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CheckoutDa wandte sich Petrus an Jesus und fragte ihn: „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder oder meiner Schwester vergeben, wenn sie mir Unrecht tun? Ist siebenmal genug?“
„Nein“, antwortete ihm Jesus. „Nicht nur siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal. Denn mit Gottes himmlischem Reich ist es wie mit einem König, der mit seinen Verwaltern abrechnen wollte. Als Erstes wurde ein Mann vor den König gebracht, der ihm einen Millionenbetrag schuldete. Aber er konnte diese Schuld nicht bezahlen. Deshalb wollte der König ihn, seine Frau, seine Kinder und seinen gesamten Besitz verkaufen lassen, um wenigstens einen Teil seines Geldes zurückzubekommen.
Doch der Mann fiel vor dem König nieder und flehte ihn an: ‚Herr, hab noch etwas Geduld! Ich will ja alles bezahlen.‘ Da hatte der König Mitleid. Er gab ihn frei und erließ ihm seine Schulden. Kaum war der Mann frei, da traf er einen anderen Verwalter, der ihm einen vergleichsweise kleinen Betrag schuldete. Er packte ihn, würgte ihn und schrie: ‚Bezahl jetzt endlich deine Schulden!‘ Da fiel der andere vor ihm nieder und bettelte: ‚Hab noch etwas Geduld! Ich will ja alles bezahlen.‘ Aber der Verwalter wollte nichts davon wissen und ließ ihn ins Gefängnis werfen. Er sollte erst dann wieder freigelassen werden, wenn er alles bezahlt hätte.
Als nun die anderen Verwalter sahen, was sich da ereignet hatte, waren sie empört. Sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles. Da ließ der König den Verwalter zu sich kommen und sagte: ‚Was bist du doch für ein boshafter Mensch! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich darum gebeten hast. Hättest du da nicht auch mit meinem anderen Verwalter Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir?‘ Zornig übergab der Herr ihn den Folterknechten. Sie sollten ihn erst dann wieder freilassen, wenn er alle seine Schulden zurückgezahlt hätte.
Auf die gleiche Art wird mein Vater im Himmel jeden von euch behandeln, der seinem Bruder oder seiner Schwester nicht von ganzem Herzen vergibt.“
Fast alles war in Ordnung
In einem Dorfe lebte ein Bauer namens Iwan Schtscherbakow. Es ging ihm gut. Er war ein Mann in voller Kraft, der beste Arbeiter im Dorf und hatte drei erwachsene Söhne. Der eine war schon verheiratet, der zweite war Bräutigam, der dritte, ein halbwüchsiger Bursche, verstand mit den Pferden umzugehen und begann bereits zu ackern. Iwans Frau war ein gescheites und wirtschaftliches Weib; seine Schwiegertochter friedliebend und arbeitsam. Iwan und seine Familie konnten es sich also gut gehen lassen. Leute, die da nicht arbeiteten, gab's auf dem Hofe nicht, mit Ausnahme des alten, kranken Vaters, der bereits das siebente Jahr an Atemnot litt und untätig auf dem Ofen lag.
Iwan besaß genug von allem: drei Pferde mit einem Füllen, eine Kuh mit einem Kalb und fünfzehn Schafe. Die Weiber nähten für die Männer Schuhe und Kleider und arbeiteten auf dem Felde, die Männer verrichteten ihre Bauernarbeit. Das Getreide reichte von einer Ernte bis über die andere. Mit dem Hafer wurden die Steuern und die Bedürfnisse des Tages bestritten. Kurz, Iwan hätte mit seinen Kindern ein gutes Leben führen können, aber Hof an Hof mit ihm lebte der Nachbar Gabriel der Hinkende, Gordej Iwanows Sohn, und zwischen ihm und Iwan bestand Feindschaft.
Hof an Hof mit ihm lebte der Nachbar Gabriel der Hinkende, und zwischen ihm und Iwan bestand Feindschaft.
Solange der alte Gordej lebte und Iwans Vater noch selbst wirtschaftete, hausten die Bauern freundschaftlich nebeneinander. Brauchten die Weiber einmal ein Sieb oder einen Kübel, brauchten die Männer einen Sack oder ein Rad, so schickten sie nach dem Nachbarhof und halfen einander nachbarlich. Wenn ein Kalb sich in die Tenne des andern verlief, so jagten sie es heim und sagten nur: „Passt ein wenig auf, in unserer Tenne liegt noch das Getreide herum.“ Aber dass ein Nachbar vor dem andern etwas versteckte oder in der Scheune verschloss, oder gar mit ihm zu Gericht ging, das war unter ihnen nicht Brauch.
So lebte man zu Zeiten der beiden Alten. Als aber die Jungen die Wirtschaft übernahmen, wurde es anders. Mit einem Nichts fing die Sache an.
