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Gerhard Lohfink: Gelebte Gemeinschaft
Ein Bruderhof entsteht
Erfahrungen eines jungen Menschen in einer jungen Gemeinschaft.
von Maureen Swinger
Dienstag, 8. Oktober 2024
Verfügbare Sprachen: English
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Gelegentlich fragen mich Freunde, wie neue Bruderhofgemeinschaften entstehen. Jede hat ihre eigene Geschichte. Ich kann nur von jener erzählen, die ich aus erster Hand miterleben durfte.
Eineinhalb Autostunden nördlich von New York City, in Chester, liegt der Bellvale-Campus. Das Grundstück wurde 2001 zu einem Bruderhof. Allerdings hat es eine Vorgeschichte. Unterhalb des Bergrückens von Bellvale Mountain erstreckt sich ein weitläufiges Hauptgebäude mit einer anmutigen Kapelle und drei identischen Backsteinhäusern, umgeben von einem See, über das Tal.
Anfang der 1960er Jahre öffnete die Jugend- und Familienhilfe Pius XII. ihre Türen für junge Männer, die kein sicheres Zuhause hatten. In den folgenden 30 Jahren bot das Internat, welches von den Brüdern vom Heiligen Kreuz geleitete wurde, Hunderten von jungen Männern Bildung, Stabilität und Betreuung. Wir wissen das aus erster Hand, denn in den ersten zehn Jahren, in denen wir dort wohnten, veranstalteten wir Treffen für ehemalige Schüler. Sie kamen in Scharen und verwandelten sich bei ihrer Ankunft von ehrwürdigen Anwälten, Architekten und Chiropraktikern in gesellige Teenager, die über den Campus rannten, um ihre alten Zimmer und Lieblingsangelplätze zu finden. Unter einer Weide auf der anderen Seite des Sees blieben sie stehen, um den Gedenkstein für den ersten von ihnen, der in Vietnam gefallen war, zu ehren – Eugene Kirkland, am 6. Mai 1968.
Diese Männer erzählten von der Liebe und den hohen Erwartungen, die ihnen die Brüder entgegenbrachten, und von der Kameradschaft, die sie fanden. Sie waren immer noch in Kontakt miteinander und verhielten sich wie eine Familie. Sie erklärten, das Anwesen sei so schön wie eh und je, und beklagten, dass sie es in den letzten Jahren nur von der Hauptstraße aus betrachten konnten.
Anfang der 80er Jahre, als viele der engagierten Brüder in die Jahre kamen, begannen die New Yorker Gerichte, straffällig gewordene Kinder an Pius XII. zu überweisen. Da es nur noch sehr wenige Brüder gab, die das Heim leiten konnten, und jede Woche immer mehr gewalttätige Jugendliche aus Jugendstrafanstalten ankamen, musste Pius XII. Personal einstellen, das gleichzeitig als Wachpersonal fungierte.
Nachbarn begannen sich über Vandalismus zu beklagen und fühlten sich bedroht; die Polizei wurde häufig wegen Schlägereien, Ausreißern oder Sachbeschädigungen gerufen. Angesichts der vielen problembelasteten Kinder, des Mangels an geschultem Personal und der fehlenden Mittel für weitere Ressourcen und die Instandsetzung des Geländes lösten die Verantwortlichen die Schule im Mai 2000 kurzerhand auf.
Der Campus stand bereits ein Jahr lang leer, als unserer Gemeinschaft auf ihn stoß. Wir waren auf der Suche nach einem Ort, der nicht von Grund auf neu gebaut werden musste – vorzugsweise eine ehemalige Schule oder ein Kloster, das innerhalb weniger Monate etwa hundert Menschen aufnehmen konnte. Der älteste US-Bruderhof, Woodcrest, in Rifton, New York, beherbergte zu dieser Zeit mehr Menschen als je zuvor. Die Mitglieder der Gemeinschaft erwägten, die Verwaltungsbüros unserer Holzmöbel Firma Community Playthings und die dort arbeitenden Personen samt ihren Familien an einen neuen Ort zu verlegen.
Dieser Vorschlag wurde von den beteiligten Familien mit Begeisterung aufgenommen. Als wir die ersten Fotos unseres zukünftigen Zuhauses sahen, mit den Gebäuden, den Bergen und dem See , waren wir uns alle einig, dass es, zumindest von außen, wunderschön aussah. Aber unsere Kundschafter berichteten auch über den Verfall der Anlage. Für mich – und für viele andere – erhöhte dies den Reiz. Wie oft kommt es vor, dass sesshafte Büroangestellte in einer gut etablierten Gemeinde Pionierarbeit leisten?
