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Honecker und sein Pastor
Echte Freiheit bedeutet seinem Feind nicht nur zu vergeben, sondern ihn zu beherbergen.
von Martin Iten
Dienstag, 17. Dezember 2024
Im Januar 1990, Kornelius Holmer war gerade 14 Jahre alt, zogen mit Erich und Margot Honecker zwei sehr illustre Menschen ein in die Räume neben seinem Kinderzimmer. Niemand wollte so kurz nach der Wende den gestürzten Staatsratsvorsitzenden der DDR und seine ebenso verhasste Frau beherbergen, einzig die evangelische Pastorenfamilie hatte die Freiheit, ihnen ein Obdach anzubieten. Kornelius Holmer, heute 46-jährig und selbst Pastor, erinnert sich an seine Jugend in der DDR und wie es war, mit dem „Klassenfeind“ unter einem Dach zu wohnen.
Plough: Herr Holmer, was sind Ihre Erinnerungen an Ihre Jugend in der DDR?
Kornelius Holmer: Nun, ich bin ja ein Pfarrerskind, das jüngste von insgesamt zehn, und als solches hatte ich sicherlich Freiheiten, die andere nicht hatten. Unser Vater war bekannt dafür, dass er regimekritisch und nicht linienkonform war. So wussten wir Kinder, dass wir eh keine Chance hatten, Abitur zu machen und irgendwas zu werden. Doch dieses Wissen gab uns auch eine gewisse innere Freiheit. Es gibt ja das Sprichwort: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert. Das traf recht gut auf uns zu.
Warum war denn klar, dass Sie kein Abitur machen dürfen?
Meine älteren Geschwister konnten alle nicht studieren gehen, obwohl sie zum Teil in der Schule nur Bestnoten erzielten. Das hatte damit zu tun, dass wir uns als Christen weigerten, die in der DDR obligatorische Jugendweihe mitzumachen. Und wer die Jugendweihe nicht machte, der durfte danach auch nichts werden. Auch in den Jugendorganisationen der „Pioniere“ und in der „Freien Deutschen Jugend“ waren wir nicht. Karriere war dann nicht mehr drin.
Warum verweigerten sich Christen der Jugendweihe?
Natürlich weigerten sich nicht alle Christen, aber wir schon. Die Jugendweihe war sozusagen die Konfirmation auf den sozialistischen Staat. Es war eigentlich ein pseudoreligiöses Ritual mit militärischer Note, bei dem man geloben musste, dem Staat gegenüber treu zu sein und dem Sozialismus zu dienen. Natürlich war es für viele auch etwas ganz Tolles und Feierliches, weil es im Leben der DDR eine hohe Relevanz hatte. Wir Holmers machten aber nicht mit, weil wir nicht einen Staat, ein System oder auch Personen höherstellen wollten als Gott.
Es ist bekannt, dass in der DDR besonders die Kinder stark politisch infiltriert wurden. Wie zeigte sich dies bei Ihnen?
Erstmal wurde natürlich dauernd gesagt, dass die Demokratie in der DDR großartig wäre. Und dass es auch gut sei, wenn man später an die Mauer ginge und als Grenzsoldat arbeite. Wenn dann notfalls die Grenze auch mit einem Schuss gesichert werden müsse, wäre dies absolut in Ordnung. Das haben uns Lehrer bereits im Kindesalter beigebracht. Wir mussten militärische Übungen machen, mit Gasmasken im Schulhaus herumlaufen. Dass es auch eine Stasi gab, die gleich im Gebäude neben der Schule war, sagte man uns natürlich nicht.
Die Stasi hörte alle ab, die DDR war ein Überwachungsstaat. Bekamen Sie dies auch nicht mit?
