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    Kim Jong-il’s funeral procession in 2011 in Pyongyang, North Korea.

    Vergebung für Kim Jong-Il

    von Kim Hyun-Sik

    Dienstag, 26. September 2017

    Verfügbare Sprachen: español, English

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    • Pastor Jürgen Riek

      Vielen herzlichen Dank für die berührende Geschichte von Kim Hyun-Sik, gerade auch in einer Zeit in der Nordkorea so stark im Fokus steht.

    Ich bin jetzt über achtzig Jahre alt, und es sind bereits fünfundzwanzig Jahre vergangen, seit ich Pjöngjang verlassen habe. Seit dem Koreakrieg, als ich die schweren Kämpfe gegen die amerikanischen Truppen nur knapp überlebte, habe ich mein Leben als unsicher empfunden. Alles, was ich mir jetzt wünsche, ist zu sehen, dass die Menschen von Nordkorea frei und in Liebe zu Jesus leben können, auch wenn es nur für einen Tag wäre. Hier ist meine Geschichte:

    Sonntagsschule

    Meine Mutter hatte im Ganzen acht Kinder, aber zwei ihrer Söhne starben an Masern. Jeden Sonntag weckte sie mich in der Frühe – nur mich, ihren Jüngsten – und wusch mich mit dem Wasser, das sie im Kessel erhitzt hatte, zog mir frische Kleider an und schnitt meine Finger- und Zehennägel. Dann holte sie Asche aus dem Küchenherd, polierte damit die Münzen für die Kirchenkollekte, bis sie glänzten, und steckte sie in meine Hosentasche. Sie sagte mir jedes Mal, dass ich gerade stehen und das Sonntagsschullied laut mitsingen sollte. Ich kann mich noch an den Text erinnern:

    Durch eine weitere Woche
    hat uns Gott beschützt in unserer Schwäche.
    An diesem glücklichen Tag, geliebter Freund,
    nehme ich froh deine Hand.
    Lasst uns Gottes Gnade preisen,
    Lasst uns Gottes Wort studieren.

    Meine Mutter hieß Lee Geum-nyo, was „seidene Frau“ bedeutet. Wie ihr Name war sie zärtlich und gütig wie Seide. Sie war eine geschickte Schneiderin und nähte Kleidung für jedermann in der Nachbarschaft. Wann immer die Leute Kleider aus Materialien benötigten, die schwer zu verarbeiten waren wie Seide oder Ramie, fiel diese Arbeit ihr zu.

    Etwa seit der Zeit, als ich alt genug war, das bewusst wahrzunehmen, litt meine Mutter an einer langwierigen Krankheit (Krebs, wie sich herausstellte). An einem beißend kalten Winterabend – ich war vierzehn – schaute sie ihre Kinder eines nach dem anderen an. Dann umarmte sie mich plötzlich und betete „Gott Vater, warum holst Du mich so früh? Wie kann ich diese Kleinen verlassen? Bitte behüte meine Kinder. Bitte lass meinen jüngsten Sohn Pfarrer werden.“ Während sie betete, fielen ihre heißen Tränen auf meine Wangen. In jener Nacht starb meine Mutter. Sie war fünfundvierzig Jahre alt.

    Kim Jong-il’s funeral procession in 2011 in Pyongyang, North Korea. Trauerzug für Kim Jong-il im Jahr 2011 in Pjöngjang (Nordkorea)
    Von Kim Hyun-Sik

    Kim Hyun-sik war von 1994 bis 2011 Privatlehrer von Kim Jong-il, dem Machthaber Nordkoreas. Seit seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten 2003 lehrt der Autor als Gastprofessor an der Yale University und als Forschungsprofessor an der George Mason University und hält vielerorts Vorträge über Nordkorea.

    Krieg

    Zwei Jahre später, am frühen Morgen des 25. Juni 1950, erwachten wir mit der Nachricht, dass es eine besondere Rundfunkansprache von Nordkoreas Führer Kim Il-sung geben würde. Als er sprach, war die ihm eigene raue Stimme voller Erregung:

    Heute am frühen Morgen hat die südkoreanische Marionettenarmee in einem Überraschungsangriff auf unser Land den achtunddreißigsten Breitengrad überquert. Unsere heldenhafte Volksarmee hat sie über die Grenze zurückgetrieben und stößt südwärts vor. Ich rufe alle Bürger auf, sich in diesem heiligen Krieg vereint zu erheben, um die Marionettenarmee in die Flucht zu schlagen. Der Sieg wird unser sein!

    Ich hatte gerade die elfte Klasse beendet. Von diesem Tag an wurde in jeder Schule und Arbeitsstätte dazu aufgerufen, der Armee beizutreten, und jeden Tag fanden Einberufungszeremonien statt. An meiner Oberschule schloss sich die gesamte Schülerschaft der Armee an, sobald unsere Musterung erfolgt war. Ich trat dem neugebildeten Nord-Hamgyong-Marinekorps bei und wurde direkt in den Kampf geschickt.

    Fünf Monate später, nach einem Tag des Kampfes inmitten schneebedeckter Hügel, suchte ich Schutz in einem einzeln stehenden Haus am Fuße eines Berges. Meine Baumwollstiefel waren völlig vereist. Die alte Frau, die dort wohnte, machte für mich Feuer und gab mir etwas Bohnenkuchen. Während ich diesen hinunterschlang, betrachtete sie mich aufmerksam und sagte schließlich: „Du kommst aus einer christlichen Familie, nicht wahr, kleiner Soldat?“

    Zu jener Zeit waren Christen Opfer strenger Überwachung und Verfolgung. Ihre Frage schockierte mich.

