise denken wir bei Freiheit an den Spielraum, das zu tun, worauf wir Lust haben. Wir denken in Begriffen der „Freiheit von etwas“, nicht der „Freiheit zu etwas“. Im christlichen Sinne bedeutet Freiheit, befähigt zu sein, sich an etwas zu binden. Die biblische Sicht der menschlichen Natur, die in Christus zum Ausdruck kommt, sieht den Menschen als wesentlich beziehungsorientiert an, definiert durch Selbsthingabe und Engagement. Aus diesem Grund ist das ungehinderte Ausleben momentaner Neigungen keine Freiheit. Es ist Versklavung an eine Laune, die, empirisch gesehen, selten dauerhaftes Glück hervorbringt. Sinnlicher Nervenkitzel ist keine gute Grundlage, um ein Leben zu gestalten.

    Außerdem ist die Freiheit, von der Paulus spricht, von einer besonderen Art: jene, zu der uns Christus befreit hat. Diese Freiheit setzt eine Aufruf zur Selbsttranszendenz voraus. Die Endgültigkeit des Lebens beschränkt sich, biblisch gesprochen, nicht auf das gegenwärtige Wohlergehen. Ein solches Wohlergehen ist ein Gut, aber ein radikal unvollständiges.

    Die syrisch-christlichen Schriften sprechen vom „Gewand der Herrlichkeit“ – die von Gott gegebene Kleidung, die Adam und Eva gegen „Kleider aus Haut“ austauschten, als sie Eden verließen und in eine gefallene, zerbrochene Welt traten. Wenn wir unser gegenwärtiges Wohlergehen als das Wichtigste unserer Existenz betrachten, verharren wir in diesen „Kleidern aus Haut“ und bleiben in dem begrenzten, gefallenen Selbstverständnis stecken, das wir nach dem Sündenfall angenommen haben. Wir verlieren das „Gewand der Herrlichkeit“ aus den Augen, das allein den Sinn unserer Sehnsüchte offenbart und die Verheißung birgt, sie zu erfüllen.

    Expulsion from the Garden of Eden

    Thomas Cole, Expulsion from the Garden of Eden, Öl auf Leinwand, 1828.

    Heiligkeit, ewiges Leben, die Auferstehung des Leibes: Diese Begriffe spielen im Denken der Menschen über Beziehungen und Sexualität keine große Rolle mehr. […]

    Wenn das Übernatürliche aus dem Christentum verschwunden ist, was bleibt dann? Wohlmeinende Gefühle und eine Reihe von Geboten, die sich als erdrückend erweisen, da der tiefgreifende Charakter der Veränderung, der sie dienen sollten, kurzerhand verworfen wurde.

    Es ist an der Zeit, ein sursum corda zu vollziehen, „das Herz zu erheben“, eine nach innen gerichtete, rein sinnliche Tendenz zu korrigieren, um die transzendentale Dimension der körperlichen Intimität wiederzuerlangen, die Teil des universalen Rufs zur Heiligkeit ist. Natürlich sollten wir diejenigen erreichen und ansprechen, die sich von der christlichen Lehre entfremdet fühlen, die sich ausgegrenzt fühlen oder meinen, dass ihnen ein unmöglicher Standard auferlegt wird. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass diese Situation alles andere als neu ist.

    In den ersten Jahrhunderten der Kirche gab es kolossale Spannungen zwischen weltlichen und christlichen moralischen Werten, nicht zuletzt in Bezug auf die Keuschheit. Das lag nicht daran, dass die Christen besser waren – die meisten von uns führen heute wie damals ein mittelmäßiges Leben – sondern daran, dass sie eine andere Vorstellung davon hatten, worum es im Leben geht. Es waren die Jahrhunderte der subtilen Kontroversen darüber, was die Inkarnation wirklich bedeutet. Die Kirche rang beharrlich darum Jesus Christus in Worte zu fassen: „Gott von Gott“ und doch „von der Jungfrau Maria geboren“; ganz Mensch und ganz Gott. Auf dieser Grundlage versuchte die Kirche zu verstehen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und zu zeigen, wie eine humane Gesellschaftsordnung entstehen kann.