Im Juli 2001 trafen die ersten sechs Mitglieder ein, räumten und putzten die Zimmer in der am weitesten entfernten Hütte, richteten eine Küche und zwei provisorische Bäder ein, beseitigten die schlimmsten Müllberge und verwandelten Heuwiesen wieder in so etwas wie Rasen.
Mein Büro – technischer Support und Helpdesk – zog im Oktober um. Mit einer Familie und zwei Singles haben wir die Gesamtzahl der Bewohner auf 20 erhöht. Nachdem wir unser eigenes Büro im Hauptgebäude geschrubbt hatten, schlossen wir die Computer und Telefone an. Wir zwei alleinstehenden Damen legten uns in einem Zimmer im mittleren Haus auf Matratzen nieder. Die Cottages waren alle gleich: drei Schreibtische, die in Fächer in der Wand eingebaut waren, drei Metallhocker, die jeweils an einen Schreibtisch gekettet waren, und drei Schränke, die bis auf die Banden-Graffitis an den Türen identisch waren (meine Mitbewohnerin war offenbar den Kings zugeteilt und ich den Bloods). Die Fenster waren aus bruchsicherem und auch sichtgeschütz-tem Plexiglas und hatten Stahlgitter an der Außenseite.
Wir hebelten die Gitter mit einem Brecheisen auf, aber die Fenster waren zugeschraubt. Ich besorgte einen elektrischen Schraubenzieher und öffnete den Fensterrahmen. Schneller, als ich reagieren konnte, fiel die obere Hälfte herunter und verletzte meine Knöchel. Mein Wunsch nach Mitgefühl wurde von älteren Pionieren mit Gelächter quittiert – anscheinend war dieser Unfall auch vielen anderen Frischluftsuchenden passiert und gehörte dazu.
Eine Bürozentrale am Laufen zu halten, damit es in weit entfernten Fabriken nicht zu Verzögerungen kommt, und gleichzeitig die verschiedenen Ecken unseres wunderbaren, weitläufigen, unordentlichen neuen Hauses zu renovieren, erwies sich als aufregender Balance-akt. Das Gefühl, einfach drauflos zu arbeiten, Fehler zu machen, sich zu entschuldigen und einen neuen Anlauf zu nehmen, war berauschend.
Im Laufe der nächsten Wochen trafen weitere junge alleinstehende Mitglieder ein, die aus anderen Gemeinden geschickt wurden, um bei der Eroberung des Ortes zu helfen und so zählte die Jugendgruppe bald um die 20 Mitglieder. Wir lernten uns gut kennen, während wir bis spät in die Nacht hinein putzten, Graffitis von Wänden entfernten, mit Steinen versuchten, alte Turnschuhe von Telefonleitungen zu schießen und den vier Meter hohen Zaun demontierten.
Zwischen den Arbeitsprojekten fanden wir Gelegenheiten zur Entspannung, und hier kam uns der alte Campus sehr entgegen. Jedes der drei Wohnhäuser verfügte über ein großes, zentrales Foyer mit Kamin und Sofas davor. Abends brauchte man nur über den Weg vor den Häusern zu schlendern, durch die Panoramafenster zu lugen und auszuwählen: in einem Foyer gab es eine ernsthafte politische Diskussion, im nächsten einen ausgelassenen Gesangsabend und im letzten ein intensives Pokerspiel. Die Leute wechselten mühelos zwischen den Häusern und die Grenzen zwischen den Altersgruppen und zwischen Familien und Singles waren fließend.
In diesem ersten Jahr wurde mehr gelacht als in den meisten anderen Jahren unseres Lebens zuvor oder danach. Täglich kam es zu bizarren Situationen. Eines Morgens öffnete jemand einen Stromkasten im Keller des Haupthauses und fand darin eine mumifizierte Katze. Er packte sie in einen Karton und schickte diesen an seinen Onkel, der selbst für seine Streiche bekannt war. Dieser reagierte überhaupt nicht, als er den Karton öffnete, sondern genoss die Reaktionen der anderen, als er sein „Geschenk“ herumzeigte.
