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Das Unverzeihliche verzeihen
Zu Schuld und Vergebung
von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Donnerstag, 4. April 2024
Verfügbare Sprachen: English
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Gibt es eine Grenze für Vergebung? In diesem Essay ergründet Prof. Gerl-Falkovitz diese Frage. Sie zeigt, warum Vergebung elementar aber nicht einfach ist.
Geschichten von Vergebung
Selten wurde der Protest gegen das billige „Vergeben und Vergessen“ so eloquent vorgetragen wie von Vladimir Jankélévitch (1903–1985), der sich als Jude dem französischen Widerstand gegen die Nazis anschloss. Gerl-Falkovitz nimmt seine Reaktion auf den Holocaust als Ausgangspunkt.footnote — die Redaktion
Im Jahr 1971 veröffentlichte der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch (1903-1985) einen Aufsatz Pardonner?.footnote Im ersten Teil „Das Unverjährbare“ sprach er sich leidenschaftlich gegen die Verjährung von Kriegsverbrechen während der französischen Vichy-Regierung aus. Begründung: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie etwa auch in Auschwitz, bedeuten eine gleichsam ontologische Enthumanisierung – sie könne nicht mit Versöhnung zugedeckt werden. „Es ist das Sein des Menschen selbst, ESSE, das der rassistische Genozid im schmerzenden Fleisch dieser Millionen von Märtyrern zu vernichten versuchte. [. . .] Jedesmal, wenn ein Akt das Wesen des Menschen als Mensch leugnet, widerspricht die Verjährung, die darauf hinauslaufen würde, ihm im Namen der Moral zu vergeben, ihrerseits der Moral.“footnote Vergebung sei mit den Opfern in den Lagern gestorben. Der Artikel führte dazu, dass es keine Amnestie für die französischen Nazi-Kollaborateure gab.
Im zweiten Teil „Hat man uns um Ver-zeihung gebeten?“ fragt Jankélévitch nach den Bedingungen der Versöhnung. Da Opfer und Täter tot sind – welche Adressaten hätte dann das Verzeihen? Kann der Staat „verzeihen“? Sicher im Sinn von Begnadigung, als Aussetzung von Strafe, nicht aber im Sinn wirksamer Tilgung von Schuld. Wer aber könnte solch umfassende Verzeihung leisten?
Jankélévitch setzt grundsätzlich nur eine persönliche Vergebung voraus, von Angesicht zu Angesicht zwischen Henker und Opfer, in einer solitude à deux ohne Anwesenheit eines Dritten. Das schließt aber das Überleben des Opfers ein – später ist die Tür zur Vergebung zugeschlagen. Selbst die Reue des Henkers bleibt folgenlos; sie kommt asymmetrisch zu spät. Reue und Vergebung werden entkoppelt; sie sind durch die unüberbrückbare Zeit geschieden.
Nach Jankélévitch dürfen sich die Nachgeborenen nicht anmaßen zu vergeben, was ihnen schon wegen der Monstrosität der Schuld nicht zusteht. Rituale öffentlicher Entschuldigung dienen nur einer symbolischen Selbstübersteigung der Politik und einem strategischen Nutzen: als halb-sakrale Ereignisse für die Masse. Die Rhetorik über den Gräbern ist unrein, auch wenn die Enkel der Getöteten sprechen. „Heute ist die Verzeihung seit langem fait accompli, begünstigt durch Gleichgültigkeit, moralische Amnesie und allgemeine Oberflächlichkeit. Längst ist alles vergeben und vergessen.“ footnote Aber: Ontologisch bestehe die Schuld weiter, denn auch die Agonie der Opfer „daure bis ans Ende der Tage.“ Kein Harmoniebedürfnis, kein Händeschütteln der Nachgeborenen könne über das Unverzeihliche hinwegretten.
