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Ausbeutung in Textilfabriken läuft wie eh und je
von Maria Hengeveld
Freitag, 15. November 2019
Frauen stärken zu wollen, verkauft sich gut. So werden Empowerment-Botschaften wie „Du schaffst es, Mädchen!“ schon seit Jahren eingesetzt, um die Verkaufszahlen anzukurbeln, sei es für Schuhe, Duschgel oder Autos; und auch bei Sportartikeln machen sie sich bezahlt. Erst im Februar lancierte der Markenkonzern Nike seinen „Dream Crazier“-Werbespot mit US-Sportlerinnen wie Simone Biles, Serena Williams und Megan Rapinoe sowie einer mitreißenden Sprecherin: „…eine Frau, die Marathon lief, galt als verrückt ... Eine Frau, die boxte, galt als verrückt. Eine Frau, die den Ball im Basketballkorb versenkt? Verrückt. Eine, die ein Profiliga-Team im Basketball trainiert? Verrückt. Eine Frau, die mit Kopftuch in den Wettkampf geht, die die Sportart wechselt, mit dem Snowboard eine Dreifach-Drehung landet oder im Tennis dreiundzwanzig Grand-Slam-Titel holt, die ein Kind bekommt und dann wieder einsteigt und weiter macht? Verrückt, verrückt, verrückt, verrückt und verrückt.“
Nike bedient sich dieses Themas schon seit längerem. Ursprünglich wurde mein Interesse an dieser Marke vor einigen Jahren geweckt, als ich von den Frauenförderprogrammen hörte, die die damalige Nike-Stiftung in Schwellenländern wie Uganda und Äthiopien bewarb. Diese von Nikes Wohltätigkeitszweig (dem heutigen Nike Community Impact Fund) finanzierten „Girl-Empowerment“-Programme zur Ermutigung und Stärkung von Mädchen und Frauen hatten Nike seinerzeit bei Frauengruppen und Entwicklungshilfeorganisationen ziemlich beliebt gemacht. War das noch derselbe Nike-Konzern, der Mitte der 90er Jahre von Feministinnen und Gewerkschaftsaktivisten wegen der weit verbreiteten Missstände in seinen Auslandsfabriken kritisiert worden war? Wie ergeht es den Frauen, die heute für Nike Sportschuhe und T-Shirts herstellen? Wie gestärkt fühlen sie sich? Diese Fragen führten mich 2016 nach Vietnam, wo ich feststellen musste, dass die Fabriken von Nike, seinem Frauenpower-Image zum Trotz, in Wahrheit der in den Werbespots angepriesenen Freiheit und Stärkung nach wie vor nicht gerecht wurden.
Mit Hao und drei ihrer Kolleginnen sprach ich an einem heißen Januarnachmittag 2016. Ich traf die Arbeiterinnen und eine Dolmetscherin vor dem Zimmer, das sich Hao mit ihrem Mann und ihren Kindern in einem Industriegebiet in der Nähe von Ho-Chi-Minh-Stadt, der größten Stadt Vietnams, teilte. Wir setzten uns im Kreis auf den Boden und sprachen über die Arbeit der Frauen in einer Schuhfabrik, die Nike mit Sportschuhen belieferte.
Haos Geschichte war typisch für die achtzehn, bei fünf verschiedenen Nike-Zulieferern beschäftigten Arbeiterinnen, die ich im Laufe eines Monats interviewte. Sie war erschöpft von den langen Arbeitstagen, dem extremen Arbeitsdruck, den täglichen Erniedrigungen, wenn ihre Arbeit für zu langsam oder fehlerhaft befunden wurde, und von dem Stress, den es ihr bereitete, mit dem niedrigen Lohn irgendwie über die Runden zu kommen. Am Ende des Monats musste sich Hao oft Geld leihen, um ihre Rechnungen begleichen zu können. „In meiner Mittagspause verkaufe ich Lotterielose“, erzählte sie, um ihre Schulden zurückzuzahlen. Doch das war ein riskantes Unterfangen: „Wenn mich mein Chef beim Verkauf erwischt, könnte er mich feuern." Ihre fünfjährige Tochter hatte Hao zu ihrer Familie im Norden Vietnams geschickt, weil ihr Geld nicht ausreichte, sie zu versorgen.
