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CheckoutAm 1. Mai 1919, inmitten der turbulenten Zeit nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, eroberten nationalistische Freikorps und Reichswehrverbände München, das von einer Gruppe von Kommunisten regiert wurde. Sie verhafteten einen 49-jährigen Journalisten, der als Kultusminister in der kurzlebigen Münchner Revolutionsregierung fungiert hatte. Am nächsten Morgen beschimpften sie ihn als Hetzer und schlugen ihn, dann erschossen sie ihn und trampelten auf ihm herum.
All ihren Anschuldigungen zum Trotz war Landauer jedoch kein Hetzer und kein Bolschewist. Schon im Jahr zuvor hatte er über die Bolschewisten geschrieben: „Sie arbeiten einem Militärregiment vor, das noch viel scheußlicher wäre als alles, was die Welt vorher gesehen hat.“ Er war etwas ganz anderes: ein gewaltfreier Anarchist, der glaubte, dass die einzige Lösung für die Probleme des militarisierten, kapitalistischen Europas das Leben in freiwilligen Gemeinschaften sei, die durch gemeinsame Arbeit, durch Liebe und durch etwas anderes, nach dem er sich ahnend ausstreckte, miteinander verbunden waren. Für Landauer bedeutete „Sozialismus“ einen „Kampf um Schönheit, Größe, Fülle der Völker“ (Aufruf zum Sozialismus, 1911). Weit entfernt von einem gewaltsam durchgesetzten staatlichen System sollte es eine organische Basisbewegung sein, die entstehen würde, wenn die Menschen anfingen, anders zu leben, um die neue Welt in der äußeren Hülle der alten aufzubauen.
Landauer wurde am 7. April 1870 in Karlsruhe in eine jüdische Mittelschichtfamilie geboren. Seine Generation trank tief aus den Brunnen der deutschen Romantik und suchte in der Konzentration dieser Bewegung auf das Innenleben ein politisches Korrektiv für Fabriken und Slums und die bürgerliche Oberflächlichkeit um sie herum.
„Die Umwandlung der Gesellschaft kann nur in Liebe, in Arbeit, in Stille kommen.“
Gustav Landauer
Nach dem Studium stürzte sich Landauer in das kulturelle und politische Leben Berlins der 1890er Jahre. Er trat einer Theatergruppe bei und heiratete die Schauspielerin Grete Leuschner (sie ließen sich später scheiden). Er begann auch, die Ideen zu entwickeln, die seine Philosophie bestimmen sollten: Die Arbeiter müssten das kapitalistische System freiwillig verlassen und autonome Gemeinschaften bilden. Immer wieder versuchte er, diese Vision in die Praxis umzusetzen. Nach der Entlassung aus seiner ersten Haftzeit – zu der er wegen seiner Schriften in Der Sozialist verurteilt worden war – schloss er sich der kommunitären Initiative Neue Gemeinschaft an. Hier traf er den jüdischen Philosophen Martin Buber, woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte. Es folgte eine Zeit relativer Ruhe, in der er an Übersetzungen von Shakespeare und Meister Eckhart arbeitete.
Obwohl er Atheist war, bewunderte Landauer Christus schon lange und nannte Jesus in seinem Aufruf zum Sozialismus eine „unerschöpfliche Gestalt“: „Wo wären denn alle … Maschinerien … ohne diesen Stillen, Ruhenden, Leidenden Großen am Kreuz der Menschheit.“ Durch Buber begann er, sowohl das Judentum zu verstehen, als auch die Umrisse einer Kraft, die die Menschheit in einem kommenden messianischen Zeitalter vereinigen würde. Der Philosoph Michael Löwy erklärt in seiner Untersuchung Redemption and Utopia: Libertarian Judaism in Central Europe von 1992, wie die chassidischen Legenden, die Landauer kennenlernte, für ihn die Zukunft in der Gegenwart, den Geist in der Geschichte und das Ganze im Einzelnen repräsentierten, den befreienden und vereinigenden Gott im gefangenen und verwundeten Menschen, das Himmlische im Irdischen.
1908, als seine Ruhepause zu Ende ging, half er bei der Gründung des Sozialistischen Bundes, einem Zusammenschluss von anarcho-kommunistischen Siedlungen. 1911 veröffentlichte er Aufruf zum Sozialismus, die klarste und vollständigste Darstellung seines Denkens.In einem 1913 veröffentlichten Flugblatt formuliert er einen seiner Kernsätze: „Sozialismus ist nicht eine Sache der Forderung und des Abwartens, sondern des Tuns.“
Obwohl er Atheist war, bewunderte er Jesus und nannte ihn eine „unerschöpfliche Gestalt.“
Gustav Landauer
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurden die Aktivitäten des Bundes eingestellt, aber Landauer ermutigte die Deutschen auch während des Krieges zu gemeinsamer Produktion, etwa dem Anbau von Lebensmitteln an Straßenrändern und auf Rasenflächen – Projekte, die Schulen des gemeinschaftlichen Lebens sein sollten. Durch den Waffenstillstand kam es zu einem explosionsartigen Anstieg des Interesses an sozialen Veränderungen in Deutschland – sowohl an Landauers Anarchismus als auch an der blutigeren Variante einer kommunistischen Revolution. Auch viele Anarchisten, schreibt er 1901, „haben sich angewöhnt, gar nicht mehr mit Menschen zu tun zu haben, sondern mit Begriffen. Es gibt zwei feste, getrennte Klassen für sie, die einander feindlich gegenüberstehen; sie töteten nicht Menschen, sondern den Begriff des Ausbeuters …“
Mit solcher Gewalttätigkeit hatte Landauer nie etwas zu tun. Er wusste, dass es nur dann eine menschenwürdigere Zukunft geben kann, wenn es eine menschlichere Gegenwart gibt. Trotz alledem wurde er Opfer einer staatlich zumindest tolerierten Welle der Gewalt, die sich gegen alles richtete, was nach Dissidententum aussah. Nach seiner Ermordung fand eine seiner Töchter die Leiche, verscharrt in einem Massengrab.
Aber sein Tod bedeutete nicht das Ende seines Wirkens, im Gegenteil, sein Denken gewann an Einfluss. Landauers Vision eines Netzwerkes miteinander verbundener landwirtschaftlicher Gemeinschaften war die Vorlage für die israelischen Kibbuzim, und seine Ideen hinterließen einen tiefen Eindruck auf Eberhard Arnold, den Mitbegründer der Bruderhöfe, und brachten ihn 1920 dazu, eine Gemeinschaft zu gründen, die zu einem großen Teil von Landauers Idealen inspiriert war.
In seinem Aufruf von 1911 fragt Landauer, was aus der jungen Generation geworden ist:
… feigherzige Leutchen ohne Jugend, ohne Wildheit, ohne Wagemut, ohne Lust am Versuchen… All das aber brauchen wir, wir brauchen Versuche… Wir brauchen Fehlschläge über Fehlschläge und die zähe Natur, die sich nicht, die sich durch nichts abschrecken lässt, die festhält und aushält und immer noch einmal ansetzt, bis es gelingt, bis wir durch sind, bis wir unüberwindlich sind. Wer die Gefahr der Niederlage, der Vereinsamung, des Rückschlags nicht auf sich nimmt, wird nie zum Siege kommen. … Wir wollen aus dem Herzen heraus schaffen und tun, und wir wollen denn, wenn’s sein muss, so lange Schiffbruch leiden und Niederlagen auf uns nehmen, bis wir den Sieg haben und Land sehen.