Unsere Eltern hatten uns damals erzählt, dass es Wanzen gäbe und dass wir wohl auch abgehört würden. Dramatisch waren aber besonders die Spitzel, die eingeschleust wurden. Einmal wurde unser Jugendkreis von einem jugendlichen Teilnehmer ausspioniert. Er hatte dann aber Gewissensbisse und bekannte gegenüber meinem Vater, dass er nach einem Verkehrsunfall von der Stasi beauftragt wurde, uns zu observieren. Hätte er nicht den Spitzel gemacht, hätten sie ihn in den Knast gesteckt.
Konnte man da überhaupt noch jemandem trauen?
Wir Kinder haben natürlich unseren Freunden schon vertraut. Aber es sind tatsächlich ganze Familien zerbrochen nach der Wende, weil fürchterliche Dinge aufgeflogen sind. Wir haben hier in Franken einen pensionierten Kollegen, der arbeitete als Lehrer in der DDR. Er war nicht so ganz systemkonform, wodurch er auffällig wurde. Also setzten sie seine eigene Ehefrau und den Schwiegervater auf ihn an. Als er die Frau heiratete, agierte sie bereits als Spionin. In der DDR herrschte absolute Überwachung bis hinein in die intimste Privatheit.
Sehnten Sie sich als Kind nach Freiheit, nach dem freien Westen?
Freilich. Generell redeten wir immer vom goldenen Westen. Einmal standen wir am Schleizer Dreieck, von dort hatte man einen wunderbaren Blick über die Grenze. Mein Vater sagte beiläufig: „Übrigens, da drüben ist schon Bayern.“ Ich weiß noch, wie sehnsuchtsvoll wir als Kinder dastanden. Boa, hier ist der Westen! So nah! Aber es gab halt die Mauer, wir konnten unmöglich in den Westen gehen.
Im Januar 1989, Sie waren da gerade 13 Jahre alt, verkündete der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, dass diese Mauer noch mindestens 100 Jahre stehen würde. Das war eine krasse Fehleinschätzung…
Allerdings! Zuerst, irgendwann im Herbst 89, hörten wir davon, dass Flüchtlinge in die Prager Botschaft stürmten und dass viele, vor allem junge Menschen, nach Ungarn flohen. Ich werde nie vergessen, als wir eines Abends die Nachrichten einschalteten und mein Vater sagte: „Passt mal auf, der Bericht könnte interessant sein.“ Auf einmal lief mein Bruder ein oder zwei Sekunden durchs Bild. Wir erstarrten sogleich. Er haute über die grüne Grenze ab, verabschiedete sich davor jedoch noch bei meinen Eltern und hatte es tatsächlich rüber geschafft. Ich aber wusste nichts davon und es brach für mich eine Welt zusammen. Es war mir klar, dass ich ihn mein Leben lang nicht mehr wiedersehen werde! Oder vielleicht erst, wenn ich alt bin. Ich heulte Rotz und Wasser, trauerte tagelang und hörte die Lieblingsmusik meines Bruders, Udo Lindenberg, rauf und runter.
Nur wenige Wochen später, am 9. November 1989, fiel plötzlich die Mauer. Was haben Sie für Erinnerungen an diese Zeit?