    „Warum sagen sie das, Großmutter?“

    „Ich sehe es dir an. Du kannst eine alte Diakonisse nicht täuschen.“

    Plötzlich breitete ich meine ganze Geschichte vor ihr aus – wie ich seit frühester Kindheit an Jesus geglaubt hatte, wie ich meine Mutter verlor, als ich vierzehn war, und wie sie mich, als sie starb, anflehte, Pfarrer zu werden.

    Als ich endete, ergriff sie meine Hand und sagte: „Geliebter Sohn, lass uns beten: Herr, bitte lass diesen Kindersoldaten nicht auf diesem schrecklichen Schlachtfeld sterben. Er muss den letzten Wunsch seiner Mutter erfüllen und Pfarrer werden. Bitte beschütze ihn. Lass ihn am Leben, damit er eine Arbeit tun kann, die dich erfreut.“

    Sobald es hell wurde, begann das Schießen erneut. An diesem Morgen wurde ich bei einem schweren Feuergefecht an Kopf und Beinen von Granatsplittern getroffen. Bevor ich das Bewusstsein verlor, war mein letzter Gedanke die Frage, warum warmes, klebriges Wasser von meinem Kopf rann.

    Als ich aufwachte, befand ich mich nicht mehr auf dem Schlachtfeld. Mein Kopf und meine Beine steckten in engen Verbänden und überall um mich herum lagen verwundete Soldaten. Ich spürte starke Schmerzen im Kopf, und als ich meine Hand nach oben führte, um ihn zu berühren, fand ich ein Stück Papier, das neben mich gelegt worden war. Darauf stand:

    Ich wohnte in deinem Nachbarhaus, bevor ich Medizin studierte. Jetzt bin ich Krankenschwester in der Volksarmee. Ich hoffe, dass ich dein Leben retten kann, indem ich dich in einen Zug nach China setze. Du musst überleben. Wir sehen uns zuhause.
    Choi Suk-jong, 3. Dezember 1950

    Der Soldat im Nachbarbett hatte mich die ganze Zeit beobachtet. „Ich freue mich, dass du endlich aufgewacht bist“, sagte er. „Du warst so lange bewusstlos, dass ich Angst hatte, du würdest uns wegsterben.“

    „Wo bin ich?“

    „Im Armeekrankenhaus in Changchun in China. Sie haben dich vor zehn Tagen hierhergebracht. Die USA flogen an diesem Tag einen schweren Bombenangriff, und es kamen viele Verwundete herein. Sie schickten nur die zurück, die eine Chance hatten zu überleben, wenn sie versorgt würden. Die anderen wurden in einer großen Grube mit den Toten begraben. Als sie deine Identitätskarte überprüften, um dich als im Kampf gefallen zu melden, fand Choi Suk-jong heraus, wer du warst, und brachte sie dazu, dich in den Zug zu setzen. Sie sagten, sie könnten keine Soldaten mitnehmen, die so gut wie tot waren, aber sie erzählte ihnen, dass du ihr jüngerer Bruder wärst, und flehte den befehlshabenden Offizier so lange an, bis er ihr gestattete, dich in das Güterabteil zu legen. Sie nahm sogar Schnur und band dich fest, damit du nicht herausfällst, und legte dir eine Windel an. Wäre sie nicht gewesen, wärst du tot.“

    Ich erinnerte mich an Choi Suk-jong. Sie hatte im Chor unserer alten Kirche gesungen. Als der Krieg zu Ende war, suchte ich überall nach ihr, aber niemand wusste, wo sie war. Später erfuhr ich, dass einen Tag, nachdem ich weggebracht wurde, fast alle im Feldlazarett durch einen Bombenangriff umgekommen waren.

    Im darauffolgenden Juli wurde ich aufgrund meiner Invalidität aus der Armee entlassen. Ich hatte in meinem Kopf nahe am Gehirn noch einen Granatsplitter, obwohl dies erst fünfundzwanzig Jahre später durch einen Chirurgen entdeckt wurde. Ich hörte, dass Kim Il-sung in Nordkorea die Universitäten wiedereröffnet hatte und Studenten suchte. So erhielt ich zusammen mit zwei anderen Männern Empfehlungsschreiben und machte mich mit ihnen auf den Weg nach Pjöngjang, die Hauptstadt Nordkoreas.

    Hinter der Grenze fuhren wir auf der Ladefläche eines Lastwagens durch die Provinz Pjöngjang. Plötzlich wurden wir von einer Bombe getroffen. Wir wurden hoch in die Luft geworfen und auf die Erde zurückgeschleudert. Als ich erwachte, spürte ich überall Kälte und stellte fest, dass ich kopfüber in einem Reisfeld gelandet war. Den Lastwagen hatte es in Stücke gerissen. Einer der Männer war tot, sein Kopf war am Straßenrand an einem Felsstein zertrümmert worden. Der andere war schlicht verschwunden; er wurde nie gefunden.

    Nunmehr allein schleppte ich mich, bis ich zwei Wochen später Pjöngjang erreichte. Dort fand ich die Fakultät für Bildung in einem unterirdischen Luftschutzbunker im Bezirk Moranbong. Ein Mann, der wie ein Parteikader aussah, empfing mich. Als russischstämmiger Koreaner, war er von Stalin geschickt worden, um nach dem Ende der japanischen Besatzung beim Wiederaufbau Koreas zu helfen. Als er erfuhr, dass ich an der Oberschule Russisch gelernt hatte, schrieb er mich an der Lehrerfakultät mit Russisch als Hauptfach ein und wurde mein Mentor, der mich in Russisch unterrichtete. Nach meinem Abschluss empfahl er mich für eine Professur.