Ein Gegenbild: Die Jüdin Eva Mozes Kor war mit ihrer Zwillingsschwester durch den SS-Arzt Joseph Mengele zu Menschenversuchen herangezogen worden.footnote Auch sie war in ihrer Erinnerung als Opfer festgeschrieben, schlimmer noch: als Doppelopfer. Bei einem Treffen mit einem anderen SS-Arzt, Hans Münch, bat dieser sie um Verzeihung. Blitzartig erkannte sie in seiner Bitte eine Möglichkeit, aus ihrer Zerstörung herauszutreten. Das „hilflose kleine Mengele-Kaninchen“ verfügte über etwas, das ihr nicht bewusst gewesen war: über die Macht zu vergeben. Mit dieser unbekannten, sie gewaltig ergreifenden Macht löste sie sich aus dem Schatten der lebenslangen Opferrolle. Sie sprach Vergebung aus und wurde frei – frei auch gegenüber den Vorwürfen, die sie eine „Verräterin“ der toten Schwester nannten. Für Mozes Kor war Vergeben vielmehr eine Ehrung der Toten (vielleicht die einzig angemessene Ehrung?) – weit über alle Forderungen einer „gerechten Strafe“ hinaus. Die Logik der Vergeltung verblasste vor der Erfahrung, dass Vergebung einen Weg des Freiwerdens für Henker und Opfer bedeutete.
Nietzsche, Freud und das Schuld-„Gefühl“
Die ungewohnten Worte Jankélévitchs von einer ontologischen, untilgbaren Schuld bringen in die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ einen düsteren Ton, der lange verschwunden schien. Seit Nietzsche und Freud war man gewohnt, Schuld einem undurchschauten Schuld-„Gefühl“ zuzuordnen und es zu „therapieren.“ War nicht das eingeredete Bewusstsein von Schuld selbst die Schuld, um die es ging?
„Die Logik der Vergeltung verblasste vor der Erfahrung, dass Vergebung einen Weg des Freiwerdens für Henker und Opfer bedeutete.“
Aber am Ende des 20. Jahrhunderts mehrten sich die Rückblicke auf Verbrechen im Namen des „menschlichen Menschen.“ Die rote, braune, auch die gelbe Ideologie hatten nicht im Namen eines Gottes, sondern im Namen fortschreitender „Humanisierung“ vielen Millionen das Menschsein aberkannt – aufgrund ihrer Klasse oder ihrer Rasse. Schuld ist so zu einem ungeheuren, schweren Erbe heutiger Generationen aufgelaufen. Und das ad aeternum? Auschwitz ist dafür keineswegs die einzige Chiffre, neben Archipel Gulag, Pol Pot, chinesischer Kulturrevolution, Ruanda . . . Nun töten Isis, Al Kaida, Boko Haram im Vorderen Orient und im Niger, diesmal im Namen eines islamistischen Gottes. Was nach dem II. Weltkrieg „vorbei“ schien, erzwingt heute eine gänzlich neue Sicht. Schuld ist ungeschminkt zurückgekehrt in die Sprache der Politik, des Glaubens, der Philosophie. Das Millenium brachte viele Ent-Schuldungen hervor: der Buren bei den Hottentotten, der Australier bei den Aborigins, der USA bei den Indianern, schon zuvor den Kniefall des Kanzlers Willy Brandt im Warschauer Ghetto und andere Zeichen deutscher Schuld-Erinnerung. Aber die Adresse der Vergebung wurde selten klar benannt. Von wem wäre auch in einer areligiösen Welt Vergebung zu erwarten?
Rückkehr der Schuld ins Gespräch
Eine Ausnahme bildete Papst Johannes Paul II. 1999: Die Bitte um Vergebung für die geschichtliche Schuld der Christen richtete sich nicht rhetorisch an die Toten oder ihre Enkel, sondern an Gott.
Jankélévitch hatte ausdrücklich das Wuschbild abgewiesen, die Enkel der Ermordeten könnten (und dürften) den Enkeln der Mörder vergeben. Beide sind unbetroffen, wenn auch in das Netz der Folgen eingesponnen – wie aber erreicht man die toten Henker und Opfer? Die Zeitachse ist unumkehrbar. Was bewirkt dann Vergebung – wenn sie nicht nur ein Bedürfnis nach Harmonie darstellt? Vor allem: Wer bewirkt Vergebung? Was ändert sie am Verbrechen und am Verbrecher – wirklich?