Mit einem Nichts fing die Sache an
Ein Huhn von Iwans Schwiegertochter hatte früh zu legen angefangen. Die junge Frau sammelte die Eier zum Osterfest. Jeden Tag ging sie in die Scheune, um aus dem Wagenkasten das Ei zu holen. Einmal aber hatten die Kinder die Henne aufgescheucht; sie war über den Zaun in den Nachbarhof geflogen und hatte das Ei dort gelegt. Die junge Frau hört die Henne gackern und denkt: „Ich hab' jetzt keine Zeit, ich muss das Haus zum Feiertag in Ordnung bringen, ich gehe später hin und hol' mir das Ei.“ Am Abend geht sie in die Scheune zum Wagenkasten; – es ist kein Ei da. Die junge Frau fragt die Schwäger und die Schwiegermutter, ob sie es vielleicht genommen hätten. Nein, sagen die, sie haben es nicht genommen. Taras, der jüngste Schwager, aber sagt:
„Deine Henne hat ja auf dem Nachbarhof gelegt; dort hat sie gegackert und von dort kam sie heimgeflogen.“
Die junge Frau sieht ihre Henne an; die sitzt auf der Stange neben dem Hahn, hat die Augen schon geschlossen und will schlafen. Gern hätte die Frau sie gefragt, wo sie das Ei gelegt habe, aber die Henne hätte ja doch nicht geantwortet. So ging denn die junge Frau zu den Nachbarn. Die alte Bäuerin kommt ihr entgegen:
„Was suchst du, junge Frau?“
„Ach, Großmütterchen,“ erwidert die junge Bäuerin, „mein Hühnchen ist heute zu euch hinübergeflogen, hat es nicht irgendwo ein Eichen gelegt?“
„Wir haben nichts gesehen. Unsere eigenen Hennen legen. Gott sei Dank, schon lange. Wir haben unsere Eier gesammelt, fremde brauchen wir nicht. Wir gehen nicht auf fremden Höfen Eier suchen, junge Frau!“
Die junge Bäuerin war gekränkt und sagte ein überflüssiges Wort.
Die junge Bäuerin war gekränkt und sagte ein überflüssiges Wort. Die Nachbarin gab zwei zurück und so begannen die Frauen zu zanken. Iwans Frau ging mit dem Wassereimer vorüber und mischte sich auch hinein. Da kam Gabriels Frau herbeigeeilt und fing an, der Nachbarin Vorwürfe zu machen, hielt ihr Dinge vor, die längst gewesen waren, und fügte noch manches hinzu, was nie gewesen war. So entstand ein großer Lärm. Alle schrien durcheinander und überboten einander an Redegeschwindigkeit. Lauter hässliche Worte fielen: du bist dies und du bist das; du bist eine Diebin, du eine Schlumpe; du bringst deinen alten Schwiegervater noch ins Grab, du bist ein Taugenichts und du bist ein Bettelweib, hast mir mein Sieb zerrissen. Du hast auch unser Tragholz, gib unser Tragholz her. – Sie griffen nach dem Tragholz, schütteten das Wasser aus dem daran hängenden Eimer, zerrissen sich gegenseitig die Kopftücher und begannen sich zu prügeln. Gabriel kam vom Felde gefahren und ergriff Partei für seine Frau. Da sprangen Iwan und dessen Sohn herbei und stürzten sich ebenfalls mitten unter die Streitenden. Iwan, der ein starker Mann war, warf sie alle auseinander und riss dabei dem Gabriel ein Büschel Haare aus dem Bart. Eine Menge Menschen versammelte sich und brachte die Gegner kaum auseinander.
So hatte die Feindschaft angefangen.
Gabriel wickelte sein Haarbüschel in ein Blatt Papier und fuhr zum Gemeindegericht, den Nachbar zu verklagen.
„Ich habe meinen Bart doch nicht wachsen lasten,“ sagte er, „damit ihn dieser pockennarbige Iwan mir ausreißen soll.“
Und seine Frau prahlte vor den Nachbarn, dass Iwan nun verurteilt und nach Sibirien geschickt werden würde. Und so ging die Feindseligkeit ihren Gang.
Gleich vom ersten Tag an hatte ihnen der Alte vom Ofen aus Vernunft gepredigt. Doch die Jungen hatten nicht auf ihn gehört. Er sprach zu ihnen:
Gleich vom ersten Tag an hatte ihnen der Alte vom Ofen aus Vernunft gepredigt
„Dummheiten macht ihr, Kinder, und aus einem Nichts macht ihr eine wichtige Angelegenheit. Bedenkt doch, dass euer ganzer Streit um eines Eies willen entstanden ist. Kinder haben wohl das Ei vom Boden aufgehoben. Gott mit ihnen! An einem Ei liegt doch nicht so viel; Gott hat für alle genug. Na, und hat die Nachbarin ein böses Wort gesagt, so antwortet ihr mit einem guten. Und habt ihr euch geprügelt, – ihr seid halt sündige Menschen, bei denen auch das Vorkommen kann. Geht hin und versöhnt euch, und die Sache hat ein Ende: wollt ihr aber im Bösen weiter leben, wird's schlimmer werden als es ist.“
Die Jungen hörten nicht auf den Alten und meinten, er rede gar nicht zur Sache, sondern fasele etwas nach alter Leute Art. Iwan gab dem Nachbar nicht nach.
„Ich hab' ihm den Bart nicht ausgerissen,“ sagte er, „er hat ihn sich selbst ausgezupft. Sein Sohn aber hat mir das Hemd, das ganze Hemd zerfetzt. Da ist es.“
Und auch Iwan fuhr hin und klagte. Ihr Streit kam zum Friedensgericht und zum Gemeindegericht. Inzwischen kam bei Gabriel ein Deichselnagel aus dem Leiterwagen in Verlust, und Gabriels Weiber behaupteten, dass Iwans Sohn ihn genommen habe.