    Mein Schüler Kim Jong-il

    Ich hatte geheiratet und war Professor, als ich Kim Jong-il das erste Mal traf. Heute ist er als grausamer Diktator in Erinnerung, aber als ich ihn 1959 zum ersten Mal traf, war er ein schüchterner junger Mann mit flauschigem Haar und Wangen, die sich hellrot färbten, wenn er verlegen war. Sein Vater Kim Il-sung bat mich, ihn in Russisch zu prüfen, denn er sagte, dass seine Kenntnisse in dieser Sprache miserabel waren. (Kim Il-sung hatte in der Sowjetarmee gekämpft und sprach deshalb fließend Russisch.) Ich rief den Jungen in das Direktorzimmer, wo ich ihn einer mündlichen Prüfung unterzog.

    Fünfzig Jahre später kann ich mich noch an die Sätze erinnern, die Kim Jong-il ins Russische übersetzen sollte: „Ich liebe und achte meinen Vater. Nach dem Abschluss der Oberschule habe ich vor, die Kim Il-sung-Universität zu besuchen. Ich mag Filme lieber als Sport.“

    Während er sich abmühte, meine Fragen zu beantworten, färbten sich seine Wangen dunkelrot, und seine Augenbrauen bedeckten Schweißperlen. Er wirkte sehr jung und unschuldig, kein bisschen arrogant oder eingebildet, Kim Il-sungs Sohn zu sein.

    Nach der Prüfung wies mich Kim Il-sung an, seinem Sohn Privatunterricht in russischer Konversation zu geben. Unsere Unterrichtsstunden wurden das ganze nächste Jahr fortgesetzt, und der junge Mann gab sich große Mühe. Jeden Tag wenn die Stunde vorbei war, ging er mit mir zur Tür und ließ russische Schokolade oder chinesische Zigaretten in meine Hosentasche gleiten. Nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich nicht rauchte, gab er mir stattdessen chinesische Süßigkeiten.

    Seinen „Abschluss“ machte er auf einem russischen Kulturabend während der Nationalen Konferenz der Russischlehrer. Kim Jong-il trug Puschkins Gedicht „Winterliche Straße“ vor. Seine Rezitation war großartig und zeitlich passend: Draußen tobte ein heftiger Schneesturm. Das Publikum spendete betäubenden Applaus und rief seinen russischen Namen: „Kim Yura, Kim Yura!“ Er kam zu mir herübergerannt, umarmte mich und brach in Tränen aus. Ich war so stolz auf ihn, dass ich auch weinte.

    Zum letzten Mal traf ich Kim Jong-il zwanzig Jahre später. Das war 1978 bei den Feierlichkeiten zum dreißigsten Jahrestag der Gründung Nordkoreas. Zusammen mit dem Vizeaußenminister stand ich auf der Ehrentribüne auf dem Kim Il-sung-Platz und bereitete mich darauf vor, den chinesischen Premierminister zu empfangen. Am späten Abend erschien Kim Jong-il auf der Tribüne und sprach kurz mit mir. Als er ging, ergriff er meine Hand, schüttelte sie kräftig und sagte: „Lass uns uns erneut treffen. Wir müssen uns wiedersehen.“

    The author with his mother and family on his first birthday, 1933. Der Autor mit seiner Mutter und Familie an seinem ersten Geburtstag im Jahr 1933.

    Moskau

    Als Seoul die Bewerbung um die Austragung der Olympischen Spiele von 1988 gewann, stieg die Bekanntheit sowohl Süd- als auch Nordkoreas in der Welt sprunghaft an. Die Sowjetunion hatte das nordkoreanische kommunistische Regime seit langem finanziell unterstützt, begann jetzt jedoch die Beziehungen ernster zu nehmen. Sowjetische Universitäten fingen an, Fachbereiche für koreanische Sprache einzurichten. Da es nicht genügend qualifizierte koreanische Lehrkräfte gab, kamen zahlreiche sowjetische Dozenten nach Pjöngjang, um Koreanisch zu lernen. Ich war einer der wenigen qualifizierten nordkoreanischen Professoren, weshalb mir ein Großteil dieser Arbeit zufiel.

    Zu jener Zeit verfügte ich über langjährige Erfahrung als Sprachlehrer und kannte zahlreiche Tricks, um den Unterricht interessant zu machen. Die Russen mochten die Stunden bei mir und lernten fleißig. Bald jedoch begannen sie, sich über die schäbigen Unterrichtsräume und ungemütlichen Wohnungen zu beschweren und verlangten, mich nach Russland zu schicken, um sie dort in Koreanisch zu unterrichten. Überraschenderweise stimmte die Partei zu, und ich wurde 1988 als Austauschprofessor nach Moskau gesandt.

    Es sprach sich unter den Studenten bald herum, dass der Unterricht bei dem neuen Koreanisch-Lehrer leicht und effektiv war. Nach ungefähr zwei Monaten hörten auch die südkoreanischen Geheimagenten von meinem Unterricht und setzten sich mit mir in Verbindung. Sie schlugen mir vor, von Nord- nach Südkorea überzulaufen, aber ich lehnte ab. Nach so vielen Jahren als Professor in Nordkorea, einschließlich meiner Stellung als Privatlehrer für Kim Il-sungs Angehörige, hatte ich kein Interesse, meine Familie zurückzulassen.

