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Drei Säulen der Erziehung
Die Kunst des Flickens
Eine Mutter veredelt abgenutzte Kleidung.
von Leah Libresco Sargeant
Donnerstag, 16. Mai 2024
Verfügbare Sprachen: English
Für Grace Russo ist das Ausbessern von Kleidung sowohl eine tägliche Aufgabe als auch eine Form der Kontemplation. Bei sich zu Hause flickt sie Kleidung mittels üppiger Stickereien. Diese verzieren das Kleidungsstück und sind viel mehr als nur die Behebung eines Schadens. Draußen in der Natur wendet Russo ihre Ausbildung zur Gärtnerin an, um zu entscheiden, welche menschlichen Handlungen die natürliche Ordnung respektieren und welche mit den Wurzeln ausgerissen werden müssen.
Russo begann sich für das Reparieren von Bekleidung zu interessieren, als sie Studentin war, und wenig Geld für neue Kleider besaß. Die am häufigsten getragenen Kleidungsstücke mussten am öftesten geflickt werden: „Ich hatte viele karierte Flanellhemden, die an den Manschetten ausfransten oder deren Nähte sich auflösten“, sagt sie. Es sind die Lieblingsstücke, die repariert werden müssen, während das schlecht sitzende Kleid tadellos ganz hinten im Schrank hängt.
Russo hatte schon immer eine künstlerische Ader und fühlte sich zur Stickerei hingezogen, weil sie da mit dem Faden zeichnen konnte. Das erste Buch, das sie über dekorative Stickerei las, stammte von einer japanischen Künstlerin, und so entdeckte sie schließlich Sashiko. Sashiko ist eine japanische Handquilttechnik, die sowohl als reine Verzierung als auch zum Ausbessern eines abgenutzten Stoffstücks verwendet werden kann. Dabei wird traditionell weißer Faden auf indigoblauem Stoff verwendet, was die Ausbesserungen hell und auffällig macht. Die Stiche verlaufen in der Regel über den gesamten Stoffflicken und nicht nur am Rand, um ihn zu befestigen. So wird der Flicken zu einer Leinwand für geometrische oder von der Natur inspirierte Muster.
Die Baumwollhemden ihres Mannes flickt Russo mit Verzierungen aus buntem Garn. Wenn die Hemden beginnen Abnutzungserscheinungen zu zeigen, sind sie auch endlich weich und angenehm auf der Haut. Um sie dann noch tragen zu können, wenn das Material seine beste Qualität erreicht hat, müssen sie geflickt werden.
Als Russo begann Kleidung zu reparieren, änderte sich ihr Blick. Wenn sie etwas in einem Geschäft oder in einem Secondhand-Laden ansah, bedachte sie nicht nur, wie das Kleidungsstück zu diesem Zeitpunkt aussah, sondern auch wie es sich mit der Zeit verändern würde. Wie würde es ausgebessert werden müssen, welche Art von Reparaturen würde es vertragen? Sie suchte nach dickeren Baumwollstoffen, die starken Stichen standhalten konnten. Sie vermied Kleidung aus dehnbaren synthetischen Stoffen, da diese keine Reparaturen vertragen. Sie überprüfte sogar die Online-Bewertungen von Kleidern, um zu sehen, welche Art von Naht in einem Kleid versteckt war, bevor sie es bestellte. Während sie jede Naht betrachtete und kontemplierte, wie sie sie vielleicht eines Tages wieder durch die Maschine laufen lassen würde, bekam sie ein stärkeres Gefühl für die Hände, die sie bereits Zentimeter für Zentimeter in ihre jetzige Form gebracht hatten. Bis sie selbst zu nähen begann, dachte Russo, dass die Herstellung von Bekleidung so automatisiert ist, wie das Spinnen von Garn. Aber es gibt fast keine Nähmaschinen, die von alleine arbeiten. Nichts, was wir an unserem Körper tragen, ist nicht durch die Hände eines Menschen gegangen, der meist um die halbe Welt entfernt von uns lebt.
Nicht alles kann repariert werden, oder sollte es laut Russos Meinung. Es gibt Dinge, die reif für die Mülltonne sind, und andere, die sie auf unbestimmte Zeit beiseite legt. „Ich wäge ab zwischen dem Arbeitsaufwand und dem emotionalen Gewicht des Kleidungsstücks“, erklärt sie. Einige stark beschädigte Kleidungsstücke landen ganz unten im Flickkorb, in der Hoffnung, dass ihre Risse einmal zu Schönheit erblühen können, wenn die Zeit dafür gekommen ist und ihre Töchter selbstständiger geworden sind. Ihre Töchter sind sehr aktiv und gehen gerne auf Entdeckungstouren- so wandern ihre Kleider häufig in die Wäsche- und Flickkörbe. Ihre Älteste, Beatrix, ist drei Jahre alt und Russo lässt sie daran teilhaben, das wieder ganz zu machen, was beim Spiel kaputt ging. Russo sticht die Nadel in den Stoff ein und zieht sie wieder heraus. Beatrix sitzt neben ihrer Mutter und arbeitet mit ihrer eigenen Nadel an einem Fädelspiel. Russos Ziel ist es, dass jede ihrer Töchter „mit dem Bewusstsein aufwächst, dass es Arbeit braucht, um etwas zu erschaffen, dass die Dinge sich nicht einfach von selbst materialisieren.“
Russo möchte, dass ihre Mädchen ein Gefühl dafür bekommen, wie viel Arbeit und Mühe jeder kreative Akt erfordert.