Gleich zu Beginn, im November 1989, starb meine Großmutter. Sie lebte im Westen, in der Nähe von Bochum, bei Recklinghausen. Meine Eltern bekamen ein Visum, um sie im Sterben zu begleiten. In den letzten Jahren der DDR gab es solche Ausnahmen, dass man zu speziellen Ereignissen aus dem Land reisen durfte. Mein Bruder und ich jedoch mussten daheimbleiben. Da mein Bruder aber am 8. November 18 Jahre alt werden sollte, beantragte er ein Visum, dass wir zur Beerdigung nachreisen durften. Er kämpfte so stark für unser Visum, dass sie irgendwann nachgaben. Meine Kumpels konnten es kaum glauben, dass ich in den Westen fahre. Sie wollten als Beweis, dass ich wirklich drüben war, eine Schachtel Marlboro mitgebracht bekommen. Ich war ja erst 14 und wusste nicht, wie ich das machen sollte. Die meinten aber, es gäbe im Westen Zigaretten-Automaten. Mit dem Ziel, eine solche Schachtel zu kaufen und mit einer großen Portion Neugierde fuhren wir dann zu zweit am 8. November 1989 in den Westen, also genau einen Tag vor der für uns noch absolut undenkbaren Wende. Am Grenzübergang staunte man über den Eintrag im Visum meines Bruders: „Mitreisendes Kind: Kornelius Holmer.“ Mein Bruder war ja gerade mal vier Jahre älter als ich, ich konnte doch nicht sein Kind sein. Man ließ uns trotzdem gewähren und wir konnten tatsächlich in den Westen überfahren. Durch den Zug liefen vor Beginn der Reise die Grenzwärter mit scharfen Hunden durch das Abteil, um mögliche Flüchtlinge aufzuspüren. Es wurde eine sehr beschwerliche, zehnstündige Reise, wir fragten uns schon, ob wir überhaupt jemals ankommen werden. Doch es klappte, wir kamen tatsächlich über die Grenze. Ich staunte Bauklötze, was ich da alles sah. Besonders die beleuchteten Straßenschilder auf den Autobahnen, die fand ich wunderschön.
Ihre Oma wurde just am 9. November 1989, diesem geschichtsträchtigen Tag, beerdigt?
Richtig. Am Abend kam dann die unglaubliche Nachricht, die Mauer sei gefallen. Anstatt in Trauer über den Tod unserer Oma dazusitzen, haben wir dann Loblieder angestimmt. Mein Bruder war komplett durch den Wind, er sagte nur noch: Mensch, da bin ich einmal im Westen und ausgerechnet dann geht in Berlin sowas ab. Der wäre natürlich gerne dabei gewesen und hätte mitgefeiert (Lacht).
Sie haben also die Wende im Westen miterlebt.
Ja, und als wir zurückfuhren, kaufte ich dann tatsächlich noch die Schachtel Marlboro. Das war natürlich bekloppt, weil inzwischen ja alle meine Kumpels auch in den Westen fahren konnten und sich tatsächlich dort selber schon Marlboros kaufen gingen.
Dann kam Weihnachten 1989. Was geschah da?
Unser Vater kam auf mich und meinen Bruder zu und fragte uns, ob wir damit einverstanden wären, wenn wir den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, und seine Frau Margot bei uns aufnehmen würden.
Da machten Sie sicher wieder große Augen.
… ja und ich sagte sofort: Na klar, dann passiert mal was. Honecker war ja eine spannende Person, die jeder kannte.
Haben Sie nicht gedacht, dass Ihr Vater Witze macht?
Nein, mit solchen Sachen scherzte mein Vater nicht. Ich habe vielmehr in dem Moment gedacht: Wow, das ist cool, dann können wir dem mal all das sagen, was uns so geärgert hat! Doch da hat unser Vater gleich gesagt: Das lässt du schön bleiben!
Wie kam es denn dazu, dass Honeckers bei Ihnen quasi Asyl erhielten?
Honecker war schwerkrank in einem Spitalgefängnis untergebracht. Er hatte Nierenkrebs und ihm ging es wirklich nicht gut, er brauchte Ruhe. Seine Anwälte mussten sehen, wohin man ihn bringen könnte. Die Siedlung in Wandlitz, das bisherige Zuhause der Honeckers, war bereits geräumt worden und so verloren Honeckers ihr Daheim. Sie waren schutzlos und ihr Leben in Gefahr. In Berlin fand man keinen sicheren Platz, dort wären ihnen die Leute sofort aufs Dach gestiegen, im wahrsten Sinne des Wortes. Da sagte man sich, dass vielleicht die Kirche helfen könnte. So kamen sie auf Lobetal. Die Anwälte dachten, dass man die Honeckers da in einem der Heime für unsere Behinderten unterbringen könnte.