Die „reine Gabe“: Vorspiel zur reinen Vergebung
Um Vergebung in ihrer insbesondere biblischen Tiefe zu begreifen, ist ein Nachdenken über das Geben notwendig. Grundlage aller Ökonomie ist Geben und Zurückgeben im Tausch: im adäquaten Gleichgewicht von Geben und Nehmen. Tausch vertritt eine pragmatisch ausgleichende Gerechtigkeit. Drastisch erinnert an die Tauschlogik die Forderung: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Aber wo Menschen mit Sachen, Wert mit Preis, Leben mit Geld und Waren verglichen werden, kommt der unscharfe, ja demütigende Charakter des Tausches zum Vorschein. Ein berühmtes Beispiel: „Und sie nahmen die dreißig Silberlinge, den Schätzpreis des so Geschätzten, den die Israelsöhne geschätzt hatten. . .“ (Mt 27,9) Dreißig Münzen stellen den „Abgleich“ des Menschensohnes dar; nachdem sie in den Tempel zurückgeworfen wurden, wird dafür ein Töpferacker gekauft. Tauschen versagt, wo Ungleiches verglichen wird. In unserem Zusammenhang: Kann ein Mord etwa durch Reue „ausgeglichen“ oder gesühnt oder vergeben werden?
In Gegensatz zum Tausch steht die „reine Gabe“: Sie ist „supererogatorisch“, über alles Verlangte, Vergleichbare oder Geschuldete hinaus, sie ist das Überflüssige selbst, reine „Huld.“ „Wenn dich einer um eine Meile Weges bittet, gehe zwei mit ihm; will einer deinen Rock haben, gib ihm auch den Mantel.“ (Mt 5,40) „Reines Geben“ sagt nicht: do ut des, sondern: „Ich gebe, weil mir gegeben wurde.“ Damit ändert sich die punktgenaue Rückzahlung in eine Haltung freier, uneigennütziger Weiter-Gabe. Das deutlichste Beispiel dafür bildet die Liebe. Sie ist mit Gerechtigkeit nicht abzugleichen, sie besteht beiderseits nur im Ungeschuldeten, frei Gegönnten. Die „reine Gabe“ ist der Kern der Schöpfung, Kern auch der noch größeren Erlösung, wie sie das Christentum begreift.
Die reine Vergebung: Übergang in das göttliche Tun
Im Blick auf das mörderische 20. Jahrhundert prüfte Jacques Derrida (1930-2004) analog dazu ein Denken des pardon pur als Steigerung von don pur. Er tat dies ausdrücklich gegen Jankélévitchs bitterem Essay Pardonner?, gegen die „Bedingungen“ des Vergebens, also gegen die Tauschlogik.
Derrida spricht vielmehr von der Notwendigkeit einer reinen Absolution von Schuld, und zwar ausdrücklich einer unbedingten, nicht durch Gegenleistung ausgelösten Vergebung. Pardon beruht nicht auf dem Abgleich von Schuld und Sühne. Deshalb steht Vergebung nicht als Paragraph im Strafrecht, sondern außerhalb aller juristischen „Entsprechung.“ Begnadigung hebt vielmehr das Recht auf und kann nur als Ausnahme gelten; sie liegt in dem transzendenten, „mystischen Grund“ einer Gerechtigkeit, die vom Recht nicht einzuholen ist. footnote
Derrida greift Jankélévitchs erste These an, Vergebung sei – wenn überhaupt – nur in der solitude à deux zu gewähren. Würde die Vergebungsmöglichkeit tatsächlich mit dem Tod des Opfers enden, käme die Reue des Täters zu spät, er hätte keine aktive Stelle im Drama mehr. Reue und Vergebung würden logisch getrennt: Vergebung kennt keinen Geber mehr, sie wäre tatsächlich selbst sterblich. Kann Vergebung so zeitfixiert, so endlich gedacht werden? Und noch schwieriger: Wird sie doch wieder „getauscht“ gegen Reue?