Sie durften nach Schichtende nicht gehen, wenn die Liefertermine eng waren, selbst wenn sie Kinder hatten, die sie von der Schule abholen mussten.
Der Fabrikalltag war alles andere als stärkend. Die Frauen zeigten mir Lohnabrechnungen und Fabrikordnungen, die gesetzwidrige Lohnstrafen, lange Arbeitszeiten sowie Löhne enthüllten, die nur einem Viertel dessen entsprachen, was die Arbeiterinnen benötigten, um ihren Familien eine angemessene Lebensqualität zu ermöglichen. Überstunden, so hieß es, seien nicht freiwillig, sondern Routine. Wenn die Liefertermine eng waren, durften sie nach Schichtende nicht gehen, selbst wenn sie Kinder hatten, die von der Schule abgeholt werden mussten. Von den zehn von mir befragten Müttern mit kleinen Kindern hatten sechs mindestens ein Kind aus Geldnot weggeschickt und sahen es nur ein bis zwei Mal im Jahr. So steckten die Frauen in einer Zwickmühle: Bei dem Versuch, ihre Familien zusammenzuhalten, wurden diese auseinandergerissen.
Als ich Nike mit den Ergebnissen meiner Recherche konfrontierte und um eine Stellungnahme zu den von den Frauen beschriebenen Missständen bat, zeigte die Reaktion weder Überraschung noch besondere Betroffenheit. „Veränderungen brauchen ihre Zeit", antwortete man mir und behauptete, dass die Arbeitsplätze zwar nicht menschenwürdig oder gut bezahlt seien und auch die Maßstäbe von Nikes „Empowerment“-Kampagnen nicht erfüllten, sich die Arbeitsstandards in Vietnams Bekleidungsbranche aber „mit der Zeit entwickeln“ und denen der Industrieländer angleichen würden.
Neben Nike gibt es indes zahlreiche andere multinationale Marken und Einzelhändler wie Gap und H&M, die ein System aufrechterhalten, das darauf abzielt, Arbeitsstandards zu senken. Nike hat mit Vietnam ganz bewusst ein Land ausgewählt, dessen Gesetze unabhängige Arbeitsrechtsgruppen und Streiks untersagen. Die Missstände und die Ohnmacht von Hao und ihren Kolleginnen sind keine Ausrutscher, sondern einkalkulierte Folgen eines Systems, das dazu dient, den Kampf der Arbeiter für menschenwürdige Arbeitsplätze zu unterdrücken. Denn dadurch, dass die Konzerne ihre Prioritäten auf die niedrigen Produktionskosten legen und mit Ländern Geschäfte machen, die die schwächste Arbeitsgesetzgebung haben, erzeugen Marken wie Nike, Zara, Gap und H&M das von Hao und ihren Kolleginnen beschriebene, extrem belastende und schwächende Arbeitsklima.
Wie die Geschichte der US-amerikanischen Bekleidungsindustrie zeigt, haben sich Verbesserungen der Arbeitsbedingungen nie „mit der Zeit entwickelt“. Gewerkschaften und Streiks sind vielmehr unverzichtbar. Einer der berühmtesten und wirkungsvollsten Streiks, der „Aufstand der Zwanzigtausend“, wurde im November 1909 in New York von der ukrainischen Einwanderin Clara Lemlich angeführt. Die Arbeitsbedingungen waren für zehntausende Arbeiterinnen, darunter zahlreiche jugendliche Mädchen, die in Ausbeuterfabriken der Lower East Side von Manhattan schufteten, unerträglich geworden. Die Löhne betrugen nicht mehr als vier Dollar pro Woche, die wöchentliche Arbeitszeit lag bei über fünfundsechzig Stunden, die Fabriken waren gefährlich und unhygienisch, und sexuelle Belästigung war an der Tagesordnung. Gewerkschaftsorganisatoren wie Lemlich wussten, dass der einzige Weg, einen gerechten Anteil am Gewinn zu fordern und die Arbeitgeber zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu zwingen, darin bestand, ihre kollektive Stärke als Arbeiter zu nutzen, um die Textilbranche stillzulegen.