Ihr Vater war nicht nur Pastor von Lobetal, sondern auch Bürgermeister und Anstaltsleiter der Hoffnungstaler Anstalten für behinderte Menschen. Lobetal war quasi ein einziges großes Heim für beeinträchtigte Menschen.
Lobetal wurde ursprünglich initiiert, um Berliner Obdachlosen eine Bleibe zu geben. Der bekannte Pastor Friedrich von Bodelschwingh war der Gründer und startete zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer Baracke mit dem Namen „Hoffnungstal“. Daraus wurde nach und nach eine Arbeit für sozial Schwache insgesamt. In den 30er und 40er Jahren wandelte es sich zu einer Wohnsiedlung für behinderte Menschen. In der Zeit des Nationalsozialismus gab es verschiedene Bombenanschläge auf das Haus des damaligen Anstaltsleiters, weil dieser sich dafür stark gemacht hatte, dass keine Behinderten aus Lobetal abgeholt wurden. Behinderte Menschen hatten ja bei den Nazis kein Lebensrecht. In der Zeit der DDR war es bereits ein Dorf mit mehreren Heimen und insgesamt ungefähr 1500 beeinträchtigten Bewohnern. Auch lebten die Betreuer mit ihren Familien da, wir waren wie eine große Familie. Im Volksmund sagte man, dass in diesem „Spinner-Dorf“ die „Bekloppten“ wohnen.
Wollte man also Honecker bewusst zu den „Bekloppten“ stecken und ihn dadurch demütigen?
Das denke ich nicht. Die Anwälte Honeckers suchten wirklich einen sicheren Ort für ihn und kamen so auf uns.
Ihr Vater war anfänglich etwas zögerlich…
Honecker war ja der Vorzeigesozialist schlechthin. Er stand für all das Schlimme, was in der DDR passiert war. Im Behindertenheim gab es Wartelisten, die über Monate und Jahre gingen. Es wäre unfair gewesen, ausgerechnet Honecker vorzuziehen. Also sprach Vater mit unserer Mutter. Sie überlegten, ob es eine Möglichkeit gäbe, Honecker privat bei uns unterzubringen. Wir hatten ein großes Haus, acht meiner Geschwister waren bereits ausgezogen, nebst meinen Eltern lebten nur noch mein Bruder und ich da. Natürlich mussten auch der Vorstand der Anstalt und wir Kinder einverstanden sein. Letztendlich gaben alle grünes Licht.
Was hat Sie alle dazu bewogen, ja zu sagen?
In Lobetal steht mitten im Dorf eine Christusfigur, wunderschön von Rhododendron umrahmt. Die hat ausgestreckte Hände in Erinnerung an den Bibelvers: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid.“ Mein Vater sagte: In der Bibel steht „alle“, also gilt es auch für Honecker. Zudem wurde Lobetal ja ursprünglich für obdachlose Menschen gegründet. Honeckers waren jetzt auch obdachlos, wir konnten sie also gemäß unserer Glaubensüberzeugung und der Geschichte von Lobetal, wo man Hilfesuchenden ganz ohne Unterschied immer ein Dach bieten wollte, nicht abweisen.
Am 30. Januar 1990 zogen die bekannten Gäste schließlich bei euch ein.
Ich weiß noch, dass da ein alter Mann und eine alte Frau in der Tür standen. Ich habe sie im ersten Moment nicht wirklich erkannt. Erst auf den zweiten Blick habe ich geschnallt, dass sie es sind. Sie kamen rein und haben mit uns zu Abend gegessen und danach ihre Zimmer bezogen.
Hatten sie einen eigenen Wohnbereich?