„Wir haben gesehen,“ sagten sie, „wie er sich in der Nacht am Fenster vorüber zum Wagen geschlichen hat, und die Gevatterin hat erzählt, er sei an der Schenke vorgefahren und habe dem Wirt den Deichselnagel verkaufen wollen.“
Sogar die Kinder zankten sich schon, wie sie's von den Alten gelernt hatten.
Und wieder ging das Klagen an; und zu Hause verging kein Tag ohne Zank oder gar Prügelei. Sogar die Kinder zankten sich schon, wie sie's von den Alten gelernt hatten. Und wenn die Weiber sich am Fluss beim Wäschewaschen trafen, so schlugen sie weniger die Wäsche mit dem Klopfholz als einander mit den bösen Zungen.
Erst verleumden, dann bestehlen
Anfangs verleumdeten die Männer einander nur, dann aber begannen sie sich in Wirklichkeit zu bestehlen, sobald etwas unbewacht dalag, und sie gewöhnten auch ihre Frauen und Kinder daran. So wurde ihr Leben immer schlechter und schlechter. Iwan Schtscherbakow und Gabriel der Hinkende klagten gegeneinander in den Gemeindeversammlungen, beim Dorfrichter und beim Friedensrichter, so dass sie bereits allen Richtern lästig wurden. Bald bringt Gabriel den Iwan zu einer Geldstrafe oder ins Gefängnis, bald Iwan den Gabriel. Und je mehr Böses sie einander antun, desto zorniger werden sie aufeinander. Wenn Hunde sich ineinander verbeißen, so werden sie ja auch immer wütender, je länger der Kampf dauert. Schlägt man den einen Hund von rückwärts, so denkt er, der andere hat ihn gebissen, und fährt noch wütender auf ihn los. So war's auch mit den beiden Männern: sie gingen zu Gericht, wurden bestraft und empfanden danach nur noch mehr Groll aufeinander: „Wart nur, ich werd' dir das alles heimzahlen.“
So ging es ganze sechs Jahre hindurch. Der Alte auf dem Ofen predigte ihnen immer ein und dasselbe; oft genug ermahnte er sie:
„Was macht ihr, Kinder! lasst doch die alten Streitigkeiten sein. Vernachlässigt eure Arbeit nicht und ärgert euch nicht über andere Leute, das wird das Beste sein. Je mehr ihr gegeneinander wütet, umso schlimmer wird es.“
Sie hörten nicht auf den Alten.
Im siebenten Jahre wurde der Streit von neuem angefacht, weil Iwans Schwiegertochter bei einer Hochzeit den Gabriel vor allen Leuten beschimpfte und ihn beschuldigte, er sei beim Pferdestehlen ertappt worden. Gabriel war angeheitert, konnte sich nicht beherrschen und schlug die Frau so, dass sie eine Woche zu Bett liegen musste. Iwan freute sich und fuhr mit einer Klage zum Untersuchungsrichter. „Jetzt,“ denkt er, „rechne ich mit dem Nachbarn gründlich ab. Jetzt kann er dem Zuchthaus oder Sibirien nicht entgehen.“ Aber es kam wieder nicht, wie Iwan dachte. Der Untersuchungsrichter nahm die Klage nicht an, die Frau wurde untersucht, sie stand auf und es waren keine Folgen von den Schlägen zu bemerken. Iwan fuhr zum Friedensrichter, der aber schickte die Sache an das Gemeindegericht. Iwan tat in der Gemeinde, was er konnte; bewirtete den Schreiber und den Gemeindeältesten mit einem halben Eimer süßen Branntweines und setzte es durch, dass Gabriel zu Rutenhieben verurteilt wurde. Das Urteil wurde dem Gabriel bei Gericht vorgelesen. Der Schreiber liest:
„Das Gericht hat beschlossen, dem Bauer Gabriel Gordejew zwanzig Rutenhiebe in der Gemeindeverwaltung geben zu lassen.“
Wenn's nur bei ihm nicht schlimmer zu brennen anfängt.
Iwan hörte das Urteil und blickte den Gabriel an: was der jetzt wohl machen wird? Gabriel hörte zu, ward weiß wie ein Handtuch, wandte sich um und ging in den Flur hinaus. Iwan folgte ihm, um zu seinem Pferde zu gelangen. Da hört er, wie Gabriel sagt:
„Gut, er will meinen Rücken schlagen lassen, bis er brennt, – wenn's nur bei ihm nicht schlimmer zu brennen anfängt.“
Als Iwan diese Worte hörte, ging er sofort zu den Richtern zurück.
„Gerechte Richter,“ sprach er, „er droht mein Haus anzuzünden, hört nur, er hat es vor Zeugen gesagt!“
Man rief Gabriel wieder herein.
„Hast du das wirklich gesagt?“
„Ich hab' gar nichts gesagt, prügelt mich doch, wenn ihr die Macht dazu habt. Ich muss ungerechterweise leiden, er aber darf sich alles erlauben.“
Gabriel wollte noch etwas sagen, aber seine Lippen begannen zu zittern und er drehte sich gegen die Wand. Selbst die Richter erschraken, als sie ihn ansahen. „Wenn er nur nicht wirklich dem Nachbarn oder sich selbst etwas Böses antut,“ dachten sie. Und einer der Richter, ein Greis, sprach:
Hört mal, Brüder, versöhnt euch doch lieber.