Und genau das taten sie: Fast drei Monate lang trotzten zwischen zwanzig- und dreißigtausend Textilarbeiterinnen dem eisigen New Yorker Winter und zogen durch die Straßen von Lower Manhattan, um einzufordern, was ihnen zustand. Wie die feministische Historikerin Annelise Orleck in ihrer Studie Common Sense and a Little Fire schreibt, griffen die Fabrikanten mit Unterstützung der städtischen Polizei zu harten und brutalen Maßnahmen gegen die Streikenden. Siebenhundert Frauen wurden während des Streiks verhaftet und von den Ordnungshütern als widerspenstig, unmoralisch und undankbar dargestellt. Lemlich selbst wurde siebzehn Mal verhaftet und erlitt sechs Rippenbrüche durch Polizeiknüppel.
Doch unterstützt von ihrer Gewerkschaft, wohlhabenden Verbündeten und einer wohlwollenden Medienberichterstattung hielten die Frauen stand. Anders, als es die männlichen Gewerkschaftsführer zu Beginn des Streiks erwartet hatten, erreichte der Streik zahlreiche seiner Ziele, darunter die Anerkennung von Gewerkschaften, die 52-Stunden-Woche sowie Lohnerhöhungen. Die positive Bilanz des Streiks bewies, dass Gemeinschaftsaktionen in der Bekleidungsindustrie sowohl möglich als auch wirkungsvoll waren, und löste eine Welle von Textilarbeiterstreiks in anderen Städten aus.
Die durch den Aufstand erzielten Erfolge spielten eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken. Doch auch die verfehlten Ziele sollten schwerwiegende Folgen haben. Mehrere Fabrikbesitzer, darunter Max Blanck und Isaac Harris von der Triangle Hemdblusenfabrik, lehnten die Forderungen der Streikenden ab, Sicherheitsrisiken zu beheben. So brach am 25. März 1911, ein Jahr nach Beendigung des Aufstands, im achten Stock des Fabrikgebäudes ein Feuer aus, bei dem 146 Triangle-Arbeiter, darunter zahlreiche Teilnehmerinnen des Aufstands, verbrannten oder in den Tod sprangen.
Die Todesopfer des Triangle-Brandes und die durch den Aufstand ausgelöste Streikwelle rüttelten die Arbeiterbewegung wach und erzwangen landesweit eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Orleck zufolge befanden sich Lemlich und ihre Mitstreiterinnen „im Zentrum eines Sturms, der dazu führte, dass bis 1919 die Hälfte aller Textilarbeiterinnen in die Gewerkschaften eintraten“. In der Folgezeit wurde ein Großteil der von US-Präsident Franklin D. Roosevelt eingeführten fortschrittlichen Arbeitsgesetzgebung von Arbeitsrechtskämpferinnen entworfen oder inspiriert. Viele von ihnen hatten den Brand selbst miterlebt oder Freundinnen durch ihn verloren. Die verbesserten Arbeitsbedingungen waren nicht das Ergebnis einer zwangsläufigen Entwicklung, sondern der Opfer und des Mutes der New Yorker Textilarbeiterinnen.