Mein Bruder räumte sein Zimmer und gab es den Honeckers. Auch das Zimmer des anderen Bruders, der über Ungarn abgehauen war, konnten sie beziehen. Dort wurde für sie eine kleine Küche improvisiert. Insgesamt hatten sie also einen kleinen, eigenen Bereich für sich. Mein Kinderzimmer war gleich nebenan, wir lebten also Wand an Wand. Ich bin morgens jeweils zu ihnen reingegangen und habe einen guten Morgen gewünscht und mich dann in die Schule verabschiedet. Abends wünschte ich ihnen eine gute Nacht. Sie fragten mich auch mal, was wir in der Schule gemacht hätten. Es war aber im Grunde nichts anderes, als wenn andere Gäste bei uns waren. Natürlich wussten wir, wer das war, aber es spielte eigentlich keine Rolle. Man merkte einfach, dass dies Menschen sind, die Hilfe brauchen.
Waren Honeckers denn wirklich ganz normale DDR-Leute oder gaben sie sich doch privilegiert?
Es wunderte mich schon, dass Honeckers mit „Schauma“ ankamen. Dieses Marken-Schampo aus dem Westen war in der DDR gar nicht erhältlich. Vielleicht hatten sie es in den wenigen Wochen seit der Wende im Westen gekauft, ich gehe aber davon aus, dass sie schon vorher damit duschten. Ehrlich gesagt ist daran nichts Verwerfliches, verwerflich ist jedoch, dass sie sich ein Privileg gönnten, das allen anderen in der DDR verwehrt blieb. Das hat mich natürlich schon gewundert. Sonst aber gaben sie sich ganz normal.
Redeten Ihre Eltern mit Honeckers über solche Dinge?
Mein Vater versuchte schon mit Honecker zu reden. Sie machten gemeinsam Spaziergänge ums Haus und um den See in der Nähe. Dies aber erst ganz zum Schluss des rund neunwöchigen Aufenthalts, vorher war die Presse wie Haifische hinter uns her. Die Bild-Zeitung belagerte unser Haus dauerhaft mit Reportern. Es wurde sehr schnell weltweit bekannt, dass Honecker bei uns Obdach fand. Ausgerechnet in einem Behindertendorf und bei Christen, die im System Honeckers doch am wenigsten Kredit genossen. Speziell war auch, dass wir ja vorher nirgendwo hindurften, jetzt aber plötzlich die Welt zu uns kam. Kamerateams aus Kanada, Australien… Einmal waren meine Eltern und mein Bruder nicht da. Da kam das belgische RTL und so gab ich denen ein Interview. Ich konnte weder Französisch noch Englisch und die kein Deutsch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemals gesendet wurde (Lacht).
Ihre Familie bekam auch viele negative Reaktionen, bis hin zu Mord- und gar Bombendrohungen. Wie gingen Sie damit um?
Es gab sehr unterschiedliche Reaktionen, insgesamt kamen über 3000 Briefe an. Mein Vater wusste den Unmut richtig einzuschätzen, er kannte ja die Situation in der DDR und konnte die Wut der Menschen auf Honecker nachvollziehen. Die Leute hatten endlich die Möglichkeit, ihrem Ärger freien Lauf zu lassen und nutzten sie auch. Er beantwortete einzelne Briefe, zeigte großes Verständnis und legte seine Sicht der Dinge dar. Meine Eltern wollten ja Honecker nicht das Unrecht vergeben, das er allen Menschen angetan hatte, sondern nur jenes, was sie persönlich betraf. Gerade in christlichen Kreisen wuchs dann allmählich das Verständnis. So gab es dann auch durchaus positive Rückmeldungen.
Und Ihre Freunde in der Schule? Wie reagierten die?
Wir Lobetaler Jugendlichen waren immer zusammen unterwegs. Die anderen in der Schule waren in der Regel nicht so an uns interessiert, wir waren eher ein bisschen Außenseiter. Als Honeckers bei uns waren, änderte sich dies rasant, auf einmal war ich die spannendste Figur. Alle wollten wissen, wie Honecker so ist. Es war wirklich cool für mich, etwas zu erzählen zu haben. Da wurden dann manche Sachen durchaus aufregender geschildert, als sie wirklich waren (Lacht).