„Hört mal, Brüder, versöhnt euch doch lieber. Du, Bruder Gabriel, hast du denn gut daran getan, dass du ein Weib schlugst, welches ein Kind erwartet? Es ist noch ein Glück, dass Gott gnädig gewesen ist; was hättest du sonst für eine Sünde getan! War denn das gut? Erkenne doch deine Schuld und bitte ihn um Verzeihung. Er wird dir verzeihen und wir schreiben das Urteil um.“
Als der Schreiber das hörte, sagte er: „Das geht nicht, denn es ist kein friedliches Übereinkommen auf Grund von Paragraph 117 zustande gekommen. Dagegen ist ein Gerichtsbeschluss zustande gekommen, und der Beschluss muss in Kraft treten.“
Der Richter aber hörte nicht auf den Schreiber.
„Lass das Schwätzen,“ sagt er, „der erste Paragraph, Bruder, heißt: man muss an Gott denken, und Gott hat befohlen, sich zu versöhnen.“
Und der Richter redete von neuem den Bauern zu, konnte aber nichts ausrichten. Gabriel wollte gar nicht auf ihn hören.
„Ich bin bald fünfzig Jahre alt,“ sagte er, „habe einen verheirateten Sohn, und solange ich lebe, bin ich nicht geschlagen worden. Jetzt aber hat mich der blatternarbige Iwan dazu gebracht, dass ich gepeitscht werden soll, und ich soll ihn noch um Vergebung bitten? Hört mir auf! Iwan wird noch an mich denken!“
Dabei zitterte Gabriels Stimme wieder, er konnte nicht weiter sprechen, drehte sich um und ging hinaus.
Hass macht blind
Vom Gemeindehaus bis zu Iwans Hof waren zehn Werst, und Iwan kam erst spät nach Haus. Die Weiber waren schon fortgegangen, um das Vieh von der Weide zu holen. Er spannte das Pferd ab, räumte den Wagen fort und trat ins Haus. Das Zimmer war leer. Die Söhne waren noch nicht vom Felde heimgekehrt, die Weiber beim Vieh. Iwan kam herein, setzte sich auf die Bank und dachte nach. Er erinnerte sich daran, wie Gabriel beim Verlesen des Urteils bleich geworden war und sich zur Wand gedreht hatte, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er stellte sich vor, wie ihm selber zumute gewesen wäre, wenn man ihn zu Rutenhieben verurteilt hätte, und Gabriel tat ihm leid. Da hörte er, wie der Alte auf dem Ofen hustete und sich umdrehte. Der Alte kroch langsam vom Ofen herab, schleppte sich bis zur Bank und setzte sich. Ganz erschöpft von dem Gang hustete er lange, stützte sich dann auf den Tisch und sprach:
„Nun, hat man ihn verurteilt?“
„Zu zwanzig Rutenhieben,“ erwiderte Iwan.
Der Alte schüttelte den Kopf.
„Schlecht handelst du, Iwan,“ sagte er, „ach, sehr schlecht. Nicht ihm tust du Böses, sondern dir selber. Wirst du es leichter haben, wenn man ihm den Rücken wund schlägt?“
„Wenigstens wird er's in Zukunft lassen,“ meinte Iwan.
„Was wird er lassen? Was hat er denn Schlimmeres getan als du selbst?“
„Wie, was er mir getan hat?“ entgegnete Iwan, „er hätte die Frau totschlagen können, und jetzt droht er gar, das Haus in Brand zu stecken. Soll ich ihm vielleicht dafür danken? Was?“
Nicht ihm tust du Böses, sondern dir selber.
Der Alte seufzte und sprach: „Du gehst und fährst viel in der freien Welt herum, Iwan, ich aber liege schon viele Jahre auf dem Ofen. Daher glaubst du, dass du alles siehst und dass ich nichts sehe. Nein, mein Junge, du siehst nichts, denn der Hass hat deine Augen geschlossen. Die Sünden der andern hast du vor Augen und deine eigenen im Rücken. Warum sagst du, er handelt schlecht? Wenn er allein schlecht handeln würde, wäre noch nichts Böses geschehen. Kann denn das Böse zwischen den Menschen von einem einzigen ausgehen? Es geht von zweien aus. Du aber siehst nur seine Schlechtigkeit, und die eigene siehst du nicht; wenn er allein schlecht wäre, und du wärst gut, dann wäre kein Übel da. Wer hat ihm den Bart ausgerissen? Wer hat alles aufs äußerste getrieben, wer hat ihn von einem Gericht zum andern geschleppt? Und er allein soll an allem schuld sein! Du selbst handelst schlecht, und darum steht es schlimm. Nicht so hab' ich gelebt, mein Lieber; und nicht solche Sachen hab' ich euch gelehrt. Wir Alten, sein Vater und ich, haben wir vielleicht so gelebt? Wie haben wir miteinander gelebt? freundnachbarlich haben wir gelebt! Wenn bei ihm das Mehl ausging, kam seine Frau herüber: Onkel Frol, wir brauchen Mehl. – Geh' in den Speicher, junge Frau, nimm so viel du brauchst. – Hatte er niemand, den er mit den Pferden fortschicken konnte: geh', Iwan, führ' seine Pferde. – Fehlte bei mir irgendetwas, so ging ich zu ihm: Onkel Gordej, das und das brauche ich. – Nimm, Onkel Frol. – So war es bei uns. Und auch ihr hattet ein leichtes Leben. Wie aber steht's