    Als ich ihre Angebote ablehnte, spürten die südkoreanischen Agenten meine ältere Schwester auf, von der ich viele Jahre nichts gehört hatte. Während des Krieges war sie auf einem Schiff der US-Marine nach Südkorea geflohen und hatte sich schließlich in Chicago niedergelassen. Ich hatte die Hoffnung verloren, sie je wiederzusehen. Jetzt arrangierten die südkoreanischen Agenten ein Treffen zwischen uns. Ihre plötzliche Ankunft in Moskau im November 1991 löste eine Kette von Ereignissen aus, die mein Leben durcheinander brachten.

    Sie war jetzt siebzig Jahre alt. Als ich ihre Hand nahm und an die beschwerliche Reise dachte, die sie unternommen hatte, um mich im klirrenden Winter zu besuchen, brach ich in Tränen aus. Sie blieb eine Woche, und die meiste Zeit, die wir zusammen waren, verbrachten wir weinend. Gleichzeitig versuchte ich, den Schein zu wahren, erschien jeden Tag pünktlich an der Universität und passte auf, mir nicht anmerken zu lassen, dass etwas Außergewöhnliches geschehen war.

    Einen Tag nach ihrer Rückkehr nach Amerika erhielt ich eine dringende Nachricht vom nordkoreanischen Geheimdienst, der mich anwies, Russland am nächsten Tag zu verlassen und nach Pjöngjang zurückzukehren. Später erfuhr ich, dass der russisch-südkoreanische Kontakt, der meine Schwester zu mir geführt hatte, ein Doppelagent war. Er hatte den Nordkoreanern alles mitgeteilt, was wir getan, gesagt und sogar, was wir während dieser gemeinsamen Woche gegessen hatten.

    Reunited after forty-two years: the author and his sister in Moscow, 1991. Wiedervereint nach vierundzwanzig Jahren: der Autor und seine Schwester 1991 in Moskau

    Entscheidung

    Was sollte ich tun? Ich wusste, dass, falls ich wie befohlen nach Nordkorea zurückkehrte, im günstigsten Fall alles, wofür ich gearbeitet hatte, verlieren und in ein politisches Gefangenenlager geschickt würde. Noch wahrscheinlicher aber würde ich vor ein Erschießungskommando kommen. „Warum haben Sie sich mit einem Staatsangehörigen des Feindes getroffen? Seit wann haben Sie Kontakt zu südkoreanischen Spionen?“ Sie würden mich foltern und mir alle möglichen Straftaten anhängen.

    Strafverschärfend käme die Tatsache hinzu, dass ich die Existenz meiner Schwester vierzig Jahre lang vor den Behörden verheimlicht hatte. Die nordkoreanische Regierung betrachtete die Vereinigten Staaten nach wie vor als Feind, und wenn sie gewusst hätten, dass ich einen Verwandten hatte, der dort lebte, wäre ich als Person mit verdächtigem Charakter behandelt und vom Besuch der Universität und einem Leben in Pjöngjang ausgeschlossen worden. Neben dem Spionagevorwurf könnten sie jetzt auch beweisen, dass ich meine Familienakten gefälscht hatte, um die Existenz meiner Schwester zu verheimlichen.

    Ich überlegte hin und her. Wenn ich überlief, wäre meine Familie in Gefahr, ebenso wie die Kollegen, die mir Leumundszeugnisse ausgestellt hatten. Andererseits wusste ich aber auch, dass sie, selbst wenn ich zurückginge, um meiner Strafe entgegenzusehen, ohnehin bereits in Gefahr waren.

    Eine zusätzliche Erschwernis stellte die politische Weltlage dar. Just zu jener Zeit, in den letzten Wochen des Jahres 1991, löste sich die Sowjetunion auf, was die Position Nordkoreas gefährdete. In Europa war eine kommunistische Regierung nach der anderen gefallen; in Rumänien, war Kim Il-sungs enger Freund, der Diktator Nicolae Ceausescu, erschossen worden. Gleichzeitig hatten sich die ehemals geteilten Länder Deutschland, Vietnam und Jemen wiedervereint, und es schien wahrscheinlich, dass auch Kim Il-sungs Regime in Nordkorea bald zusammenbrechen und die Wiedervereinigung meines Landes möglich würde. Die südkoreanischen Agenten erklärten mir, dass ich, falls ich überlief, in Sicherheit abwarten könnte, bis es soweit war, um dann zu meiner Familie zurückzukehren.

    Ich hatte vierundzwanzig Stunden, um diese schmerzhafte Entscheidung zu treffen. Ich dachte an meine Frau in Pjöngjang, daran, wie sie geweint hatte, als ich nach Russland ging, und mich bat, wohlbehalten zurückzukommen.

    Meine geliebte Frau. Wir hatten uns an der Universität kennengelernt und 1955 geheiratet, als Pjöngjang in Trümmern lag. Sie hatte mich unterstützt, als ich durch den Krieg körperlich und seelisch zerbrochen war. Wir hatten zusammen zwei Söhne und zwei Töchter bekommen. Auch einen Verlust hatten wir erfahren: Unser jüngster Sohn, Hunchol, war an einem Hirntumor gestorben, bevor er die Universität abschließen konnte. Aber die anderen Kinder waren gesund aufgewachsen, und wir waren eine glückliche, zufriedene Familie gewesen. Jetzt hatten wir fünf Enkelkinder.