Ein Zuhause ist keine Fabrikshalle, aber die Arbeit einer Mutter und Hausfrau verschwindet leicht hinter demselben Schleier der Mühe-losigkeit, den Unternehmen nutzen, um die Facharbeit zu verbergen, die für die Herstellung unserer Kleidung erforderlich ist. Russo möchte, dass ihre Mädchen ein Gefühl dafür bekommen, wie viel Arbeit und Bemühungen jeder kreative Akt erfordert.
Wenn Russo ihre Mädchen zum Spielen ins Freie bringt, sieht sie mit dem Auge eines Gärtners nicht nur das Grün, sondern auch die (oft angespannten) Beziehungen zwischen Flora und Fauna. Im Jahr 2020 war Russo schwanger und durch die Covid-Pandemie isoliert. Sie wollte hinaus in die Natur, um sie zu erforschen, und stieß auf das Master-Gärtner-Programm des Maryland State Extension Service. Aufgrund von Covid wurden die Kurse online angeboten. Sie und ihr Mann kuschelten sich auf die Couch – später mit dem Baby zwischen sich – und lernten über die Zusammensetzung des Bodens und die Rekultivierung heimischer Pflanzen.
Das Programm endet mit einer umfangreichen Prüfung und der Verpflichtung, das erworbene Wissen in den Dienst der Nachbarschaft zu stellen. Meistergärtner leisten freiwillige Arbeit bei unterschiedlichen Events und organisieren Workshops für Kinder und Jugendliche. Als Russo den giftigen Schierling auf einem Friedhof entdeckte, notierte sie sich die Adresse und schickte eine Nachricht, in der sie vor der Gefahr warnte.
Die Wiederherstellung eines Ökosystem benötigt mehr Zeit als das Stopfen einer Socke. In dem Haus, in dem Russo lebt, gab es nichtheimische Pflanzen, die sie und ihr Mann sofort herausgerissen haben, und andere, die so tief verwurzelt waren, dass sie beschlossen, mit ihnen zu leben. Ein Spitzahorn ist zwar invasiv, aber „wenn man in ein Haus mit einem dreißig Jahre alten Ahorn einzieht, macht es keinen Sinn, ihn zu fällen und einen drei Jahre alten Setzling einzupflanzen.“ Stattdessen suchte sie nach heimischen Schattengewächsen, die den Schutz vor der Sonne durch die Ahornzweige begrüßten.
Unsere Welt kann nicht von Grund auf neu erschaffen werden. Stattdessen versucht Russo widerstandsfähigere Systeme zu etablieren.
Wenn ein Ärmel ihrer Gartenkleidung an einem Dorn aufreißt, wird er nach dem Flicken nicht so aussehen, als wäre nichts passiert. Und wenn Hausbesitzer und Stadtplaner über Generationen hinweg gegen das Wohl der Erde gearbeitet haben, „sind wir mit unserem Ökosystem an einem Punkt angelangt, an dem es nie so aussehen wird, als sei nichts passiert.“ Unsere Welt kann nicht von Grund auf neu erschaffen werden. Stattdessen versucht Russo widerstandsfähigere Systeme zu etablieren. Wenn man mit Kleidungsstücken arbeitet, „sieht man die Schwachstelle und versucht, sie so aufzubauen, dass sie genauso stark sind wie der Teil, der sie umgibt, oder sogar stärker als dieser.“ Bei Gärten steht sie vor der gleichen Herausforderung – was braucht hier Hilfe, um verschiedenen Belastungen standzuhalten?
Wo kann jemand mit wenig oder gar keiner Erfahrung anfangen? Versuchen Sie, den Bereich, in dem Sie arbeiten, zu erweitern, rät Russo. Wenn Sie ein kleines Loch ausbessern, „kann Ihre Reparatur die Größe einer Münze haben, oder Sie sticken einen ganzen Blumenstrauß in Ihre Jeans.“ Je kleiner und unscheinbarer die Arbeit, desto schwieriger ist es ihrer Meinung nach, sie gut auszuführen. „Wenn man etwas Größeres macht, verdeckt das die Tatsache, dass es sich um eine Flickarbeit handelt.“
Bei unsere eigenen Wunden und Flickstellen kann es sich ähnlich verhalten. Russo beschreibt die Arbeit von Tätowierern, die eine chirurgische Narbe oder eine große, verheilte Wunde künstlerisch ergänzen. Diese Künstler betrachten „die Kurve des Körpers und die Linie der Narbe“, erklärt sie. Die Narbe wird zum Samenkorn, und das Bild, an dem der Künstler und der Patient gemeinsam arbeiten, „beschränkt sich nicht auf die Narbe, es blüht auf und öffnet sich.“
In unseren Kleidern, in unseren Gärten und in unseren moralischen Entscheidungen spinnen wir die Fäden unseres Lebens. Das tägliche Erneuern und Flicken hilft uns, unsere Schwächen und Abhängigkeiten zu erkennen und herauszufinden, welche Löcher in unserem persönlichen Leben geflickt werden müssen.