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Von Rollen und dem Scrollen
In den Synagogen entwickelte sich die Lesung der Schrift weiter. Oder doch nicht?
von J. L. Wall
Dienstag, 8. Oktober 2024
I. Die Synagoge
Wenn Sie an einem Werktagmorgen eine Synagoge betreten, werden Sie drei verschiedene Arten der Schriftlesung sehen. Vorne oder in der Mitte des Raumes findet man die älteste Form: die Tora-Rolle oder Sefer Torah.
Dann gibt es auch den Codex: Die Gemeindemitglieder sitzen und folgen dem Text der Tora von den letzten Seiten eines Siddur, dem jüdischen Gebetbuch. Manche haben einen Band aus dem Regal gezogen und ihre Augen wandern von Text zu Kommentar zu Text.
Und dann sind da noch die Smartphones. Hebräische Buchstaben flackern auf, schwarz auf blauem Weiß, als jemand die Gebete aufruft. Er betet schnell und hält regelmäßig inne, um auf die anderen Beter zu warten. Während dieser Wartezeiten schaltet der Bildschirm um und sein Daumen scrollt, scrollt, scrollt durch einen Social-Media-Feed. Er ist nicht der Einzige.
II. Die Rolle
Die frühesten Papyrusrollen sind mehr als drei Jahrtausende alt. Im alten Rom lasen Beamte Kundmachungen aus dem vertikal ausgerichteten Rotulus vor. Die Schriftrolle in der Synagoge ist ein Volumen, das heißt, sie wird horizontal von rechts nach links gerollt. Ein reines Tierprodukt: etwa fünfzig Blätter aus Pergamenthaut, mit Haaren oder Sehnen eines koscheren Tieres zusammengenäht. Jedes Blatt enthält etwa fünf Spalten mit je zweiundvierzig Zeilen. Die Ränder sind exakt: 7,5 Zentimeter oben, zehn unten und jeweils fünf rechts und links.
Früher waren alle Bücher, ob Schriftrollen oder Codices, handgemacht. Bis heute muss eine Tora-Rolle handgefertigt sein, während die gebundenen Texte in den Sitzbänken in Massenproduktion hergestellt werden. Ein einziger Schreiber, oder Sofer, arbeitet ein Jahr lang um mit einem Federgriffel genau 304.805 Buchstaben zu schreiben. Zu Beginn ritzt er horizontale Linien auf dem Pergament ein, um seine Handschrift zu lenken, dann segnet er sein Werk und beginnt zu schreiben: langsam und bedächtig.
Die synagogale Lesung der Rolle ist ebenso ritualisiert wie ihre Herstellung. Der Ba’al kriyah, der Vorleser, rezitiert die Worte, ohne Vokale und Interpunktion, nach den grammatikalisch strukturierten Noten der Tora Melodie. Neben ihm steht das Gemeindemitglied, das den Segen über die Lesung gesprochen hat, und hilft ihm, die Tora-Rolle offen zu halten. An beiden Enden des Tisches stehen zwei weitere Gemeindemitglieder, die seine Worte mit dem Text in gebundenen Bänden abgleichen. Die Lesung benötigt mindestens drei, oft auch vier Personen gleichzeitig – bis zu siebzehn Teilnehmer im Laufe eines Sabbatgottesdienstes; keine private Lesung, sondern eine Gruppenzeremonie.
Die Schriftrolle ist die Technologie der klassischen Welt, der römischen Bürokraten. Selbst ihre physische Form impliziert Kontinuität: Es ist schwierig, von einer Stelle zur anderen zu springen. Die Rituale des Judentums betonen diese Kontinuität: Obwohl die Zeit von Anfang bis Ende stetig voranschreitet, kehrt die Erzählung immer wieder zu sich selbst zurück.
An Simchat Tora, dem Fest der Freude an der Tora, wenn die letzten Zeilen von Deuteronomium gelesen werden, kehrt die Gemeinde sofort zum Anfang zurück. Die Erzählung ist zu Ende, aber die Geschichte nicht, die sich in jeder Generation wiederholt: unser Vater, der wandernde Aramäer; das verstockte Herz des Pharao; auch wir waren Sklaven im Land Ägypten. Der politische Philosoph Michael Walzer hat diese Erfahrung der Zeit mit einer Spirale verglichen: Die Geschichte schreitet voran, aber sie wiederholt sich auch. Es ist eine zeitliche Erfahrung, die, wie Cynthia Ozick bemerkt, die Metaphern ermöglicht, die die moralische Vorstellung des Judentums prägen. „Wie dich selbst“, stellt sie fest, ist das „Leitbild“ der Bibel – eine moralische Forderung, die es ablehnt, den anderen als römischen hostis (Feind, Fremder) und griechischen xenos (Fremder) zu sehen, und ihn stattdessen als den Fremden und Sklaven betrachtet, der wir einst waren oder sind. Eine solche Metapher, so stellt sie fest, stützt sich auf die Erinnerung – das historische Gedächtnis der Tora. Es ist eine moralische Vorstellungskraft, die in den Ritualen begründet ist, die es der Tora-Rolle erlauben, Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart aufleben zu lassen.