Genau wie vor einhundert Jahren beschäftigt die Bekleidungsindustrie auch heute bevorzugt Mädchen und Frauen. Schließlich eignen sich die „geschickten Finger“ von Frauen angeblich von Natur aus bestens für die feineren Fließbandarbeiten. Vor allem aber gelten Frauen als gefügiger und neigen vermeintlich weniger als Männer dazu, Unruhe zu stiften. Oder wie es der Personalchef einer Fabrik in Taiwan gegenüber der US-amerikanischen Anthropologin Linda Gail Arrigo ausdrückte: „Junge, männliche Arbeiter sind zu unstet und ungeduldig für monotone Arbeiten ohne Karrierewert. Wenn sie unzufrieden sind, sabotieren sie die Maschinen und bedrohen sogar den Vorarbeiter. Aber Frauen? Im schlimmsten Fall weinen sie ein wenig.“
Wie passt diese sexistische Sichtweise zum Kampfgeist von Clara Lemlich und den Zehntausenden, die Anfang des 20. Jahrhunderts für ihre Rechte kämpften? Überhaupt nicht! Textilarbeiterinnen haben stets für ihre Rechte gekämpft. Der Unterschied zwischen 1909 und heute besteht allein darin, dass sich die Gewalt gegen die Arbeiterinnen damals vor den Augen der Hemdblusen tragenden New Yorker Mittel- und Oberschicht abspielte, während heutzutage die meisten kollektiven Aktionen der Arbeiterinnen und die Methoden, mit denen gegen sie vorgegangen wird, dem Auge des Verbrauchers weitgehend verborgen bleiben.
Das globale Zulieferersystem führt zu einer folgenreichen Distanz zwischen den die Aufträge vergebenden Managern westlicher Markenkonzerne und den Fabrikmanagern, die die Arbeitskosten so niedrig wie möglich halten. Mit den Seitennähten der T-Shirts wurde auch die schmutzige Praxis der Gewerkschaftsunterdrückung ausgelagert, so dass es für Markenfirmen heute einfacher ist wegzuschauen als je zuvor.
Trotz dieser Hindernisse gehen in Vietnam, Bangladesch und andernorts immer wieder Textilarbeiterinnen auf die Straße, um eine menschenwürdige Arbeit und faire Löhne zu fordern. 2008 traten in Vietnam rund zwanzigtausend Arbeiterinnen aus Zulieferfabriken von Nike in einen Streik für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Mindestens sieben Frauen wurden von der Unternehmensleitung wegen Anstiftung zur kollektiven Aktion entlassen. Als eine Untergrund-Arbeitsrechtsgruppe Nike aufforderte, Druck auf seine Zulieferer auszuüben, damit die Frauen wieder eingestellt würden, versteckte sich Charles Brown, Nikes damaliger Direktor für globale Unternehmensverantwortung, hinter Vietnams restriktivem Regime. „Es ist wichtig“, hieß es in seiner Antwort, „dass die Arbeiterinnen die Grenzen ihrer gesetzlichen Rechte und die Rechte und Pflichten der Arbeitgeber in Vietnam verstehen“, einschließlich, so betonte er, des Rechts der Arbeitgeber, streikende Arbeiter zu entlassen, wenn sie fünf Tage lang nicht zur Arbeit erscheinen. Brown ließ den Mangel an Arbeitsrechten in Vietnam wie eine bedauerliche Überraschung klingen. In Wirklichkeit hatte Nike Vietnam gerade deswegen ausgewählt, weil die Arbeiter dort über keinerlei Mittel verfügen, um zu erstarken.