jetzt? Da hat uns neulich ein Soldat von Plewna erzählt; mir scheint, ihr führt jetzt Krieg, schlimmer als er bei Plewna war. Ist das ein Leben? Und was für eine Sünde! Du bist ein Bauersmann, bist der Herr vom Haus, du hast es zu verantworten. Was lehrst du die Weiber und Kinder deines Hauses? Sich zu zanken wie die Hunde. Neulich schimpfte Taraska, dieser Bengel, die Tante Arina in Gegenwart der Mutter, und die Mutter lacht dazu. Ist das wohl recht? Du wirst dich einst dafür verantworten müssen; denk doch an dein Seelenheil. Muss es denn so sein, dass auf jedes böse Wort zwei andere, auf jeden Schlag zwei weitere Schläge folgen? Nein, mein Lieber, als Christus auf Erden wandelte, hat er uns ganz etwas anderes gelehrt: sagt man dir ein böses Wort, so schweige still, sein eigenes Gewissen wird ihn strafen. – So hat uns unser Väterchen Christus gelehrt. Wenn dir einer einen Streich auf die Backe gibt, reich ihm die andere hin, hat er gesagt, sein Gewissen wird ihn plagen, er wird demütig werden und auf dich hören. So hat der Herr es uns befohlen, aber nicht den Hochmütigen zu spielen. – Warum sagst du denn kein Wort? Spreche ich nicht die Wahrheit?“
Iwan schweigt und hört zu. Der Alte hustet, hat Mühe, sich frei zu husten und weiter zu sprechen:
„Glaubst du, Christus hat uns Schlechtes gelehrt? Es ist doch alles für uns zu unserem Besten. Denk doch an dein irdisches Leben: geht's dir besser oder schlechter seit der Zeit, dass dieses Plewna bei euch entstanden ist? Berechne doch einmal, wieviel du fürs Gericht ausgegeben hast; wieviel du verfahren und in den Schenken verbraucht hast. Söhne hast du wie junge Adler, du könntest leben, wie sich's gehört, und tüchtig vorwärts kommen; mit deinem Wohlstand aber geht's bergab. Und woher? Alles wegen des Streites und wegen deines Hochmuts. Du sollst mit den Söhnen dein Feld bebauen, anstatt dessen treibt dich der böse Feind zum Richter oder zu irgend einem Rechtsverdreher. Wenn du nicht zur rechten Zeit pflügst und zur rechten Zeit säest, wird Mütterchen Erde dir keine Früchte tragen. Warum ist denn heuer dein Hafer nicht geraten? Wann hast du gesät? Erst als du aus der Stadt zurückkamst. Und was hast du erlangt mit allen den Klagen? Dir selbst eine Schlinge um den Hals. Ach, mein Junge, denk an deine Arbeit mit den Söhnen auf dem Feld und im Haus, und wenn dich irgendwer beleidigt hat, so verzeih' ihm nach Gottes Gebot, dann wird's um deine Angelegenheiten besser stehen und deine Seele wird leicht und frei sein.“
Iwan schweigt.
„Hör' mal, Iwan, folge mir, deinem Vater. Geh' und spann' das Pferd an, fahr' sofort zum Gemeindeamt, begleiche dort alles, und morgen früh geh' zu Gabriel, versöhn' dich mit ihm, wie Gott es fordert, und lade ihn zu dir ein. Morgen ist ja Feiertag. (Es war nämlich gerade am Tage vor Mariä Geburt.) Stell' den Samowar auf, kauf' ein halbes Maß Branntwein und schüttle alle deine Sünden ab, auf dass in Zukunft Friede sei, und den Weibern und Kindern befiehl dasselbe zu tun.“
Iwan seufzt. „Der Alte spricht wahr,“ denkt er, und sein Herz wird weich. Er weiß nur nicht, wie er es anfangen soll, sich jetzt zu versöhnen, und der Alte beginnt von neuem, als hätte er seine Gedanken erraten:
„Geh', mein Junge, schieb es nicht auf, lösche das Feuer, solange es klein ist, wenn es erst aufflammt, wirst du seiner nicht mehr Herr.“
Lösche das Feuer, solange es klein ist, wenn es erst aufflammt, wirst du seiner nicht mehr Herr.
Der Alte wollte noch etwas sagen, kam aber nicht mehr dazu, denn die Weiber traten in die Stube und schwätzten darauf los wie die Elstern. Sie hatten schon alles gehört, dass Gabriel verurteilt worden war und dass er gedroht hatte, den Hof in Brand zu stecken. Das alles hatten sie erfahren und hatten noch aus eigenem dazu gelegt, und hatten auch schon Zeit gefunden, mit den Weibern des Nachbarhofes auf der Weide neuen Streit anzufangen. Sie erzählten, wie Gabriels Schwiegertochter mit dem Untersuchungsrichter gedroht hatte. Der Untersuchungsrichter, hieß es, sei auf Gabriels Seite. Er wird jetzt die ganze Sache umdrehen, und der Lehrer, so wurde erzählt, hat schon eine andere Klageschrift gegen Iwan aufgesetzt und wird sie direkt an den Kaiser schicken. Und in dieser Klage ist alles erzählt: die Geschichte vom Deichselnagel und vom Gemüsegarten, und die Hälfte des Hofes muss jetzt an Gabriel übergehen. Iwan hörte zu, und sein Herz wurde wieder hart, und er gab den Gedanken an Versöhnung mit Gabriel wieder auf.