III. Der Codex
Der Codex bietet ein anderes Verhältnis zur Zeit. Man kann die Seiten eines Buches in die Hand nehmen und mit Leichtigkeit vor- und zurückblättern. Man kann eine Pause einlegen, ein Lesezeichen setzen und später zurückkommen. Man kann etwa das Ende zuerst lesen und die ganze Zeit über wissen, wer der Mörder war.
Der Text der Tora, schreibt Emmanuel Levinas, „enthält mehr als er enthält . . . vielleicht einen unerschöpflichen Überfluss an Bedeutung. . . Die Exegese würde, in diesen Zeichen, eine verzauberte Bedeutung freisetzen, die unter den Buchstaben schwelt oder sich in dieser Ansammlung von Buchstaben zusammenrollt“.
Der Codex ist, zumindest im Judentum, zur Technologie dieser Exegese geworden, indem er die Fähigkeit, sich in der Zeit vor- und zurückzubewegen, in etwas anderes verwandelt – in eine Art Parallele, in der Vergangenheit und Zukunft sich wieder in der Gegenwart enthalten finden. Dies war nicht immer der Fall. Die Bücher, die wir als Talmud bezeichnen, begannen als mündliche Tradition, in welcher der Mensch selbst, Atem und Knochen, das Mittel der Aufzeichnung und der Exegese war. Das Judentum glaubt, dass Moses am Sinai eine mündliche Tora erhielt, zusammen mit der Schriftrolle zur Erläuterung. Diese wurde weitergegeben, studiert und aus dem Gedächtnis rezitiert, bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels. Es folgte die Zerstreuung des jüdischen Volkes, die Zerstörung der Studienhäuser und die Hinrichtung der großen Gelehrten. Bewahrung und Kontinuität erforderten die Schrift.
Der Codex oder zumindest die Schrift ist die Technologie, die es der Vergangenheit ermöglichte mit der Gegenwart in Kontakt zu treten.
So entstand die Mischna (die früheste Niederschrift der mündlichen Tora) in der Form, wie wir sie heute kennen. Die Arbeit von Yehuda HaNasi aus dem zweiten Jahrhundert diente ursprünglich sowohl als Kodifizierung als auch als Studienhilfe und gliederte die Vorschriften in sechs Ordnungen, 65 Traktate und 525 Kapitel. Das alles natürlich handgeschrieben. Die Gemara (eine Erläuterung der Mischna, gemeinsam bilden sie den Talmud) entwickelte sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte: Aufzeichnungen der Akademien von Babylon und Jerusalem, deren Exegese der Mischna. Mit der Zeit begannen die anderen Stimmen, die wir heute auf den Seiten des Talmuds finden, zu sprechen und boten eine Exegese nach der anderen, wenn auch ursprünglich nicht auf derselben physischen Seite.
So wie die Tora-Rolle die stetige Entwicklung der Schriftrolle in einen Kreislauf verwandelt, besteht der Talmud nicht nur darauf, dass Vergangenheit und Gegenwart miteinander sprechen können, sondern dass sie dies beständig tun. Die Tora enthält mehr als sie enthält – und all das, sogar die Exegese, wurde am Sinai gegeben. Zu diesen Gesprächen gehören Stimmen, die von der Zeit der Herrschaft des Zweiten Triumvirats bis in die Spätantike reichen und die über Zeit und Raum hinweg streiten, diskutieren und Wortspiele austauschen, als ob jeder den anderen kennen oder antizipieren würde. Der Codex oder zumindest die Schrift ist die Technologie, die es der Vergangenheit ermöglichte, mit der Gegenwart in Kontakt zu treten, und die es den Rabbinern der Diaspora erlaubte, mit ihren Toten das Brot zu brechen.
Die große Veränderung war die Druckerpresse. Gutenberg hatte seine Bibel bereits 1455 gedruckt. Der Talmud, wie wir ihn kennen, entstand 1520, als Daniel Bomberg in der venezianischen Werkstatt eines christlichen Druckers mit der Arbeit an einem gedruckten Talmud begann.
So wurde der Talmud zum Höhepunkt des Codex, zum bedeutendsten Beispiel für den technologischen Unterschied zur Schriftrolle (und in der Tat zwischen dem gedruckten Codex und dem Manuskript). Schlagen Sie heute einen Band auf, wird die Seite, die Sie betrachten, wahrscheinlich eine Variante der Vilnaer Ausgabe des späten 19. Jahrhunderts sein. Schriftsetzer und die Drucker-presse haben die Rolle des Codex im Judentum neu gestaltet. Stimmen, die durch Tausende von Jahren und Kilometern voneinander getrennt sind, grüßen einander auf einer Seite, als ob sie schon immer im Gespräch gewesen wären und immer im Gespräch sein werden.
Die Tora enthält mehr, als sie enthält – und das schließt, wie Sie beim Lernen der Gemara feststellen, Ihre eigene Begegnung ein.