Die Entwicklung von Nikes Lieferkette und die Auswahl seiner Zulieferer verdeutlichen, wie der Unterbietungswettbewerb in Zeiten der Konzernglobalisierung funktioniert. Eines der ersten Outsourcing-Ziele von Nike in den 1970er Jahren war Südkorea, ein Land, das damals unter einer Militärherrschaft stand, die den Arbeitern nur geringe Möglichkeiten ließ, sich zu organisieren. Wie seinerzeit von den US-amerikanischen Journalistinnen Barbara Ehrenreich und Annette Fuentes in der feministischen Zeitschrift Ms. Magazine sowie von Ruth Pearson und Diane Elson im Wissenschaftsjournal Feminist Review beschrieben, waren die Arbeitsbedingungen für die Arbeiterinnen, von denen viele in überfüllten Räumen unweit der Fabriken wohnten, extrem hart. So berichtete die Nähmaschinenarbeiterin Min Chong Suk von 16-stündigen Arbeitstagen, Hungerlöhnen und Gesundheitsrisiken: „Wenn [die Lehrlinge] die Fadenreste von den Kleidungsstücken abschütteln, füllt sich der ganze Raum mit Staub, und es fällt schwer zu atmen. Da wir in einer derart staubigen Luft arbeiten, erkranken immer mehr Menschen an Tuberkulose, Bronchitis und Augenerkrankungen.“ Min Chong Suk befürchtete, dass „niemand weiß, dass unser Blut unter Seufzen und Klagen mit den Fäden und Nähten verschmilzt“.
Versuche der koreanischen Arbeiterinnen, kollektive Aktionen durchzuführen, wurden in mindestens einem Fall von „Eingreiftruppen“ gewaltsam niedergeschlagen, die „bewaffnet mit Eisenstangen und mit Eimern, die mit menschlichen Exkrementen gefüllten waren“ in das Organisationsbüro der Frauen eindrangen, „die Büroeinrichtung zerschlugen und die Fäkalien auf die Körper der Frauen und in ihre Haare, Augen und Münder schmierten“.
Als es den Frauen schließlich gelang, bescheidene Lohnerhöhungen durchzusetzen und sie sogar dazu beitrugen, die Militärregierung zu stürzen, ließ Nike sie im Stich. „Als Reaktion auf das entstandene Selbstvertrauen der südkoreanischen Arbeiterinnen“, schreibt die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Cynthia Enloe, „begannen der Sportschuhkonzern und seine Zulieferer in den späten achtziger und neunziger Jahren, mehrere ihrer südkoreanischen Fabriken zu schließen. [...] Nach dem Wegfall dieser besonderen Art der Mitarbeiterkontrolle, wie sie nur eine autoritäre Regierung bieten kann,“ zogen die Firmenchefs von Nike und anderen europäischen und US-amerikanischen Sportschuhfirmen nach Indonesien, China und Thailand weiter.
Die meisten kollektiven Aktionen der Arbeiterinnen und die Methoden, mit denen gegen sie vorgegangen wird, bleiben dem Auge des Verbrauchers weitgehend verborgen.
Anfang der 90er Jahre schließlich zwangen „Enthüllungsberichte über Billiglohnfabriken“ von Exportherstellern in Indonesien, Vietnam, Thailand, Honduras und anderen Ländern die Markenkonzerne dazu, sich mit der Kehrseite ihres Outsourcing-Modells auseinanderzusetzen: dem Risiko von Imageschäden. Denn es zeigte sich, dass die Verbraucher keine in Billiglohnfirmen hergestellten Schuhe oder Hemden tragen wollten und die Wir-halten-uns-heraus-Haltung des Outsourcing-Systems für gewissenlos hielten. Aktivistengruppen, Studenten und Konsumenten sahen die Markenkonzerne in der Verantwortung.
Zunächst stritt Nike jedoch jegliche Verantwortlichkeit ab. Weshalb, hieß es, sollte der Konzern für die Arbeitsbedingungen seiner Geschäftspartner in Indonesien verantwortlich gemacht werden? Nike, so das Argument, ist ein Schuhhersteller und nicht die Vereinten Nationen. Darüber hinaus erklärte ein Unternehmenssprecher: „Die Löhne mögen zwar niedrig sein, aber es ist immer noch besser, als gar keine Arbeit zu haben.“ Als Alternative, so der Sprecher, bliebe den Frauen sonst nur, „in der Tropensonne Kokosnussfleisch [zu] ernten“. Obwohl der Druck der Verbraucher dazu geführt hat, dass Marken wie Nike in den Fabriken Kontrollsysteme eingeführt haben (die von Gewerkschaften und Arbeitsrechtsexperten als zu schwach, unwirksam und intransparent kritisiert wurden), wird das Argument, dass „ein schlechter Job besser ist als gar keiner“ nach wie vor häufig angeführt, um die Bedingungen zu rechtfertigen, unter denen die Waren und Gewinne erzeugt werden.