    Als ich nach Russland reiste, hatte meine Frau mit großen Buchstaben in mein Notizbuch geschrieben: „Schuhe, Stoff und Baumwolle zum Nähen von Decken, Lesebrille“. Diese Dinge waren in Nordkorea schwer zu bekommen, und sie wollte sicher sein, dass ich daran dachte, sie in Russland zu kaufen. Die Lesebrille war für sie, die Schuhe für unsere Enkelkinder und aus dem Stoff sollte für unsere jüngste Tochter eine Decke genäht werden. Ich hatte alle Geschenke gekauft, sobald ich in Russland meinen ersten Gehaltsscheck erhalten hatte.

    Was würde jetzt aus meinen Enkelkindern werden? Ich erinnerte mich, wie sie vor meiner Abfahrt voller Vorfreude gelacht hatten, als sie die Umrisse ihrer Füße auf Papier zeichneten, damit Opa die richtige Größe kaufen würde ...

    In dieser Nacht schlief ich nicht. Ich sah die ganze Zeit die Gesichter meiner Familie und meiner Studenten vor mir. Schließlich beschloss ich, in den Süden zu gehen.

    Am nächsten Tag ging ich nicht zur Arbeit sondern in ein konspiratives Haus, das der südkoreanische Geheimdienst vorbereitet hatte. Mein Leben im Untergrund hatte begonnen. Sobald ich verschwunden war, begannen der russische und der nordkoreanische Geheimdienst, fieberhaft nach mir zu suchen, und sperrten alle Häfen und Flugplätze.

    Das südkoreanische konspirative Haus befand sich genau neben der Botschaft Nordkoreas. In den Straßen rings um mein Versteck wimmelte es von Agenten. Doch es war wie im Sprichwort: „Unter der Lampe ist es am dunkelsten.“ Sie hätten sich nie träumen lassen, dass ich mich vor ihrer Nase versteckt hielt. Nach sechs Monaten gaben die Nordkoreaner die Suche auf, und die südkoreanischen Geheimdienstler verbreiteten das Gerücht, dass mich die russische Mafia entführt hatte.

    Die Südkoreaner gaben mir den Reisepass eines Russlandkoreaners und ein neues Aussehen, damit ich seinem Foto ähnelte. Im Juni 1992 wurde ich in ein Flugzeug zur Westküste Russlands und dann in ein Schiff Richtung Südkorea gesetzt. Vor dem Verlassen des Hafens durchsuchten russische Sicherheitskräfte das Schiff nach Schmuggelware und blinden Passagieren. Der Schiffseigner riet mir, den Schornstein hinaufzuklettern und mich oben in einem engen Zwischenraum zu verstecken, wo ich fünf Stunden lang ausharrte, bis die Sicherheitskräfte weg waren. Als ich herunterkam, war ich mehr tot als lebendig – mein Gesicht war Schwarz von Rauch und Asche und mit Tränen bedeckt.

    Ich lag in meiner engen Koje, als ich endlich spürte, wie sich das Schiff zu bewegen begann. Jetzt wusste ich, dass ich niemals heimkehren würde. Die Gesichter meiner Familie erschienen mir eines nach dem anderen und peinigten mich, bis ich das Gefühl hatte, den Verstand zu verlieren. Warum hatte ich mich so entschieden? Sicher wäre es besser gewesen, zurückzukehren und mit allen gemeinsam ins Gefangenenlager zu gehen. Mein Herz war voller Qual.

    Nach zwei Tagen legte das Schiff in Masan, Südkorea, an.

    In disguise at a Russian port, ready to board a ship to South Korea, 1992. 1992 mit neuem Aussehen in einem russischen Hafen, bereit an Bord eines Schiffes nach Südkorea zu gehen

    Hungerstreik

    Als ich in Südkorea an Land ging, suchten mich Geheimdienstmitarbeiter auf, und sobald wir den Zug nach Seoul bestiegen hatten, begannen sie, mich zu verhören.

    „Warum sind Sie hierhergekommen?“

    Warum ich hierhergekommen bin? Sie haben meine Schwester den weiten Weg aus Amerika machen lassen. Sie haben es mir unmöglich gemacht, nach Pjöngjang zurückzukehren. Sie haben mir gesagt, dass, wenn ich überliefe, meine Familie in Sicherheit wäre.

    „Haben Sie in Nordkorea eine schwere Straftat begangen? War es wegen finanzieller Probleme? Haben Sie etwas Reaktionäres gesagt?“

    Ich hatte eine böse Vorahnung, sorgte mich aber nicht allzu sehr. Womöglich dachte ich, dass sie über die Art meiner Flucht nicht informiert waren und sich alles klären würde, sobald ich in Seoul ankam. Doch nach meiner Ankunft wurde ich in ein Geheimgefängnis gebracht, wo das Verhör fortgesetzt wurde.

    „Sie müssen gegenüber der Presse Ihre Identität offenbaren. Wer sind diese Schüler von Ihnen, die für Ihren Charakter gebürgt haben?“

    Ich war sprachlos. Ich war unter der Bedingung übergelaufen, dass meine Identität geheim gehalten würde. Es war das Einzige, was ich tun konnte, um den Schaden für die, die ich zurückgelassen hatte, zu begrenzen. Und jetzt, kaum dass ich in Südkorea angekommen war, brachen sie ihr Versprechen. Jeden Tag stellten sie mir wieder und wieder die gleiche Frage:

    „Warum sind Sie gekommen?“

    Jetzt musste ich mir diese Frage selbst stellen. Warum hatte ich mein Leben riskiert, um nach Seoul zu kommen? Die Zeit mit meiner Schwester in Russland, ihre Tränen und Gebete waren nur noch eine ferne Erinnerung.