    Heute ist diese Vorstellung davon, wer Jesus Christus ist, in den Hintergrund getreten. Wir bekräftigen immer noch, dass „Gott Mensch wurde“. Aber wir wenden das Diktum größtenteils umgekehrt an, indem wir ein Bild von „Gott“ projizieren, das sich aus unserer Vorstellung davon ergibt, was der Mensch ist. Das Ergebnis ist eine Karikatur. Das Göttliche wird auf unser Maß reduziert.

    Die Kirche ist dazu berufen, den Kompass zu stellen, an dem sich Menschen guten Willens in Zeiten der Verwirrung orientieren können, und nicht dazu der Menge hinterherzulaufen.

    Die Tatsache, dass viele Zeitgenossen diesen gefälschten „Gott“ ablehnen, ist in vielerlei Hinsicht ein Hinweis auf ihren gesunden Menschenverstand. Welch ein Kontrast zu früheren Zeiten. Nicholas Cabasilas, der zur Zeit der großen mittelalterlichen Mystiker Walter Hilton und Julian von Norwich lebte, schreibt: „Für den neuen Menschen wurde die menschliche Natur ursprünglich geschaffen; für ihn wurden Verstand und Sehnsucht vorbereitet. Wir haben die Vernunft empfangen, damit wir Christus erkennen, die Sehnsucht, damit wir ihm entgegenlaufen. Denn nicht der alte Adam ist ein Vorbild für den neuen, sondern der neue ein Vorbild für den alten.“

    Inmitten der gegenwärtigen Ratlosigkeit, in einer Kirche, die durch eine Geschichte des Missbrauchs belastet ist, in einer Gesellschaft, die Kategorien auflöst, die wir noch gestern für normativ hielten, und in einer Zeit, in der es nicht an Menschen mangelt, die wie die Zeitgenossen Jesajas „Dunkelheit für Licht und Süßes für Bitteres halten“ (Jes 5,20), müssen wir uns auf diese Perspektive besinnen.

    Die kürzeste Maxime der Wüstenväter lautet: „Schau nach oben, nicht nach unten!“ Der Rat ist gut. Die Kirche ist sicherlich dazu berufen, den Kompass zu stellen, an dem sich Menschen guten Willens in Zeiten der Verwirrung orientieren können, und nicht dazu der Menge hinterherzulaufen wie ein schnaufender alter Spaniel, der mit der Jagd Schritt halten will.

    Das soll nicht heißen, dass die Kirche die Welt verurteilen soll. „Auch ich verurteile dich nicht.“ Diese Worte Jesu an die Ehebrecherin bleiben eine Norm, die für jeden Botschafter Christi gilt. So wie die folgenden Worte: „Geh hin und sündige von nun an nicht mehr“ (Johannes 8,11). Vermeidet Irrwege! Die Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, ist die Freiheit, ihm zu folgen und die Seligkeit zu erlangen, die er für uns bereithält, und nicht, sich im Wald zu verirren.

    Expulsion from the Garden of Eden, detail

    Thomas Cole, Expulsion from the Garden of Eden, Öl auf Leinwand, 1828.

    Das christliche Gebot der Keuschheit ist unattraktiv, wenn es mit Wut vorgetragen wird, eine Haltung, die die Selbstgerechtigkeit seiner Befürworter verrät. Gott hingegen betrachtet, wie Johannes 8 zeigt, die Angelegenheiten der menschlichen Herzen und Körper mit illusionsloser Geduld – wobei wir uns daran erinnern sollten, dass „Geduld“ mehr ist als die Fähigkeit, auszuharren und zu warten; Patientia, das lateinische Wort für Geduld, leitet sich von patior "ich leide" ab. Christus flieht nicht vor unseren Widersprüchen. Er meidet nicht angewidert die Welt der Begierden und der schnellen Hoffnungen, die Siddhartha in Hermann Hesses gleichnamigem Roman die Welt der „Menschen, die wie Kinder sind“ nennt (ich hörte einmal einen erfahrenen Beichtvater sagen: „Wissen Sie, es gibt keine Erwachsenen, nur Kinder“). Er betritt diese Welt und ruft uns zu: „Adam, wo bist du?“ Manchmal ruft er einfach, indem er uns allwissend anschaut, betrübt über unsere Entfremdung, aber nicht an uns verzweifelnd.