Auf einem Hofe gibt es für den Wirt stets viel zu tun. Iwan ließ sich mit den Weibern in kein Gespräch ein, stand auf und ging zum Zimmer hinaus, ging in die Tenne und in die Scheune. Als er dort fertig war und wieder auf den Hof zurückkehrte, war die Sonne schon untergegangen, und seine Söhne waren vom Felde heimgekommen. Sie hatten den Acker des Sommergetreides für den Winter umgepflügt. Iwan ging ihnen entgegen, fragte sie über ihre Arbeit aus, half ihnen ausspannen, legte ein zerrissenes Kummet beiseite, um es auszubessern, wollte auch noch die Stangen in die Scheune stellen, da war's aber schon ganz finster geworden. Er ließ die Stangen für den andern Tag, schüttete dem Vieh Futter vor, öffnete das Tor, um die Pferde zur Nachtweide hinauszulassen, schloss es wieder und legte die Verschlussstange vor.
„Jetzt nachtmahlen und schlafen gehen,“ dachte Iwan, nahm das zerrissene Kummet und ging in die Stube. Er hatte inzwischen Gabriel und alles, was der Vater ihm gesagt hatte, vergessen. Als er eben die Türklinke fasste und den Flur betrat, hörte er, dass hinter dem Zaun der Nachbar mit heiserer Stimme auf jemand schimpfte.
„Dass ihn der Teufel hole,“ schreit Gabriel irgendjemand zu, „totschlagen sollte man ihn!“
Diese Worte riefen in Iwan den ganzen Groll gegen den Nachbarn wieder wach. Er stand still und horchte, solange Gabriel schimpfte. Als Gabriel schwieg, ging Iwan ins Haus. Er trat in die Stube, in der Licht angezündet worden war. Die junge Frau sitzt in der Ecke am Spinnrocken, die alte bereitet das Nachtmahl, der älteste Sohn flicht Schnüre für Bastschuhe; der zweite sitzt mit einem Buch am Tisch. Alles in der Stube ist gemütlich und fröhlich, – wäre nur diese Giftbeule, der böse Nachbar, nicht auf der Welt.
Iwan trat ärgerlich ein, warf die Katze von der Bank und schalt die Frau, weil die Waschwanne nicht am rechten Platz stand. Ihm war ungemütlich zu Sinn. Er setzte sich, machte ein finsteres Gesicht und begann das Kummet zu richten. Gabriels Worte gingen ihm nicht aus den Kopf: wie er vor Gericht gedroht hatte und wie er jetzt eben mit heiserer Stimme irgendjemand zugeschrien hatte: totschlagen sollte man ihn.
Die Alte machte für Taras das Nachtmahl zurecht, Taras aß, zog den Rock und den Pelz an, schnallte den Gurt um, nahm ein Stück Brot und ging auf die Straße zu den Pferden. Der ältere Bruder wollte ihn begleiten, aber Iwan stand selbst auf und ging hinaus auf die Vortreppe. Auf dem Hof war es schon ganz finster. Der Himmel war schwarz und mit Wolken bedeckt, und ein starker Wind hatte sich erhoben. Iwan ging die Treppe hinunter, half seinem Sohn aufs Pferd, jagte das Füllen hinterdrein und stand noch eine Weile da, um dem Knaben nachzublicken und zu hören, wie er durch das Dorf ritt, mit andern Burschen zusammenkam, und wie sie dann alle gemeinsam weiter ritten, bis man sie nicht mehr hörte. Iwan stand und stand am Tor, und wieder gingen ihm Gabriels Worte durch den Sinn: wenn's bei dir nur nicht schlimmer zu brennen anfängt.
„Er wird auch die eigene Gefahr vergessen,“ denkt Iwan, „alles ist trocken, und windig ist's auch. Er schleicht sich vielleicht hinten herum, schiebt das Feuer unter, und die Geschichte ist fertig. Der Bösewicht legt den Brand und behält recht. Ach, wenn ich ihn erwischen könnte! Der sollte mir nicht entgehen!“
Dieser Gedanke nahm ihn so gefangen, dass er nicht ins Haus zurückkehrte, sondern zu einer Ecke am Tor schlich.
„Ich will einmal um den Hof herumgehen,“ sagte er sich, „wer kann wissen, was er tut.“ Leisen Schrittes ging er am Tor vorbei. Als er um die Ecke herumkam und den Zaun entlang blickte, schien es ihm, als wenn sich an der nächsten Ecke etwas bewege; als gucke jemand hervor und verstecke sich dann wieder hinter der Ecke. Iwan blieb ganz still stehen, horchte und blickte angestrengt hin. Alles war ruhig; nur der Wind sauste in den Blättern der Weiden und raschelte im Stroh. Zuerst war es ganz finster und nichts zu sehen. Dann gewöhnten sich die Augen an das Dunkel, und Iwan übersah die ganze Ecke, die Egge und den Hackenpflug. Er stand da und spähte, – niemand ist da.
„Man sieht, es hat mir nur so vor den Augen geflimmert,“ denkt Iwan, „ich will aber doch weitergehen.“ Und er schlich ganz leise an der Scheune vorbei und trat mit seinen Bastschuhen so vorsichtig auf, dass er die eigenen Schritte nicht hörte. Er kommt zur Ecke, und sieh', an der nächsten Ecke blitzt etwas auf und verschwindet wieder. Iwans Herz begann zu pochen und er blieb wieder stehen. Im selben Augenblick flammte es drüben hell auf und er sieht ganz deutlich, dort kauert ein Mann mit einer Mütze auf dem Kopf, kehrt ihm den Rücken zu und entzündet ein Bündel Stroh, das er in der Hand hält. Iwans Herz klopfte noch lauter, seine Gestalt straffte sich und er eilte mit großen Schritten vorwärts, so leise, dass seine Tritte sogar ihm selbst unhörbar blieben. „Nun,“ denkt er, „jetzt kann er mir nicht entwischen. Auf der Stelle packe ich ihn.“
Er war kaum einige Schritte vorwärts gekommen, als es plötzlich hell, ganz hell aufflammte, aber nicht mehr an derselben Stelle und als kleine Flamme, sondern es war das Stroh unter dem Vordach, das lichterloh brannte. Das Feuer züngelte zum Dach hinauf, und Gabriel steht da, vom Feuerschein beleuchtet.