    Schließlich antwortete ich: „Ja, jetzt sieht es so aus, als hätte ich nicht hierherkommen sollen. Ihre Agenten haben mich hergebracht: Wenn es irgendetwas gibt, das Sie nicht über mich wissen, weiß ich es auch nicht. Ab jetzt trete ich in den Hungerstreik. Es gibt nichts, was ich Ihnen noch zu sagen oder von Ihnen zu hören hätte. Wenn ich hier im Stillen sterbe, wird es für meine Familie und meine Schüler zumindest nicht allzu schlimm.“

    Nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, war ich nicht einmal hungrig, als sie mein Essen brachten. Nach einer Woche konnte ich nicht mehr klar denken. Es schien besser zu sterben, als dieses feige Dasein fortzusetzen. Schließlich, als ich dem Tode nahe war, gaben die Agenten auf. Ich brach meinen Hungerstreik erst ab, nachdem ich ihre feste Zusage erhalten hatte, meinen Namen nicht an die Presse weiterzugeben. Das war zwei Wochen, nachdem ich aufgehört hatte zu essen.

    The demilitarized zone separating North and South Korea.
    Die entmilitarisierte Zone, die Nord- von Südkorea trennt.

    Neubeginn

    Ich radierte die fünfzig Jahre aus, die ich in Nordkorea gelebt hatte, und begann unter einem neuen Namen ein neues Leben. Mein altes Ich starb mit meinem Namen und wurde für immer in meinem Gedächtnis begraben, aber die Anpassung an diese neue Gesellschaft war alles andere als leicht. Jeden Tag fragte ich mich, warum ich hierhergekommen war. Ich verzweifelte an dem neuen Leben, das ich gewählt hatte. Was sollte ich in diesem verwirrenden Land tun? Mehr als alles war ich voller Verbitterung gegen die Menschen, die sich die Mühe gemacht hatten, meine Schwester aus Amerika zu holen, um mich hierherzubringen. Ich war von mir selbst angewidert, weil ich mich in ihre Hände begeben hatte. Meine Reue und meine Verbitterung hielten mich viele Nächte lang wach.

    Die Monate vergingen. Dann erfuhr ich eines Tages, dass Kim Jong-il, mein früherer Schüler, befohlen hatte, meine ganze Familie zu erschießen.

    Die Nachricht von ihrem Tod zerriss mir das Herz. Ihre Gesichter standen mir vor Augen: die Frau, die mein Leben geteilt hatte, die Söhne und Töchter, die wir aufgezogen hatten, unsere Schwiegertochter, unsere fünf süßen Enkelkinder …

    Ich konnte mir selbst meinen Anteil an ihrem Tod nicht vergeben. Der Hungerstreik, um meine Identität zu verbergen, war vergebliche Mühe gewesen. Ich verlor jeden Lebenswillen. Viele Male überlegte ich, mich umzubringen. Immer wenn ich an Kim Jong-il dachte, stiegen Verbitterung und Wut in mir auf. Hass war alles, was mir geblieben war.

    Ich kämpfte lange, um in Südkorea meinen Platz zu finden. Ich hatte ständig Angst um meine Sicherheit und war diese neue Lebensweise mit den vielen Wahlmöglichkeiten nicht gewohnt. Schließlich fand ich Hilfe bei Kim Hyun-ja, einer Frau, die ich in Russland kennengelernt hatte. Wir wurden besser miteinander bekannt, und 1994 heirateten wir. 2003 zogen wir in die Vereinigten Staaten.

    Bald baten mich Universitäten, Vorlesungen über Nordkorea zu halten, und ich begann, mich mehr und mehr für den Wiedervereinigungsprozess zu engagieren. Jeden Morgen lasen meine Frau und ich die Bibel und beteten zusammen.

    Eines Tages betete ich: „Herr Gott, Kim Jong-il hat hunderttausende meiner Landsleute verhungern lassen und aus meinem Heimatland eine Hölle auf Erden gemacht. Um seiner eigenen Macht willen hat er meine ganze Familie erschießen lassen, doch er lebt ohne Scham weiter. Mach dass ihn der Blitz trifft und richte über ihn. Ich bete im Namen von Jesus, Amen!“

    Meine Frau sagte: „Ich kann zu diesem Gebet nicht ‚Amen‘ sagen. Ich glaube, Gott liebt sogar Kim Jong-il.“

    „Du kannst glauben, was du willst. Ist Gott nicht ein Gott der Gerechtigkeit? Wenn ja, sollte er dann nicht über Kim Jong-il richten?“

    „Ja, er ist ein Gott der Gerechtigkeit, aber er ist auch ein Gott der Liebe. Du musst Kim Jong-il vergeben.“ So sagte jeder an jenem Tag nur „Amen“ zu seinem eigenen Gebet. Diese Unstimmigkeit zwischen uns währte ein ganzes Jahr lang.

    Das änderte sich eines Tages, als wir zusammen das Buch Exodus lasen. Ich war stark getroffen durch die Worte: „Gott verhärtete das Herz des Pharaos“. Vielleicht, dachte ich, benutzt Gott Menschen wie den Pharao – Menschen wie Kim Jong-il – für seine Zwecke.

    Da wusste ich, dass ich ihm vergeben musste. Es kostete mich einen schweren Kampf, das zu tun. Doch als er ausgekämpft war, und ich Kim Jong-il vergeben konnte, erfüllte ein großer Frieden mein Herz. Danach konnten meine Frau und ich wieder zusammen beten. Jeden Tag beteten wir für ihn.

