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    Der geheimnisvolle Gast Teil 2

    Auszug aus dem Klassiker: „Die Brüder Karamasow,“

    von Fjodor Dostojewski

    Donnerstag, 2. Februar 2017
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    „Das Paradies,“ spricht er, „liegt in einem jeden von uns verborgen und jetzt öffnet es sich gerade in mir, und wenn ich nur will, so wird es noch morgen für mich tatsächlich erstehen, und schon für mein ganzes Leben!“ Ich sehe: mit Rührung spricht er und geheimnisvoll blickt er auf mich, gleich als ob er an mich eine Frage richte. „Darüber aber,“ fährt er fort, „dass jeder Mensch für alle und alles schuldig ist, ganz abgesehen von seinen eigenen Sünden, darüber haben Sie völlig richtig geurteilt. Es ist wirklich erstaunlich, dass Sie diesen Gedanken plötzlich in einer solchen Fülle erfassen konnten. Und es ist in Wahrheit richtig, dass, wenn die Menschen diesen Gedanken begreifen werden, dass dann für sie das himmlische Reich schon nicht mehr in der Phantasie, vielmehr in Wirklichkeit anbrechen wird“:

    Darüber aber, dass jeder Mensch für alle und alles schuldig ist, ganz abgesehen von seinen eigenen Sünden, darüber haben Sie völlig richtig geurteilt.

    „Wann aber,“ rufe ich da voll Kummer aus, „wird sich dies endlich erfüllen, und wird es sich überhaupt noch einmal erfüllen? Ist dies nicht nur ein Traum?“ „Wie aber,“ spricht er; „da glauben Sie ja selber nicht! Sie predigen und glauben selber nicht? Wissen Sie aber, dass zweifellos dieser Traum, wie Sie sich ausdrücken, erfüllt wird, seien Sie nur dessen gewiss, wenn auch nicht jetzt gleich, denn jede Wirkung hat ihr eigenes Gesetz. Das ist aber zudem auch noch eine Angelegenheit der Seele, eine psychologische Sache. Damit die Welt eine andere werde, dazu ist es nötig, dass die Menschen selber einen neuen Seelenpfad einschlagen. Bevor aber nicht ein jeder von uns in Wahrheit zu einem neuen Bruder wird für einen jeden, wird kein Brudertum herrschen unter den Menschen. Denn niemals werden die Menschen auf Grund der Ergebnisse irgendeiner Wissenschaft oder durch die Aussicht auf irgendeinen Vorteil es fertig bringen, ihr Eigentum und ihre Rechte untereinander zu teilen, ohne einander zu kränken, immer wird es einen jeden von ihnen zu wenig dünken, was er erhielt, und alle werden murren und sich hassen und einander vernichten. Sie fragen, wann dies erfüllt werden wird? Es wird erfüllt werden! Zuerst muss aber die Periode der menschlichen „Vereinigung“ sich verwirklichen“. „Was ist denn das für eine Vereinigung?“ fragte ich ihn. „Gerade die, die jetzt überall erstrebt wird, besonders in unserem Jahrhundert, aber noch nicht völlig abgeschlossen ward, noch nicht ihren Endpunkt fand. Ein jeder strebt ja heute danach, seine Persönlichkeit möglichst abzusondern, jeder will in sich selber die ganze Fülle des Lebens erfahren und dabei ist das Ergebnis aus allen seinen Anstrengungen nicht die Fülle des Lebens, sondern fragloser Selbstmord. Denn statt völlige Entfaltung ihres Lebens zu erlangen, verfallen sie in totale Vereinsamung. In unserem Jahrhundert zieht sich ein jeder in seine Höhle zurück, jeder entfernt sich von dem andern, verbirgt sich selber und was er besitzt und endet damit, dass er selber von den Menschen zurückgestoßen wird und selber die Menschen von sich zurückstößt. Er sammelt für sich, in Einsamkeit lebend, Reichtümer und denkt: „Wie mächtig bin ich jetzt, und wie bin ich vor Mangel geschützt!“ Er weiß aber nicht, der Tor, dass, je mehr er Reichtümer ansammelt, er nur noch tiefer in selbstmörderische Kraftlosigkeit versinkt. Denn er gewöhnte sich ja daran auf sich allein alle Hoffnungen zu setzen: von dem Ganzen sonderte er sich ab als Einzelwesen, er gewöhnte seine Seele daran, nicht an die Hilfe von Menschen zu glauben, nicht an die Menschen und an die Menschheit und nur darum zu zittern, sein Geld und die von ihm erworbenen Rechte möchten verfallen.

    Denn statt völlige Entfaltung ihres Lebens zu erlangen, verfallen sie in totale Vereinsamung. Jeder entfernt sich von dem andern, verbirgt sich selber und was er besitzt. Er sammelt für sich, in Einsamkeit lebend, Reichtümer…

    Allüberall beginnt jetzt der Menschengeist in lächerlicher Weise zu verkennen, dass die tatsächliche Sicherstellung der Person nicht in ihrer vereinzelten persönlichen Anstrengung sich gründen kann, vielmehr nur in der Einheit aller Menschen. Aber unbedingt wird die Zeit auch dieser furchtbaren Vereinsamung ein Ziel setzen, und alle werden dann auf einmal begreifen, wie unnatürlich es war, dass sie sich einer von dem anderen absonderten. Ein solches wird schon das Wehen der Zeit sein, und die Menschen werden darüber staunen, dass sie so lange im Schatten saßen und das Licht ihnen verborgen war. Dann wird auch das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen. Aber bis zu dieser Zeit muss man gleichwohl dies Zeichen hüten und darf es nicht verloren geben, vielmehr soll der Mensch, wenn auch nur als einzelner und wider alles Erwarten, ein Beispiel geben und die Seele aus der Vereinsamung auf den Weg der brüderlichen Gemeinschaft führen, und wenn er darum auch nur für einen Narren gehalten werden wird. Das muss sein, damit nicht der große Gedanke sterbe!“

    zum Teil 3: Der geheimnisvolle Gast

    zum Teil 1: Der geheimnisvolle Gast

    zum Teil 4: Der geheimnisvolle Gast

    In Englisch: The Gospel in Dostoyevsky


    Auszug aus:

    Das Evangelium in Dostojewski

    Aus dem Gesamtwerk ausgewählt, übersetzt und mit Einleitung und Erläuterungen versehen von Karl Nötzel erschienen 1927 im Eberhard Arnold-Verlag / Sannerz und Leipzig als Teil der „Q u e l l e n Lebensbücherei christlicher Zeugnisse aller Jahrhunderte“ herausgegeben von Eberhard Arnold

    warm sunlit path
    Von FyodorDostoyevsky Fjodor Dostojewski

    Einer der größten russischen Schriftsteller, Fjodor Michailowitsch Dostojewski, ist auch heute noch weltweit gelesen und beliebt. Am bekanntesten sind seine Romane Der Idiot, Die Brüder Karamasow und Schuld und Sühne.

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