Auch in Jankélévitchs zweiter These wirkt nach Derrida eine unsichtbare Tauschlogik, diesmal in negativer Form: Gegen bestimmte Verbrechen, z.B. gegen die Menschlichkeit, kann kein „Gegenwert“ mehr angeboten werden. Welche „Reue“ könnte die Kommandanten von Lagern von ihrer Schuld befreien? Daher verweist Derrida auf die Möglichkeit (sogar Notwendigkeit?), den symmetrischen Kreislauf von Schuld und Sühne zu unterbrechen. Dazu bedient er sich der biblischen Erzählung von der Ursünde: Die Genesis spricht von der großen Sünde der Ureltern (Gen 3), aber sie spricht auch von der „apriorischen Vergebung“ Jahwes (Ex 6-10), schon vor die Sünde überhaupt geschah. Gnade ist „mehr als“ erdacht, ersonnen, gewünscht – Gnade ist „immer schon.“ footnote
„Vergebung bedeutet weder ein Ungeschehenmachen noch ein Kleinreden des Verbrechens.“
Vergebung müsste daher bis zur Verzeihung des Unverzeihlichen gehen, so Derrida: „Man muss von der Tatsache ausgehen, dass es, nun ja, Unverzeihbares gibt. Ist es nicht eigentlich das Einzige, was es zu verzeihen gibt? Das einzige, was nach Verzeihung ruft? Wenn man nur bereit wäre zu verzeihen, was verzeihbar scheint, was die Kirche ‘lässliche Sünde’ nennt, dann würde sich die Idee der Vergebung verflüchtigen. Wenn es etwas zu verzeihen gibt, dann wäre es das, was in der religiösen Sprache ‘Todsünde’ heißt, das Schlimmste, das unverzeihbare Verbrechen oder Unrecht. (. . .) Man kann oder sollte nur dort vergeben, es gibt nur Vergebung – wenn es sie denn gibt – wo es Unverzeihbares gibt. Was soviel bedeutet, dass das Vergeben sich als gerade Unmögliches ankündigen muss. Es kann nur möglich werden, wenn es das Un-Mögliche tut. (. . .) Was wäre das für eine Verzeihung, die nur dem Verzeihbaren verziehe?“ footnote
„Übersetzt“ bedeutet dies: Absolution gibt es nur im Absoluten – nicht im Relativen menschlicher „Verrechnung.“ Was verbirgt sich hinter dem Absoluten?
Derridas Forderung entspricht dem biblischen Denken: Die „abrahamitische Tradition“ kennt unausdenkbare Vergebung. Er erwähnt dabei die katholische Kirche, welche diese Möglichkeit des Vergebens ausübt (ohne dass Derrida als Jude ihr angehört, denkt er dabei wohl an die Beichte als die konkrete Praxis abrahamitischer Tradition). Diese Praxis ist für Derrida von unerhörter Qualität. Für ihn ist reine Vergebung erst gegeben, wenn die Konfrontation von Zweien (auch wenn beide tot sind) in eine klärende Anwesenheit mündet: eines zeitfreien Gebers der Vergebung.
Der Raum des Dritten (Gottes) übersteigt die menschlichen Möglichkeiten, reißt sie aber mit in den Horizont des Unmöglichen – und doch Denkbaren: „Ist die Vergebung eine Sache des Menschen, das dem Menschen Eigene, ein Vermögen des Menschen – oder ist diese Gott vorbehalten? (. . .) göttlich/jenseitig oder diesseitig, geweiht/heilig oder nicht? Alle Auseinandersetzungen um die Vergebung handeln auch von dieser ‚Grenze’ und dem Überschreiten dieser Grenze.“ footnote
Andere Kulturen setzen statt der „reinen Vergebung“ einen „Polittourismus“ gegenseitigen Entschuldens. Das zwischenmenschliche Harmoniebedürfnis greift dabei nicht bis zu den Toten zurück, befriedet nur die Nachgeborenen. Es geht bei Vergebung aber um mehr als um die Rituale eines taktischen politischen Neuanfangs.
Die Rücksendung der Schuld ins Nichts
Lässt sich aber Geschehenes in der Vergebung ungeschehen machen? Sicher kann die Löschung von Geschichte nicht die Lösung des mysterium iniquitatis (2 Thess 2,7) sein. Doch liegt ein Fingerzeig in der Bemerkung von Augustinus, dass Sünde eine erlogene Wirklichkeit aufbaute. Es trifft den Kern des Bösen, dass es seine Macht nur unter „geliehener Maske“, unter dem Vorwand des Guten ausüben kann. Die Lüge, pseudos, liegt in der Aufblähung des Bösen, als sei es ein Gutes (privatio boni).
Damit ist die grausame Realität von Schuld, das Unwiederbringliche auch des Vernichteten keineswegs geleugnet oder verkleinert. Vergebung bedeutet weder ein Ungeschehenmachen noch ein Kleinreden des Verbrechens. Angesichts des Absoluten geschieht anderes: die Entlarvung des Unnützen, Nichtigen, Unsinnigen, sogar Kläglichen des Bösen – zusammen mit seinem „Zurücksenden“ (remissio) in das Nichts, aus dem es sich aufgeblasen hat. Das Böse verschwindet, im Nichts seiner usurpierten Gewalt, in seinem Anspruch gelöscht, „etwas“ zu sein. Was meint das?