    Im Ergebnis dessen beschloss ich 2007, ihm einen Brief zu schreiben. Hier sind Auszüge daraus:

    Lieber Vorsitzender Kim,

    Es ist jetzt achtundzwanzig Jahre her, seit ich auf dem Kim Il-sung-Platz zum letzten Mal mit Dir sprach. Seit damals habe ich mich verändert, du hast dich verändert, die Welt hat sich verändert.

    Nachdem ich Pjöngjang verlassen hatte, lebte ich zehn Jahre in Seoul, und jetzt lebe ich in Amerika, dem Land des „ewigen Feindes“. Ich kann nicht alles, was in diesen Jahren geschehen ist, in wenigen Worten darstellen. Zunächst fiel es mir sehr schwer, Fuß zu fassen. Der südkoreanische Dialekt war schwer zu verstehen, und nordkoreanische Flüchtlinge werden nicht sehr gut behandelt. An den südkoreanischen Kapitalismus gewöhnt man sich nicht so leicht. Es war schwer, hier meinen Platz zu finden, wo alles davon abhängt, wen du kennst und mit wem Du zur Schule gegangen bist. Wenn ich wütend oder frustriert war, wenn ich Pjöngjang plötzlich vermisste, dachte ich immer an Dich. Wenn Du aus Nordkorea einen lebenswerten Ort gemacht hättest, wäre ich nie hierhergekommen. Aber ich wollte nicht in eines Deiner Gefangenenlager geschickt werden.

    Viele Menschen hier hassen Dich. Wenn ich sie sehe, denke ich an Dich als schüchterner Junge mit flauschigem Haar, wie Du ganz nervös und zitternd vor dem Prüfungstisch gestanden hast. Wann hast Du Dich so verändert?

    Ganz Nordkorea ist doch ein Gefangenenlager, oder? Es gibt dort keine Freiheit, nur die Freiheit, Dir und Deinem Vater zu glauben und zu gehorchen. In ganz Nordkorea gibt es nur einen Menschen, der frei geboren wurde und die Rechte genießt, die einem menschlichen Wesen zustehen – Du.

    Ich, der ich Nordkorea verlassen habe, bete für Dich, der Du es mir unmöglich gemacht hast, zu meiner Familie zurückzukehren. Ich bete für Dich, weil ich Dein Lehrer bin, der Dich noch in Erinnerung hat, wie Du in Deiner Russischprüfung die Antworten hervorgestammelt hast. Ich bete dafür, dass Nordkorea geöffnet wird. Ich bete dafür, dass Du bereust.

    Vorsitzender Kim, es ist mir nicht leicht gefallen, für Dich zu beten – wie auch? Ich habe wegen Dir meine geliebte Familie verloren. Als ich nach Seoul kam, versuchte ich, meine Identität zu verbergen, aber ich erfuhr, dass Du meine Angehörigen aufgespürt und sie als Konterrevolutionäre hingerichtet hast. Wenn Du denkst, dass Du Menschen auf diese Weise davon abhalten kannst, aus Deinem Land zu fliehen, irrst Du Dich gewaltig.

    Vorsitzender Kim, immer wenn ich an meine Familie dachte, hasste ich Dich so sehr, dass es mich fast umbrachte. Die Frau, die mein ganzes Leben mit mir teilte, die Söhne und Töchter, die wir zusammen aufzogen, unsere Schwiegertochter, die wundervollen Enkelkinder. – Ich kann mir selbst den Anteil, den ich an ihrem Tod hatte, nicht vergeben. Ich habe viele Male daran gedacht, mich umzubringen, und sehnte mich Tag um Tag danach zu sterben.

    Aber ich möchte nicht über meinen Groll gegen Dich sprechen. Ich bin schon über siebzig Jahre alt und spüre, wie meine Kraft jeden Tag nachlässt. Bevor ich noch viel älter werde, würde ich Dich gern wiedersehen. Ich hasse Dich nicht mehr. Obgleich Du meine Familie umgebracht hast, habe ich Dir vergeben.

    Ich bin am Leben, und ich werde die mir verbliebene Kraft dafür einsetzen, dass in dem Land, wo meine Familie geschunden wurde, eines Tages Gottes Evangelium gehört wird, so dass es eines Tages ein Land der Bildung sein wird, das die ganze Welt beneidet, und ein Land des Glaubens, das der Welt ein Vorbild ist.

    Dein Lehrer aus alten Tagen,
    Kim Hyun-sik

    Versöhnung

    Während ich in Seoul lebte, hielt ich am Nationalen Geheimdienstlichen Institut eine Vorlesung über den Koreakrieg vor einer Hörerschaft aus Reserveoffizieren, von denen viele im Krieg gekämpft hatten. Ich erzählte, wie ich durch Granatsplitter von einer Mörsergranate schwer verwundet worden war. Ein Mann aus dem Publikum hob die Hand und fragte:

    „Erinnern Sie sich, wann und wo Sie verwundet wurden?“

    „Natürlich, wie könnte ich das vergessen? In der Schlacht im Hochland bei Yongan in Nord-Hamgyong im Dezember 1950.“

    „Ah …, es tut mir sehr leid. Ich war als Offizier in jener Schlacht und befehligte die Granatwerfer.“

    Er verbeugte sich und entschuldigte sich respektvoll. Plötzlich voller Wut kam ich vom Podium herunter, packte ihn bei den Schultern und schrie ihn an:

    „Das ist wohl auch angebracht, nicht wahr, nachdem sie mich so zugerichtet haben! Schauen Sie sich meinen Kopf an! Sehen Sie diese Wunde – Ich habe fünfundzwanzig Jahre mit einem Granatsplitter im Kopf gelebt! Haben Sie eine Ahnung, wie das die ganz Zeit schmerzt?“

    Die Wut und Trauer, die ich jahrzehntelang unterdrückt hatte, brachen aus mir hervor. Ich schrie weiter auf ihn ein, wie von Sinnen vor Zorn.