Wie ein Habicht auf die Lerche, so stürzt Iwan sich auf den Nachbarn. „Ich hab' ihn,“ denkt er, „der kommt mir jetzt nicht aus.“ Gabriel aber hatte wahrscheinlich die Schritte gehört, blickte sich um und sprang schnell wie ein Hase die Scheune entlang.
„Du entkommst mir nicht!“ schrie Iwan und stürzte ihm nach. Eben wollte er ihn am Rock fassen; da entschlüpfte ihm Gabriel unter den Händen. Iwan packt ihn an den Rockschößen, der Schoß reißt ab, und Iwan fällt hin. Er springt wieder auf. „Hilfe,“ schreit er, „haltet den Dieb!“ und rennt wieder weiter. Doch bevor er sich vom Boden erhoben hatte, war Gabriel schon bei seinem Hof angelangt. Iwan holte ihn trotzdem ein und wollte ihn eben packen, als etwas schwer wie ein Stein auf seinen Kopf niedersank. Gabriel hatte nämlich einen Eichenpfahl ergriffen, und als Iwan auf ihn zu gerannt kam, ihn aus voller Wucht auf den Kopf geschlagen. Iwan war betäubt. Ihm war's, als wenn Funken aus seinen Augen sprängen, dann wurde es dunkel und er schwankte. Als er wieder zu sich kam, war Gabriel nicht da, es war hell wie am Tag, und dort, wo sein Hof lag, rauschte und knisterte es wie von einer Lokomotive. Iwan drehte sich um und sah, dass seine hintere Scheune lichterloh brannte, und auch die Nebenscheune hatte bereits Feuer gefangen. Feuer und Rauch und glimmende Strohhalme trieben auf sein Haus zu.
„Was ist das, Brüder?“ schrie Iwan, hob die Hände hoch und schlug sich mit ihnen in die Seiten. „Ich hätte es ja doch nur herausziehen und zertreten müssen! Was ist denn, Brüder?“ wiederholte er. Er wollte schreien, aber sein Atem stockte und seine Stimme versagte; er wollte laufen, doch die Füße rührten sich nicht von der Stelle; ein Bein hinderte das andere. Er ging langsam, schwankte und kam wieder außer Atem, blieb stehen, rang nach Luft, ging weiter. Während er um die Scheune herumging und bis zur Brandstätte kam, war die ganze Nebenscheune von Flammen ergriffen. Auch die eine Ecke des Hauses und das Tor brannten. Ja sogar aus dem Innern des Hauses schlugen Flammen heraus und hinderten den Eingang in den Hof. Viel Volk war zusammengelaufen, es war aber nichts zu machen. Die Nachbarn brachten ihre Sachen in Sicherheit und trieben ihr Vieh von den Höfen. Nach Iwans Haus griff das Feuer auf Gabriels Hof hinüber; der Wind wurde stärker und schlug die Flammen auch über die Straße. Das halbe Dorf brannte nieder.
Das halbe Dorf brannte nieder. Es brannte lange, die ganze Nacht hindurch.
Aus Iwans Haus hatte man nur den Alten herausgeschleppt, die andern waren fortgerannt, wie sie grade waren. Die Sachen konnten nicht gerettet werden, und auch alles Vieh verbrannte, mit Ausnahme der Pferde, die auf der Nachtweide waren. Die Hühner verbrannten auf der Schlafstange, die Leiterwagen, Eggen, Pflüge, die Truhen der Frauen, das Korn in der Tenne, – alles verbrannte.
Bei Gabriel hatten sie das Vieh fortgetrieben und auch sonst einiges gerettet.
Es brannte lange, die ganze Nacht hindurch. Iwan stand vor seinem Hof, starrte ins Feuer und sprach immer vor sich hin: „Was ist das nur, Brüder? Ich brauchte es ja nur herauszuziehen und zu zertreten.“ Als aber die Decke seines Hauses einstürzte, ging er direkt ins Feuer, ergriff einen halb verbrannten Balken und wollte ihn herausziehen. Die Frauen sahen ihn und wollten ihn zurückrufen. Doch er zog den Balken heraus und kletterte hinein, um einen zweiten zu holen, schwankte aber und fiel ins Feuer. Da kletterte sein Sohn ihm nach und rettete ihn. Iwan hatte sich Bart und Haar versengt, seinen Anzug verbrannt und seine Hände verletzt, schien aber nichts zu fühlen. „Er ist vor Kummer närrisch geworden,“ sagten die Leute. Das Feuer fing an zu verlöschen. Iwan aber stand noch immer da und wiederholte nur: „Brüder, was ist das? Ich brauchte es ja nur herauszuziehen!“
… dein Vater liegt im Sterben. Er lässt dich rufen, um von dir Abschied zu nehmen.