Indulgentiam, absolutionem et remissionem peccatorum nostrorum, erbittet die römische Mess-Liturgie, wörtlich: Nachlass, Lösung und „Rücksendung.“ Remissio betont einen objektiven Vorgang: das Rücksenden des Bösen in seine Nichtswürdigkeit, die Rückführung der Lüge in ihr Nichts. Vergebung lenkt den Blick auf die Vergangenheit – aber: Sie lässt die Vergangenheit in ihrer Nichtigkeit selbst verschwinden. Sie nimmt ihr die Macht der Gegenwart, das furchtbare „ewige Jetzt“ von Jankélévitch. footnote Vergebung befreit Gegenwart und Zukunft von der Leiche des Gewesenen.
So erinnert die Vergebung nicht einfach an das Vergangene und hält es damit ewig gegenwärtig, sondern sie vergisst das im „Zurückschicken“ entschwundene Vergangene. Demnach wird Gott die Sünden „hinter sich werfen“, so weit wie der Morgen vom Abend entfernt ist; und weiter: „Der dir all deine Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt, der dein Leben vor dem Untergang rettet und dich mit Huld und Erbarmen krönt (. . .) Er handelt an uns nicht nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Schuld. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch ist seine Huld über denen, die ihn fürchten. So weit der Aufgang entfernt ist vom Untergang, so weit entfernt er die Schuld von uns. Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über alle, die ihn fürchten.“ (Ps 103,3; 10-13) Augustinus setzt noch darauf: „Verworfenen hat er die Verherrlichung versprochen.“ footnote
Als Echo darauf bleibt nur noch, dass der Sünder mit Kierkegaard sagen kann: „Dass du vergessen und vergeben hast, will ich dir ewig gedenken.“ footnote
Vergebung wird so zur gesteigerten Gabe: zur Rückgabe (remissio) des Tödlichen an seinen eigenen Tod.
Felix culpa?
Mit Augustinus lautet Leben, wenn man bis auf seinen Grund geht: videntem videre – Den ansehen, Der mich immer schon ansieht. „Dein Sehen ist Lebendigmachen. Dein Sehen bedeutet Wirken.“ footnote Und solches Sehen und unersättliche Zurückschauen zu Gott wirkt anders als der abstrakte Bezug auf ein neutrales „Es“ der Gerechtigkeit oder eine anonyme Vergebung. Sehen und sich ansehen lassen ist größeres Glück als das Verschmelzen und Untergehen in einem anonymen Eins und Alles oder Eins und Nichts eines „Urgrundes.“ Vergebung ist nicht Versinkenlassen in einem Unbeteiligten; sie bindet in eine neue, beglückende Beziehung: zum anderen Menschen, aber tiefer noch zum Urlebendigen, zu Gott.
Erst so wird es einleuchtend, statt einer neutralen „Löschung“ von Schuld eine personale Mitte der Vergebung anzunehmen. Ein Stein vergibt nicht einem anderen Stein, und dieser bereut nichts. Bereuen und Vergeben sind kein mechanischer Vorgang. Plausibel werden sie erst als personale Vollzüge.
Im Exsultet der Osternacht wird alljährlich mit Jubel ein Gedanke des Augustinus gesungen: „Dies ist die Nacht, in der die leuchtende Säule das Dunkel der Sünde vertrieben hat. Dies ist die Nacht, die auf der ganzen Erde alle, die an Christus glauben, scheidet von den Lastern der Welt, dem Elend der Sünde entreißt (. . .), in der Christus die Ketten des Todes zerbrach und aus der Tiefe als Sieger emporstieg. Wahrhaftig, umsonst wären wir geboren, hätte uns nicht der Erlöser errettet. (. . .) O wahrhaft heilbringende Sünde des Adam, du wurdest uns zum Segen, da Christi Tod dich vernichtet hat. O glückliche Schuld (felix culpa), welch großen Erlöser hast du gefunden. (. . .) Der Glanz dieser heiligen Nacht nimmt den Frevel hinweg, reinigt von Schuld, gibt den Sündern die Unschuld, den Trauernden Freude.“ footnote
C. S. Lewis formulierte, Petrus würde wohl nachträglich jedem erzählen, er habe den Herrn verraten – mit strahlendem Gesicht, weil er mit einem einzigen Blick in eine unvorstellbare Tiefe der Liebe hineingezogen wurde. „Und der Herr wandte sich um und sah Petrus an (. . .) und dieser ging hinaus und weinte bitterlich.“ (Lk 22,61f) Daran wird der entscheidende Satz einleuchtend: Schuld wird nur dort gespürt, wo es Vergebung gibt. Normalerweise denken wir: erst Schuld, dann Reue, dann Vergebung. Das gilt tatsächlich im Menschlichen. Nicht aber gilt es im Göttlichen: Der „verzeihende Blick“ Jesu stößt umgekehrt den reuevollen Schmerz an, mit dem Schuld ins Rollen kommt.