Wie war denn Erich Honecker als Mensch?
Eigentlich ein recht ruhiger Zeitgenosse. Er war bescheiden und er verhielt sich auch nicht wie ein Herrscher oder Diktator. Er war ein alter Herr, für mich fast ein bisschen wie ein Opa. Ein Opa freilich, der sehr viel fernsieht! Es war unglaublich, wieviel er in die „Röhre“ guckte, er hatte jede politische Sendung, die es nur irgendwo gab, geschaut. Es wurde im Fernsehen damals viel auch über ihn und die DDR berichtet. Da fragte er dann meinen Vater etwas unsicher: Aber es war doch nicht alles schlecht in der DDR, was wir gemacht haben, nicht?
War er in gewisser Weise reflektiert?
Ja, und ich glaube das Schlimmste für ihn war nicht die Wende an sich, sondern dass sich alle Genossen von ihm abwandten. Keiner seiner Freunde stand zu ihm! Seine Weggefährten kamen ihn nicht besuchen und sagten sich auch zum Teil gar öffentlich von ihm los.
War er also ein einsamer Mensch?
Ja, das muss man schon sagen. Menschlich gesehen war er eine arme Gestalt. Man stelle sich vor, wenn es einem im Leben mal knüppeldick kommt, dass man ausgerechnet dann von all seinen Weggefährten und Freunden verlassen wird… Aber im Sozialismus hat halt eben die Liebe, die Nächstenliebe gefehlt. Und die Barmherzigkeit auch gleich noch dazu.
Die Nächstenliebe bekam er aber von euch vorgelebt. Hat ihn diese Konfrontation mit gelebtem Glauben zum Nachdenken gebracht?
Mein Vater wollte mit Honecker über den christlichen Glauben reden und Erich Honecker wäre wohl schon offen dafür gewesen. Doch Margot war immer sofort sehr abweisend und blockte gleich ab. Wir beteten stets vor dem Essen, auch als Honeckers bei uns waren. Da erzählte er uns einmal, dass seine Oma auch eine gläubige Frau gewesen sei und gebetet habe. Ihm war das Christentum nicht ganz unbekannt. Meinen Eltern war es aber wichtig, dass nicht primär unser Wort, sondern unsere Tat den Glauben bewahrheiten soll. Allein dies, dass wir sie bei uns aufgenommen hatten, war schon Predigt genug.
Honeckers hätten dann nach einigen Wochen umgesiedelt werden sollen, das klappte aber nicht, sie kamen wieder zu euch.
Man versuchte sie nach Lindow zu bringen, das war ein früheres Vorzeigedorf des Sozialismus und da gab es ein staatliches Haus, wo man sie unterzubringen dachte. Doch dann gingen die Leute mit Stangen auf ihr Auto und das Haus los. Honeckers konnten keinen Tag dort bleiben und kamen wieder zu uns. Meine Mutter und ich standen im Innenhof, als sie wieder zurückkamen. Honecker sagte: „Frau Holmer, ich bin wieder daheim.“
Eigentlich ein verrückter Satz! Ein ehemaliger diktatorischer Staatsführer fand bei Ihnen ein Zuhause und fühlte sich offensichtlich wohl.
Ich denke schon, dass sie sich wohl fühlten. Auch wenn Margot Honecker in späteren Interviews sagte, dass wir sie ja nur aus christlichem Pflichtgefühl aufgenommen hätten. Sie wollte unsere Motivation relativieren. Ich glaube, dass Erich Honecker dies anders gesehen hat. Aber natürlich war es für sie beide schwierig, nach außen hin einzugestehen, dass ausgerechnet Christen ihnen in ihrer Not beistanden.
Ich spüre, Sie erinnern sich gerne an diese unglaubliche Geschichte aus ihrer Jugend.