Am andern Morgen schickte der Gemeindeälteste seinen Sohn zu Iwan:
„Onkel Iwan, dein Vater liegt im Sterben. Er lässt dich rufen, um von dir Abschied zu nehmen.“
Iwan hatte seinen Vater vergessen und verstand nicht, was man ihm sagte.
„Was für ein Vater?“ fragte er, „wen lässt er rufen?“
„Dich lässt er rufen, um Abschied zu nehmen. Er liegt bei uns in der Hütte im Sterben, komm', Onkel Iwan!“ sagte der Sohn des Ältesten und zog ihn an der Hand.
Iwan ging mit. Als man den Alten aus dem Hause getragen hatte, war brennendes Stroh auf ihn gefallen und hatte ihn verletzt. Man hatte ihn zum Gemeindeältesten in einen entlegenen Hof gebracht. Jener Hof war nicht niedergebrannt.
Als Iwan zum Vater kam, fand er in der Stube nur die Frau des Ältesten und auf dem Ofen die Kinder. Alle andern waren auf der Brandstätte. Der Alte lag auf der Bank, mit einer Kerze in der Hand, und blickte immer zur Tür. Als der Sohn eintrat, bewegte er sich. Die Alte trat zu ihm heran und sagte, dass sein Sohn gekommen sei. Er ließ ihn näher herantreten. Iwan näherte sich, und der Sterbende begann zu sprechen:
„Nun, mein Junge,“ sagte er, „was hab' ich dir gesagt? Wer hat das Dorf niedergebrannt?“
„Er, Väterchen,“ antwortete Iwan, „er! ich hab' ihn ja dabei erwischt. Vor meinen Augen hat er das Feuer unters Dach gesteckt; ich hätte ja nur nötig gehabt, das brennende Strohbündel herauszuziehen und zu zertrampeln, und nichts wäre geschehen.“
… auch du wirst einmal sterben. Wessen Sünde ist es?
„Iwan,“ sprach der Alte, „meine Todesstunde ist gekommen, und auch du wirst einmal sterben. Wessen Sünde ist es?“
Iwan starrte den Vater an und schwieg; er konnte kein Wort hervorbringen. Der Alte wiederholte:
„Vor Gott frage ich dich, wessen Sünde ist es? Was habe ich dir gesagt?“
Ich bin schuldig vor dir und vor Gott
Jetzt erst kam Iwan zu sich und begriff alles. Er atmete schwer und sagte: „Meine Sünde, Väterchen!“ Und er fiel vor dem Vater auf die Knie, begann zu weinen und sprach:
„Verzeih' mir, Väterchen. Ich bin schuldig vor dir und vor Gott.“
Der Alte bewegte die Hände hin und her, nahm das Licht in die linke Hand, hob die rechte gegen die Stirn und wollte sich bekreuzigen, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu und ließ die Hände sinken.
„Ehre sei dir, Herr, mein Gott! Ehre sei dir, Herr,“ sprach er und richtete den Blick wieder auf seinen Sohn.
„Iwan!“
„Was denn, Väterchen?“
„Was soll denn jetzt geschehen?“
Iwan weinte noch immer.
„Ich weiß es nicht, Väterchen,“ sagte er, „wie soll ich jetzt überhaupt leben, Väterchen?“
Wie wir leben können
Der Alte schloss die Augen, bewegte die Lippen, als wollte er alle seine Kraft zusammennehmen, dann schlug er die Augen wieder aus und sagte:
„Ihr werdet schon leben. Wenn ihr mit Gott lebt, werdet ihr leben können.“
Der Alte schwieg eine Weile, lächelte und sprach: „Hör mal, Iwan, sage niemand, wer deinen Hof angezündet hat. Verrate nicht die fremde Sünde, dann wird Gott dir die deine doppelt verzeihen.“
Und der Greis fasste die Kerze mit beiden Händen, legte sie auf sein Herz, seufzte auf, streckte sich und starb.
Wenn ihr mit Gott lebt, werdet ihr leben können.
Iwan verriet den Gabriel nicht und niemand erfuhr, wodurch das Feuer entstanden war. Iwans Zorn auf Gabriel verlor sich und Gabriel wunderte sich, dass Iwan nichts gegen ihn gesagt hatte. Zuerst fürchtete er sich noch, dann aber gewöhnte er sich. Die Bauern hörten auf, sich zu streiten, und ihre Hausgenossen folgten ihrem Beispiel. Während die neuen Häuser gebaut wurden, wohnten beide Familien in einem Hof, und als das Dorf wieder aufgebaut war und die Häuser weiter auseinandergestellt waren, blieben Iwan und Gabriel wieder Nachbarn, in einem Nest. Und sie lebten nachbarlich, so wie die Alten miteinander gelebt hatten. Iwan Schtscherbakow gedachte der Ermahnungen seines alten Vaters und des Befehles Gottes, dass das Feuer gleich im Entstehen gelöscht werden müsse. Und wenn ihm etwas Böses zugefügt wurde, so dachte er nicht an Rache, sondern daran, wie er die Sache gut machen sollte; und wenn ihm jemand ein böses Wort sagte, so suchte er nicht nach einer bösen Antwort, sondern trachtete, den andern zu belehren, dass er nicht so böse sprechen dürfe. Ein Gleiches lehrte er die Weiber und Kinder seines Hauses. Und Iwan Schtscherbakows Wohlstand mehrte sich, und er lebte noch besser als früher.