In der göttlichen Erlösung wird Reue nicht zur „Bedingung“ der „reinen Vergebung.“ Die „glückliche Schuld“ löst diese Entsprechung nicht nur auf, sie stellt die reuevolle Einsicht in die eigene Schuld auf eine andere Grundlage. Der Göttlich-Gute, der zeitfrei die Zeit überblickt, hat längst vor aller Schuld den Raum geöffnet, worin begangene Schuld sich äußern und eingestanden werden darf. Das Geständnis ist schon die erste Frucht der Vergebung. Der Blick der Liebe selbst ist Grund zur Umkehr des Bösen. Das heißt: dass die Schuld nur angesichts der Vergebung wirklich eingestanden werden kann.
Ja, die Schuld ist im Eingeständnis bereits am Schwinden. Noch grundsätzlicher: Nur im Radius des göttlichen Vergebens wird Schuld überhaupt sichtbar; so wie in der Entlastung selbst erst die Last in ihrem Gewicht gespürt wird. Daher „überholt“ göttliche Vergebung die Reue unbedingt. Sie wird nicht durch Reue hervorgelockt; sie lockt umgekehrt Reue hervor – nicht aber als Voraussetzung, sondern als Folge erfahrener Befreiung. Das ist der Augenblick, wo „der Fall wichtiger ist als eine Vision“ (Therese von Lisieux); in diesem Augenblick wird Schuld glücklich: hat sie doch den Löser gefunden. „Flut um Flut drängt sich aus Dir unversieglich, für immer, Fluten von Wasser und Blut, (. . .) wälzend sich über die Wüsten der Schuld, überreichlich bereichernd, jeden Empfang überbordend, jedem Begehren übergenug.“footnote
Fußnoten
- Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Verzeihung des Unverzeihlichen? Ausflüge in Landschaften der Schuld und der Vergebung (Text & Dialog, 2013).
- Vladimir Jankélévitch, „Should We Pardon Them?,” trans. Ann Hobart, Critical Inquiry 22, no. 3 (1996): 552–572.
- Ibid., 555–556.
- Ibid., 566.
- Eva Mozes Kor, interview mit Harald Welzer, Frankfurter Rundschau, Juni 13, 2003.
- Jacques Derrida, „Force of Law: The Mystical Foundation of Authority,” in Deconstruction and the Possibility of Justice, ed. Drucilla Cornell et al. (Routledge, 1992), 3–66.
- Jacques Derrida, Pardonner: L’impardonnable et l’impréscriptible (Galilée, 2005), 70.
- Jacques Derrida, „On Forgiveness,” trans. Michael Hughes, in On Cosmopolitanism and Forgiveness (London & New York: Routledge, 2001), 32–36. auch Derrida, “Das Jahrhundert der Vergebung: Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität,” interview von Michel Wieviorka, in Lettre international 48 (Spring, 2000): 10–18.
- Derrida, Pardonner, 74–75.
- Vladimir Jankélévitch, „Schuld und Vergebung,” in Sinn und Form: Beiträge zur Literatur 50, no. 3 (1998): 378.
- Aurelius Augustinus, Enarratio in Psalmos, 110 (109), 1.
- Søren Kierkegaard, „Love Hides the Multiplicity of Sins,” in Taten der Liebe (1847), GW 19 (1966), 309ff.
- Nicholas of Cusa, De visione Dei 4,13, 5,18, in Complete Philosophical and Theological Treatises of Nicholas of Cusa, Übers. Jasper Hopkins (Arthur J. Banning, 2001), 685–687.
- The Roman Missal, Third Edition (ICEL, 2010).
- Hans Urs von Balthasar, The Heart of the World, Übers. Erasmo S. Leiva (Ignatius Press, 1979), 153.