    Wir vergessen leicht, dass Gott Hoffnung für uns hat. Er weiß, dass wir wachsen müssen, dass wir erwachsen werden müssen. Der Kirchenvater Irenäus von Lyon stellt Adam und Eva als Kinder im Garten dar: „Der Mensch war ein Kind und hatte noch nicht den vollkommenen Verstand; darum ließ er sich leicht verführen.“ Er hatte deshalb aber auch die Möglichkeit, frei zu wachsen, zu lernen und sich zu verändern.

    Eine christliche Sicht der menschlichen Natur ist dynamisch. Ja, natürlich werden wir von Faktoren beeinflusst, die sich unserer Kontrolle entziehen; natürlich tragen wir Talente und Wunden aller Art in uns; diese bedingen uns, aber sie bestimmen uns nicht. Nicht der Ort, von dem es ausgeht bestimmt ein Leben, sondern das Ziel, auf das es zusteuert. Wenn wir wie Cabasilas glauben, dass der neue Adam ein Modell für den alten ist, werden wir erfüllt leben, angezogen von der geduldigen Hoffnung Gottes für uns.

    Die christliche Berufung ist die Kunst, dem Ruf zur Vollkommenheit zu folgen und dabei die Tiefe unserer Unvollkommenheit auszuloten – ohne zu verzweifeln und ohne das Ideal aufzugeben.

    Wir sitzen alle im selben Boot. Der apologetische Brief an Diognetus aus dem zweiten Jahrhundert betont, dass wir alle, wenn wir uns selbst überlassen sind, von „ungeordneten Impulsen [ἀτάκτοις φοραῖς], von Wünschen und Begierden getrieben“ werden. Für einige wird die Unordnung offensichtlicher „objektiv“ sein als für andere. Aber wir alle sind aufgerufen, unser Leben neu auszurichten auf das letzte Ziel, das in Christus offenbart ist. In ihm erwartet uns die Fülle des Lebens. Nirgendwo sonst. Nach dem Tod des Theologen Kardinal Jean Daniélou im Jahr 1974 schrieb Gunnel Vallquist einen Aufsatz über „Das Daniélou-Mysterium“. Sie hatte den Kardinal sehr gut gekannt. Sie stieg jedoch nicht mit privaten Erinnerungen ein, sondern begann mit einem Sujet der öffentlichen Lüsternheit: Wie kam es, dass er, ein Kirchenfürst, in der Wohnung einer Pariser Prostituierten an einem Schlaganfall gestorben war, die Brieftasche voll mit Bargeld? Vallquist weist darauf hin, dass Daniélou sich schon lange um die Frauen kümmerte, die auf den Straßen von Batignolles arbeiteten. Er half ihnen mit Almosen, um für ihre oft komplizierten Netzwerke von Angehörigen zu sorgen. Diese Arbeit setzte er auch nach seiner Ernennung zum Kardinal im Jahr 1969 fort. Für Daniélou war ein solcher, von christlicher Freundschaft geprägter Kontakt mit Menschen, die als unnahbar galten, keine große Sache. Indem er sich mit Prostituierten anfreundete, relativierte er nicht die katholische Lehre: Er verteidigte die Keuschheit mit Nachdruck. Aber er scheute sich nicht, diejenigen zu besuchen und zu unterstützen, die noch einen langen Weg vor sich hatten, um dieses Ideal zu erreichen. Er handelte einfach wie sein Meister.

    Der christliche Berufung ist die Kunst, dem Ruf zur Vollkommenheit zu folgen und dabei die Tiefe unserer Unvollkommenheit auszuloten – ohne zu verzweifeln und ohne das Ideal aufzugeben. Das Ideal aufzugeben ist gleichbedeutend damit, Kathedralen in Schwimmbäder zu verwandeln, den persönlichen Aufruf Christi „Komm, folge mir nach“ (Mk 1,17) durch eine vorgefertigte Botschaft zu ersetzen: „Macht es euch bequem, esst, trinkt und seid fröhlich“ (Lk 12,19). Das Ziel, zu dem wir berufen sind, liegt immer vor uns. Stagnation ist tödlich.