Jemand stieß seinen Kopf durch ein neu eingesetztes Fenster. Es war ein normales, klares Glasfenster. Wir waren jedoch alle so sehr an die getrübten, zerkratzten, alten Fenster gewöhnt, dass das klare saubere Fenster ihn zu der Annahme verleitete, dass es offen stand. Nachdem er verarztet worden war, berichtete er beim gemeinsamen Mittagessen von seinem Missgeschick. Wir konnten nicht anders, als mit ihm zu lachen. Ein unerschrockener Kanalisationsarbeiter fand einmal eine ekelhafte neon-orangefarbene Plastikhose. Von da an tauchten diese Hose nach unausgesprochener Übereinkunft in jedem Samstagabend-Sketch auf und wurde Teil unserer wöchentlichen Gelegenheit, über die jüngsten Bemühungen und Rückschläge zu lachen.
Bei unseren abendlichen Treffen wurde oft lebhaft darüber diskutiert, welches Projekt unter den vielen, die um Aufmerksamkeit schrieen, am wichtigsten war. Es gab Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse. Aber wir gewannen eine neue Wertschätzung für unsere jahrhundertealte Gemeinschaftsregel, direkt zu sprechen, ohne Klatsch und Tratsch und nicht hinter dem Rücken anderer.
Das erste Weihnachtsfest in Bellvale war unvergesslich. Viele der Finessen und Traditionen, die in einer sesshafteren Gemeinde üblich sind, waren einfach nicht möglich. Aber die Jugendgruppe führte eine Interpretation der Weihnachtsgeschichte auf. Josef und Maria klopften an die sieben Türen, die in unseren Speisesaal führten. An jeder wurden sie von verschiedenen modernen Gastwirten abgewiesen: von einer streitlustigen Kirchenversammlung über einen eleganten Hotel-Concierge bis hin zu einem Vertreter unserer eigenen Gemeinde, der zu sehr damit beschäftigt war, zu reparieren und zu putzen, um die Fremden willkommen zu heißen. Das junge Paar fand endlich Zuflucht in einem Zimmer hinter einer lauten Bar. Schließlich erkannten alle zuvor beschäftigten oder stolzen Gastwirte ihre Blindheit und kamen, um den Babykönig anzubeten. Am Ende hatte sich unsere ganze Gemeinde vor dem Jesuskind versammelt.
Es dauerte fast ein Jahr,bis das Büro von Community Playthings vollständig besetzt war, zusätzlich zu den Lehrern, Köchen, medizinischem Personal und allen anderen, die für den Betrieb eines Bruderhofs benötigt wurden. Wir hatten jetzt einen funktionierenden Speisesaal, eine Gemeinschaftswäscherei, Schulräume und eine Garage. Eine temperamentvolle Großmutter namens Sibyl schloss sich uns an und erklärte, dass sie hierher gezogen war, um uns die Möglichkeit zu geben, einen Friedhof anzulegen. (Sie lebte – vergnügt – noch zwölf Jahre weiter.) Jetzt hatten wir alle Generationen unter einem Dach, von Großeltern bis zu einem Neugeborenen.
Bei uns ist es üblich, dass sich Alleinstehende für Wochenenden oder Ferien einer bestimmten Familie anschließen. Ich hatte das große Glück, bei Milton und Sandy zu landen. Sie hatten viele Kinder großgezogen und waren mit vielen Enkeln gesegnet. Ihre Tochter Lisa, die Trisomie 21 hatte, lebte noch zu Hause. Sie war zu diesem Zeitpunkt Ende dreißig. Milton und Sandy behandelten mich wie ihre eigene Tochter und im Laufe der nächsten Jahre wurden Lisa und ich tatsächlich zu Schwestern. Wir backten gemeinsam oder arbei-teten an Verschönerungsprojekten des Hauses. Jeden Arbeitstag begannen wir mit einer Stunde in der Gemeinschaftswäscherei, wo ich die Industriemaschinen bediente, während sie Stoffwindeln und Küchenschürzen faltete, und wir beide laut sangen, um das Rattern der Waschmaschinen zu übertönen.
An einem Sommernachmittag spazierten wir gemeinsam herum und beobachteten ein Fußballspiel auf dem Feld unter uns. Wir blieben stehen, um einen Torwart zu beobachten, der mit todesmutigen Sprüngen Schüsse abwehrte. Wir waren höchst amüsiert. Lisa informierte mich, dass es sich um Jason Swinger handelte, der gerade aus der Fox Hill Gemeinschaft nach Bellvale gezogen war. Ich ahnte nicht, dass der Torwart und ich vier Jahre später heiraten würden.