Doch Nikes Haltung ist keineswegs die Ausnahme. 2013 befragte ein Journalist der US-Tageszeitung Huffington Post den Chef der italienischen Modemarke Benetton, Biagio Chiarolanza, zur Rolle seines Unternehmens beim Einsturz der Rana-Plaza-Fabrik in Bangladesch – einem Industrieunfall, der über 1134 Textilarbeiterinnen das Leben kostete und der, wie der Triangle-Fabrikbrand von 1911, gänzlich vermeidbar gewesen wäre. Konzernchef Chiarolanza antwortete dem Reporter, dass nicht Benetton, sondern die Subunternehmer die Schuld trügen. Lässt man die Lieferkette als Ganzes außer Acht, könnte dieses Argument durchaus überzeugen. Doch wenn das Leid und die Ausbeutung am unteren Ende im direkten Zusammenhang mit den Profiten an der Spitze gesehen und als Verteilungsproblem statt als unvermeidbare Folge des Outsourcing verstanden werden, wird eine Rechtfertigung schwieriger. So wie der tödliche Triangle-Fabrikbrand die vermeidbare und unnötige Folge eines asymmetrischen Machtverhältnisses war, war die Rana-Plaza-Katastrophe das Ergebnis eines globalen Wirtschaftssystems, dessen Ziel es ist, den Regierungen und Unternehmen der ärmsten Länder einen unbarmherzigen Konkurrenzkampf um westliche Aufträge aufzuzwingen.
Wenn wir das Argument, „ein schlechter Job ist besser als gar keiner“, gelten lassen, müssen wir die extremen Machtungleichgewichte heutiger Lieferketten von Modeunternehmen als natürlich und unvermeidlich hinnehmen, anstatt sie als das zu sehen, was sie sind: ein absichtlich gestaltetes Ausbeutungssystem, das radikal verändert werden müsste.
Die Suche nach billigen Arbeitskräften geht weiter. Gegenwärtig führt sie zahlreiche Markenfirmen in ein Land, in dem es für Arbeiter der Privatwirtschaft keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt: Äthiopien. 2017 weilte ich mehrere Wochen in diesem ostafrikanischen Land und sammelte, unterstützt durch Recherchepartner vor Ort, die Erfahrungsberichte von über vierzig Textilarbeiterinnen aus vier Zulieferfabriken von H&M und PVH, dem Inhaber der Marken Calvin Klein und Tommy Hilfiger.
Das Argument, dass „ein schlechter Job besser ist als gar keiner“ wird nach wie vor angeführt, um die Bedingungen zu rechtfertigen, unter denen die Waren und Gewinne erzeugt werden.