    Was aber, wenn ich keine Kraft zum Gehen habe? Dann muss ich lernen, mich tragen zu lassen. Der Exodus Israels, diese beispielhaft quälende Reise, auf der das Volk jede Verfehlung ausprobierte, endete mit dem Bekenntnis: „Von unten tragen sie die Arme des Ewigen“ (Dtn 33,27). Die Vorsehung, so erkannte Israel, hatte sie durch dick und dünn getragen. Ihre Erkenntnis entsprach dem Orakel, das Gott gab, als sie an der Schwelle des verheißenen Landes standen: „Da hat der Herr, dein Gott, dich auf dem ganzen Weg, den ihr gewandert seid, getragen, wie ein Mann sein Kind trägt, bis ihr an diesen Ort kamt“ (Dtn 1,31).

    Die wichtigste Form der Askese, der Selbst-disziplin, die von einem Christen verlangt wird, ist Vertrauen. Durch Vertrauen geben wir illusorische Ansprüche auf Allwissenheit auf. Wir geben uns in Gottes Hände und entscheiden uns dafür, nach seinem Willen umgestaltet zu werden. Nur er kann sein Ebenbild in uns verwirklichen, indem er die verschiedenen Faktoren, die unsere Geschichte und unsere Persönlichkeit ausmachen, zu einem keuschen Ganzen zusammenfügt.

    Ein Fehler, den Christen oft begangen haben, ist die Annahme, dass Keuschheit irgendwie normal ist, aber nein, sie ist außergewöhnlich. Die Tugend fällt uns nicht leicht: Wenn wir versuchen, sie zu praktizieren, stellen wir fest, dass die Wunden der Sünde tief sitzen. Sie bringen uns dazu, unser Ziel zu verfehlen. Auch wenn wir uns bemühen, Nächstenliebe, Geduld und Mut zu lernen, müssen wir uns bemühen, keusch zu werden, und die Gnade ihre langsame, verwandelnde Arbeit tun lassen. Bis auf ein paar Ausnahmen ist das Wachstum in der Gnade, wie jedes andere Wachstum, organisch. Es geschieht langsam, heimlich, wir wissen nicht wie (vgl. Markus 4,27). Aber es trägt mit der Zeit Früchte.

    Athanasius wundert sich in seinem Werk Über die Menschwerdung über die Christen, die den Zölibat praktizieren. Für ihn ist ihr Zeugnis ein Zeichen der Endzeit. In der Folgezeit wurde die Enthaltsamkeit zur Selbstverständlichkeit. Von jungen Menschen, die sich für das klerikale oder geweihte Leben entschieden, wurde Keuschheit einfach erwartet, ohne immer zu verstehen, was ihre körperliche Leidenschaft, ein Geschenk Gottes, bedeutet oder wie sie verantwortungsvoll kanalisiert werden kann. Viele haben ein Leben geführt, das von Spaltung geprägt war, als ob die Sinne ein unbändiges Eigenleben führten, das entweder durch Willenskraft unterdrückt oder betäubt werden musste. Marguerite Yourcenar stellt im Hinblick auf ihre Darstellung der Maria Magdalena in der Kurzgeschichtensammlung Fires (Feuer) fest, dass der Prozess, durch den Verletzlichkeit, Begehren und Liebe in übernatürliche Verbundenheit umgewandelt werden, kein Prozess der „Sublimierung“, sondern der Orientierung ist. Ich stimme mit ihr überein, dass Sublimierung „an sich ein sehr unglücklicher Begriff ist, der den Körper beleidigt“. Es geht um etwas anderes: „um die dunkle Erkenntnis, dass die Liebe zu einer bestimmten Person, die so ergreifend ist, oft nur ein schöner, flüchtiger Zufall ist, der in gewisser Weise weniger real ist als die Veranlagungen und Entscheidungen, die ihr vorausgingen und die sie überdauern werden.“ Wie gehen wir damit um?