Zweimal in der Woche frühstückten die Singles gemeinsam; anfangs kochten die Jungs am Dienstag und die Mädchen am Freitag. Daraus entwickelte sich ein ernsthafter kulinarischer Wettbewerb, bei dem die Beteiligten immer früher aufstanden, sich Waffeleisen von verschiedenen Familien ausliehen und von jeder Steckdose im Speisesaal Verlängerungskabel zu den Tischen legten oder eine Omelettbar mit allem Drum und Dran veranstalteten. Aus Angst wo das enden würde und ob unser Gemeinschaftsbudget das auf die Dauer verkraftete, schlossen wir schließlich einen Waffenstillstand und einigten uns auf einen anderen Modus. Wer kochen wollte, tat dies, während die anderen Kaffee tranken und dumme Sprüche auf das Menübrett kritzelten. Wir fingen an, unser Frühstück nach draußen zu verlegen, zum Beispiel an die gewundene Uferpromenade am Ende des Sees, wo alle im Schneidersitz saßen und Pfannkuchen weiterreichten. Einmal gab es Kuchen und Kaffee auf dem Gipfel eines Berges.
Jason und ich entdeckten, dass wir beide Jam-Sessions liebten, und initiierten oft Singabende vor dem Kamin, die von Rock über Country bis hin zu Folk und wieder zurück reichten, und bis Mitternacht dauerten oder bis eine arme, erschöpfte Mutter ihren Kopf ins Foyer steckte und uns zum Schweigen brachte.
Bellvale war 2004 Gastgeber für eine Jugendkonferenz. Hunderte von jungen Leuten zelteten auf den Feldern und diskutierten über ihre Visionen für die Zukunft des Bruderhofs. Viele wünschten sich die Möglichkeit, das Konzept kleiner städtischer Gemeinschaftshäuser auszuprobieren. Bald darauf entstanden in mehreren Städten des Nordostens Bruderhof-Häuser. Den Grundstein für diese Idee legte Justin Peters, ein tatkräftiger Konstrukteur, Landschaftsgestalter und Vater, der das Konzept seit Jahren in unseren Versammlungen vorstellte. Er war auch derjenige, der dazu beitrug, dass die Jugendlichen der Konferenz den künftigen Friedhof unserer Gemeinde gestalteten. Sie pflanz-ten einen Kreis von Bäumen und errichteten um das Gelände eine niedrige Steinmauer.
Nur zwei Monate später fuhr Justin mit anderen Bellvale-Mitgliedern, viele davon aus unserer Jugendgruppe, zu einer Veranstaltung, um einen Vortrag über Friedensstrategien zur Beendigung des Irakkriegs zu hören. Als er auf den Eingang zuging und auf die beeindruckende Schönheit einer Reihe von Stieleichen hinwies, fiel er ohne Vorwarnung auf den Bürgersteig und erlitt einen tödlichen Herzinfarkt.
Nachdem wir durch einen Anruf von dem Vorfall erfahren hatten, versammelten wir uns gleich, um für sein Leben zu beten, ohne zu wissen, dass er bereits tot war. Seine Frau Linda fuhr sofort ins Krankenhaus, aber seine Tochter war mit uns, als der zweite Anruf kam. Unsere Herzen brachen gemeinsam, als uns klar wurde, dass ein Mann, der Teil unseres Lebens war, mit dem wir zusammengearbeitet, gestritten, gelacht und gesungen hatten, nicht mehr zurückkommen würde. In dieser Nacht, als wir mit Kerzen die Einfahrt säumten, während sein Leichnam nach Hause getragen wurde, war unsere enge Gemeinschaft auf eine neue Art und Weise vereint, durch stillen Schock und Schmerz. Die Plötzlichkeit seines Todes war erschütternd. Es erinnerte uns alle daran, warum wir hier, auf diesem kleinen, schönen Fleckchen Erde, sind: nicht um eine perfekte, schöne Gemeinschaft aufzubauen, sondern um eine Lebensweise zu bezeugen, die uns in den Evangelien gezeigt wird.
Justins Grab war das erste auf dem Friedhof, den wir gemeinsam mit ihm angelegt hatten. Wenn ich heute durch dieses Tor gehe, denke ich nicht an seinen Tod oder an den der anderen neun, die dort begraben sind. Ich denke an die Art und Weise, wie sie an die Wahrheit eines gemeinsamen Lebens glaubten, an einen größeren Zweck als die Gemeinschaft selbst.
Zwei Jahrzehnte später wohnen die meisten dieser ersten 100 Bewohner Bellvales in anderen Bruderhof-Gemeinschaften. Aber genau wie bei unseren Vorgängern von Pius XII. hier am Campus tauchen all die Geschichten wieder auf, wenn wir uns treffen. Wir fangen an zu lachen und erleben die Arbeit, die Verrücktheit und die Freude der ersten Zeit nochmals.