Beim größten äthiopischen H&M-Zulieferer berichteten die Arbeiterinnen von bis zu sechsundfünfzig unbezahlten Überstunden im Monat. Eine 23-jährige Arbeiterin dieser Fabrik erzählte, dass sie häufig ihren Abendschulunterricht verpasse, weil ihr Chef sie nach Schichtende nicht gehen ließe. Als sie einmal trotzdem ging, bestrafte er sie mit einem ganzen Tag Lohnabzug. Die Lohnabrechnungen und Unterlagen, die sie und ihre Kolleginnen mir zeigten, enthüllten, dass den Frauen nur ein Bruchteil ihrer Überstunden bezahlt wurde. Obwohl der durchschnittliche Stundenlohn der befragten Arbeiterinnen in den Fabriken achtzehn Cent betrug, verdienten einige von ihnen nur zwölf Cent pro Stunde, wenn die unbezahlten Überstunden eingerechnet wurden. Viel zu lange Arbeitszeiten, sexuelle Belästigung, extremer Arbeitsdruck und eine Arbeitsatmosphäre, in der es so heiß und staubig ist, dass immer wieder Arbeiterinnen an ihren Arbeitsplätzen zusammenbrechen: Die Ähnlichkeit mit den Missständen von 1909 ist augenfällig. Und auch heute wird die Bekleidungsindustrie nur dann Fortschritte machen, wenn die Arbeiterinnen neue Wege finden, das Machtungleichgewicht, das Markenkonzerne und Einzelhändler mit Unterstützung der politischen Eliten gezielt zugespitzt haben, in Frage zu stellen und zu korrigieren.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich die Nike Foundation zwar wohltätig für „Empowerment“ einsetzt, wahre Erstarkung von Frauen jedoch genau das ist, was Nike in seiner eigenen Unternehmenstätigkeit nicht unterstützt. Die Arbeit der Konzernstiftung ist dementsprechend auch keine großzügige Investition zugunsten von Frauenrechten, sondern eine intelligente Geldanlage zur Wiederherstellung des Firmenimages. Geld in seine Stiftung und Kommunikationsabteilung zu stecken, kostet Nike schließlich viel weniger, als dafür zu sorgen, dass die Arbeiterinnen einen Lohn erhalten, der ausreicht, um ihre Familien zusammenzuhalten. Die Wohltätigkeitskampagnen und Initiativen „sozialer Unternehmensverantwortung“ dienen lediglich dazu, den Riss zwischen dem Konzern, bei dem die Verbraucher einkaufen wollen, und demjenigen, den sie moralisch verurteilen, zu kitten.
Doch es war die kollektive Erstarkung durch Gewerkschaften, Streiks und die Durchsetzung von Arbeitsgesetzen, die zwischen 1910 und 1940 zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den US-amerikanischen Fabriken führte. Heutzutage fürchten Markenkonzerne die Gewerkschaften nicht mehr, weil sie die Produktion in Länder ausgelagert haben, in denen unabhängige Arbeitnehmervertretungen entweder schwach sind oder gar nicht existieren. Was Marken und Einzelhändler jedoch sehr wohl fürchten, sind negative Enthüllungen. Sie haben sich als eines der sehr wenigen Mittel erwiesen, mit denen sie gezwungen werden können, das Richtige zu tun.
Das ist genau der Grund, warum wir und die Politiker, die uns auf globaler Ebene vertreten, nicht mehr wegschauen dürfen. Stattdessen sollten wir nach neuen Strategien suchen, um das Machtungleichgewicht zu korrigieren, das für die unnötige Ausbeutung und die tödlichen Unfälle in den Fabriken verantwortlich ist, in denen unsere Sportschuhe und T-Shirts hergestellt werden. Das bedeutet, dass wir unsere Stärke als Wähler und Verbraucher nutzen müssen, um eine neue Art von Handelsabkommen zu fordern – Handelsabkommen, die starke Arbeitsrechte und existenzsichernde Löhne voraussetzen. Ganz im Sinne von Clara Lemlich, als sie, der Diskussionen müde, ob gestreikt werden solle oder nicht, erklärte: „Ich bin Arbeiterin. Ich gehöre zu denen, die sich im Streik gegen die unerträglichen Verhältnisse befinden. Ich habe es satt, Rednern zuzuhören, die in Allgemeinplätzen sprechen. Wir sind hier, um zu entscheiden, ob wir streiken wollen oder nicht. Ich stelle den Antrag, jetzt einen Generalstreik auszurufen.“
Humane Arbeitszeiten? Verrückt. Ein existenzsichernder Lohn? Verrückt. Befreiung von Belästigung und Erniedrigung? Verrückt. Mutterschaftsurlaub? Verrückt. Tarifverträge und Streikrecht? Verrückt, verrückt, verrückt, verrückt und verrückt.“