    „Es tut mir leid, es tut mir leid.“ Er nahm seinen Gürtel ab und reichte ihn mir. „Ich erhielt diesen Gürtel als Anerkennung meiner Dienste, als ich aus der Armee entlassen wurde. Er mag sie nicht trösten, aber da ich Ihnen nicht mein Herz geben kann, gebe ich Ihnen stattdessen meinen Gürtel. Bitte nehmen sie ihn.“

    Er stand vor mir, den Kopf gebeugt, und bat mich um Vergebung. Ich nahm den Gürtel in die Hände und vergab ihm. Ich habe diesen Gürtel noch immer, und wann immer ich ihn trage, denke ich an seine Wärme und Bescheidenheit.

    Ich hatte ein weiteres überraschendes Erlebnis, diesmal in Amerika.

    Es war im Sommer 2001 bei einer Stadtbesichtigung in Washington, als ich in ein gepflegtes Wohnviertel mit einstöckigen Häusern kam. Alle Häuser sahen exakt gleich aus, nicht wie ein normales Wohnviertel. „Diese Häuser wurden von der Regierung für Witwen von amerikanischen Soldaten gebaut, die im Koreakrieg gefallen sind“, erzählte mir mein Stadtführer. „Sollen wir wieder herausgehen?“ Ich folgte ihm.

    Viele Amerikaner waren im Krieg ums Leben gekommen. Sie waren das raue Klima nicht gewöhnt. Viele starben durch Granaten, erfroren in der Kälte oder verhungerten, wenn die Versorgungslinien unterbrochen waren.

    Nachdem wir ein Stück gegangen waren, trafen wir eine ältere Frau, die mit einem Jungen, der wie ihr Enkelsohn aussah, auf einer Bank saß. Sie fragte mich, ob ich Japaner wäre. Ich sagte ihr, dass ich Koreaner war, und sie ergriff meine Hand.

    „Du stammst aus dem Land, in dem mein Ehemann begraben liegt. Sie konnten seine Leiche nicht finden. Ich bekam nur einen Brief von der Regierung. Aber ich weiß, dass er irgendwo in Korea seine letzte Ruhe gefunden hat.“

    Als ich sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, dachte ich an jenen Winter 1950 in Nord-Hamgyong zurück, als unsere Truppen unter ständigem Mörserbeschuss die Anhöhe in Eoryongchon verteidigten. Jedes Mal wenn eine Granate einschlug, fielen einige unserer Männer. Als der Angriff endete, waren von unserem fünfzigköpfigen Zug nur noch drei oder vier Mann am Leben. Der Feind bewegte sich auf unsere Stellung zu, in der Annahme, wir wären alle tot. Als sie nur noch dreißig oder vierzig Meter entfernt waren, schrie unser Sergeant: „Granaten fertig machen! Bestücken! Feuer!“

    Die Granaten explodierten mit ohrenbetäubendem Lärm, und die gegnerischen Soldaten begannen zu rennen. Der Sergeant und die anderen verfolgten sie und feuerten weitere Granaten ab. Ich konnte mich nicht bewegen. Genau vor mir rollte ein amerikanischer Soldat über den Boden; seinen Körper hatte es in zwei Hälften gerissen. Er war blutüberströmt.

    „Großmutter, vergib mir. Ich war nordkoreanischer Soldat. Ich habe Granaten auf deinen Mann und viele andere Amerikaner abgeschossen. Bitte vergib mir.“

    Ich verneigte mich vor ihr. Doch sie war nicht wütend auf mich. Sie berührte die alten Wunden an meinem Kopf und Arm. „Wie sehr haben sie geschmerzt? Du musst auch von unseren Geschützen getroffen worden sein. Es tut mir auch leid.“

    Sie nahm meine Hand und betete. Als sie betete, wurde mein Herz ruhig. Ich fühlte, dass die Wunden in meiner Seele von den Schüssen auf generische Soldaten, davon, dass mich ihre Geschosse an die Schwelle des Todes gebracht hatten, durch ihr Gebet fortgespült wurden.

    Ich fühlte, wie Gott durch diese zwei scheinbar zufälligen Ereignisse zu mir sprach. Er wollte mich verändern, die mit Wut und Verzweiflung besudelten Erinnerungen von mir nehmen und durch Vergebung und Versöhnung eine neue Welt auftun.

    Mein ehemaliger Schüler Kim Jong-il starb 2011 – soweit ich weiß, ohne bereut zu haben. Doch ich sehne immer noch die Wiedervereinigung Koreas herbei. Das kann nur geschehen, wenn wir einander vergeben und uns in Liebe umarmen.

    Wir brauchen die gleiche Liebe, die Gott mir durch die Witwe eines amerikanischen Soldaten zeigte. Es geht nicht nur darum, zwei Landesteile zusammenzufügen, die getrennt wurden. Wir müssen uns gegenseitig respektieren und akzeptieren, wie zwei Flüsse, die ineinanderfließen. Ist das nicht die einzig wahre Wiedervereinigung? Ist es nicht das, was Gott will?


    Übersetzt aus dem Englischen von Natalie Krugiolka.

    The author with his second wife, Kim Hyun-ja. Der Autor mit seiner zweiten Frau Kim Hyun-ja
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