Ja, auch wenn ich sagen muss, dass man selbst schnell vergisst, wie unglaublich das eigentlich war. Aber generell finde ich, dass das Erinnern etwas existenziell Wichtiges ist. Man kann sich ja so oder so erinnern. Entweder schaut man einfach negativ auf etwas und sagt, dass alles blöd war. So würde ich aber nicht auf die DDR-Zeit zurückblicken wollen. Vielmehr bin ich sehr dankbar dafür, dass ich da aufwachsen durfte. Ich weiß, das klingt ein bisschen komisch, aber ich bin wirklich dankbar für den Mangel, den ich dadurch kennengelernt habe. Heute weiß ich es viel mehr zu schätzen, was ich habe. Ich habe in meinem Leben nach der Wende so viele Länder bereisen dürfen, was für mich als Kind völlig undenkbar war. So erfüllt mich die Erinnerung an früher vor allem mit Dankbarkeit für die guten Zeiten nach der Wende. Auch wenn ich durchaus gewisse Entwicklungen heutzutage kritisch sehe.
Inwiefern?
Es wundert mich, dass man das Thema DDR irgendwie einfach so leicht abgehakt hat und manches in komischer Art von „Ostalgie“ verklärt wird. Die DDR war ein klarer Unrechtsstaat! Über die Prinzipien und über das Gedankengut dahinter muss man reden, diese Dinge aufarbeiten. Weil man sich damit aber so wenig beschäftigt, sind die Gefahren groß, dass man gegenwärtig und zukünftig nicht die richtigen Lehren daraus zieht.
Sehen Sie denn konkrete Entwicklungen in unseren Tagen, die Sie an die DDR-Zeit erinnern?
Ja, recht viele. Ich nehme zum Beispiel wahr, dass die Meinungsfreiheit zunehmend beschnitten wird und dass es immer mehr Leute gibt, die sich nicht mehr zu sagen trauen, was sie eigentlich denken. Wenn man es doch tut, wird man schnell in eine Ecke gedrängt oder in eine Schublade gesteckt. Das war in der DDR genauso, bis dahingehend, dass die Leute nur noch das sagten, was der Staat hören wollte. Das wurde letztlich auch Honecker zum Verhängnis, er hatte keinen Bezug mehr zur wirklichen Meinung der Leute. Es wäre wichtig, dass wir diesen Entwicklungen Einhalt gebieten und uns die Freiheiten nicht nehmen lassen. Auch darum ist es wichtig, dass wir uns erinnern.
Wer war Erich Honecker?
Von 1971 bis zur Wende 1989 war Erich Honecker der maßgebliche Politiker der damaligen „Deutschen Demokratischen Republik“, kurz DDR. Von 1976 bis 1989 war er Vorsitzender des Staatsrates. Er war in dritter Ehe mit Margot, geborene Feist, die von 1963 bis 1989 Ministerin für Volksbildung war, verheiratet. Das Ehepaar Honecker lernte sich 1949 auf der 70. Geburtstagsfeier von Diktator Josef Stalin in Moskau kennen. Honecker wurde nach der Wende für zahlreiche Vergehen angeklagt, konnte aber aufgrund des bereits schlechten gesundheitlichen Zustands nicht mehr einvernommen werden. Über Moskau floh das Ehepaar nach Chile, wo Erich Honecker 1994 und Margot Honecker 2016 verstarben.
Kornelius Holmer
46, wirkt heute als evangelisch-lutherischer Pfarrer im oberfränkischen Zapfendorf. Er ist verheiratet und vierfacher Vater. Seine Mutter starb 1995, sein Vater Uwe Holmer 2023. 2022 wurden die Ereignisse, die sich 1990 in Lobetal ereigneten, im vielbeachteten Fernsehspielfilm „Honecker und der Pastor“ neu erzählt. Die Familie Holmer stand den Filmemachern unterstützend zur Seite.
Dieses Gespräch wurde für das Magazin Melchior geführt und erschien dort 2022 in der Ausgabe Nr. 17.