    Körperliche und affektive Impulse werden durch eine seelische Anziehungskraft geordnet, die durch den Verstand bewusst gemacht wird. Die integrale Versöhnung unseres Wesens („Integrität“ war lange ein Synonym für „Keuschheit“) setzt eine bestimmte Art von motivierender Energie voraus – einen Elan. In der Vulgata-Version eines Psalms wird das Ziel, auf das Israel durch die Wüste zuwanderte, als „das begehrenswerte Land“ beschrieben (Ps. 105,24, Vulgata). Die Typologie ist zeitlos.

    Der asketische Ratschlag, den der heilige Benedikt zur Keuschheit gibt, lautet Castitatem amare, „Liebe die Keuschheit“. Nur was ich liebe, wird mich zum Guten verändern. Verhaltensweisen, die durch Angst oder Verachtung hervorgerufen werden, neigen dazu, zu entstellen. Die Liebe muss geschliffen werden. Der Ratschlag zur Keuschheit wird ergänzt durch Ieiunium amare, „Liebe das Fasten“. Der Verzicht auf das Stillen des Hungers, hilft uns auf eine geordnete und fruchtbare Weise lieben zu lernen. Ich betone diesen Aspekt des Lernens. Das Gesetz, so schreibt Paulus an die Galater, ist in der Douai-Rheims-Übersetzung ein „Pädagoge“ (Gal 3,24). Die Rhetorik des Briefes zwingt uns, dies kritisch zu betrachten. Wir müssen in der Tugend, wie in der Wissenschaft und der Weisheit, unterrichtet werden. Unser Gewissen muss geformt werden. Die christliche Morallehre skizziert einen Lernprozess der Bekehrung und Askese, ein Begriff, der sich vom griechischen Wort für „Übung“ ableitet: eine passende Metapher in unserer Gesellschaft. Das Ziel sind Freiheit und Gedeihen.

    In der Wahrheit verwurzelt, können wir immens wachsen. Das Leben, das in uns pulsiert, trägt einen Widerhall Gottes in sich, selbst wenn wir in selbstzerstörerischen Mustern stecken. Der heilige Johannes Climacus, Abt des Berges Sinai zur Zeit Papst Gregors des Großen, spricht von der Reifung, die er bei Menschen beobachtet hat, die zuvor in sexueller Sucht gefangen waren:

    Ich habe unreine Seelen beobachtet, die verrückt nach körperlicher Liebe sind. Jedoch verwandeln sie diese Abhängigkeit in einen Grund zur Buße und übertragen dieselbe Fähigkeit zur Liebe auf den Herrn. Ich habe gesehen, wie sie die Angst überwunden haben, um sich schonungslos der Liebe Gottes zuzuwenden. Deshalb sagt der Herr von der „keuschen Hure“ nicht: „weil sie sich fürchtete“, sondern: „weil sie viel liebte“, konnte sie die Liebe mit Liebe vertreiben (ἔρωτι ἔρωτα διακρούσασθαι).

    Diese erstaunliche Aussage demontiert effektiv die Sichtweise, die den geistlichen Eros – die Liebe – vom fleischlichen Eros zu trennen versucht. Für Climacus gehören sie zusammen. Er ruft „die keusche Hure“ auf, seine These zu bezeugen. Diese Perspektive „beleidigt den Körper nicht“. Sie bietet weder Sublimierung noch Besänftigung. Sie erkennt ein Aufleuchten der Ewigkeit in der Leidenschaft an. Selbst ein ungeordneter Eros kann eine heiligende Liebe zu Gott entfachen, die die Angst vertreibt. Nichts ist jenseits der ordnenden Macht Gottes. Nichts im Menschen ist unerlöst. Alles, was dem Menschen natürlich ist, ist mit Blick auf das Gewand der Herrlichkeit gemacht. Der neue Adam wartet darauf, den alten zu umarmen. Die „Kleider aus Haut“ sind uns nur geliehen, um uns zu wärmen und zu schützen. Einmal werden wir sie hinter uns lassen müssen.


    Exzerpt aus Erik Varden, Chastity: Reconciliation of the Senses (Bloomsbury, 2024). Abgedruckt mit Erlaubnis, Eigenübersetzung.

    Von ErikVarden Erik Varden

    Erik Varden ist Bischof von Trondheim und war zuvor Abt des Trappistenklosters in Mount Saint Bernard in Leicestershire.

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