IV. Scrolling
Die erste Umwandlung von „scroll“ (die Rolle) vom Substantiv zum Verb erfolgte Anfang des 16. Jahrhunderts. Scrollen bedeutete damals, in einer physischen Schriftrolle zu schreiben. Unsere Vorstellung von Scrollen taucht erst in den 1970er Jahren auf, als wir begannen, den Text auf einem Bildschirm reibungslos und seitenlos durchzublättern.
Heute scrollen wir durch einen Text ohne Anfang und Ende, mit nur einer geringen Berührung unserer Fingerspitze. Scrollen, scrollen: und zehn Minuten, eine halbe Stunde sind verschwunden. Wir scrollen, um die Zeit zu füllen, und dann, um sie zu töten. Es ist die alptraumhafte Umkehrung von Wordsworths Träumereien: Die Technologie manipuliert die Fähigkeit des Geistes, aus Verwunderung oder Entzücken über sich selbst hinauszuwachsen und etwas vielleicht Höheres zu erreichen. Unsere Selbstverliebtheit lässt uns aus uns selbst heraustreten – ins Nirgendwo.
Ermöglichen die Schriftrolle und der Codex Zirkularität bzw. Simultaneität, so unterstreicht das Scrollen die Vergänglichkeit. Ihre Konversationen sind kurz und flüchtig wie der Atem. Unser Horizont ist so kurz wie unser Leben – Datentrends, die sich über Jahrzehnte erstrecken und vielleicht auf ein ganzes Jahrhundert hochgerechnet werden können. Aber die Geschichte, beginnend mit dem ersten Abdruck eines Griffels auf Ton, ist länger, als wir es uns vorstellen können.
Es ist nicht so, dass die Auswirkungen der Vergänglichkeit des Scrollens auf den Einzelnen nicht wichtig wären. Das sind sie. Aber sie erzählen uns nicht die ganze Geschichte, die Geschichte des Lesens und insbesondere die der Wechselwirkungen zwischen weltlicher Technologie und heiliger Texte.
Kommen Sie an einem Werktagmorgen zurück in die Synagoge. Hier entwickelt sich etwas, das so langsam ist, dass es die Grenzen der Wahrnehmung testet. Da sind die Schriftrolle, der Codex und das verstohlene Blättern. Es ist eine Szene, die nahelegt, dass selbst das Denken über Technologie in jahrzehntelangen Zyklen von Kreation, Reaktion und (letztlich) Synthese trügerisch kurzsichtig ist. Zwischen der Kodifizierung der Mischna durch Yehuda HaNasi im frühen dritten Jahrhundert und dem Talmud von Daniel Bomberg aus dem Jahr 1523 verging mehr als ein Jahrtausend. Weitere drei Jahrhunderte bis zum Vilnaer Talmud. Das ist die Zeitspanne, in der sich das Volk des Buches aus dem Volk des Erinnerns entwickelt hat. Die Frage sollte also nicht lauten, ob die Neuerung dieser Ära in Bezug auf die Art und Weise, wie wir lesen – das Scrollen durch einen endlosen „Text“, der von Algorithmen produziert wird, die, wie es scheint, uns mehr lesen als wir sie –, abgelehnt oder eingelöst wird, sondern auf welche Weise sie mit allem, was vor ihr kam, in Einklang gebracht wird.
V. Die Synagoge (ein zweites mal)
Das Judentum ist eine Religion der Synthese, aber auch eine Religion der Trennung. Die berühmtesten Passagen aus dem Buch Kohelet handeln davon. Ich trenne Fleisch und Milchprodukte, Wolle und Leinen, und in den Zeremonien, die den Sabbat abschließen, die heilige Zeit vom weltlichen Leben.
Treten Sie also noch einmal in die Synagoge ein, dieses Mal an einem Sabbatmorgen. Hier ist die Schriftrolle, dort der Codex. Aber es wird nicht geblättert. „Der Sabbat ist ein Palast, der in der Zeit gebaut wurde“, schreibt Abraham Joshua Heschel, ein Satz, der so oft zitiert wird, dass er in den jüdischen Gemeinden schon fast ein Klischee ist. Die Mauern, die zum Schutz dieses Palastes errichtet wurden, haben ihn seit der industriellen Revolution manchmal wie eine Festung des Luddismus erscheinen lassen. Wir müssen uns vom Schaffen erholen – und die Innovationen der Moderne lassen uns unsere Welt so mühelos manipulieren und neu erschaffen, dass wir es oft gar nicht bemerken. Aus diesem Grund verbietet das traditionelle Judentum am Sabbat nicht nur Dinge wie Kochen und Schreiben, sondern auch die aktive Nutzung von Elektrizität, auch von Smartphones. Dieser Palast ist also auch gegen das Scrollen gesichert.
Synthese ist nicht gleichbedeutend mit Duldung. Die Synthese des Judentums mit einer Technologie, dem Codex, hat es zu einem größeren Teil zu sich selbst gemacht. Seine Synthese mit vielen Technologien der Moderne, zu denen zweifellos auch die Bildschirme gehören, die das Scrollen ermöglichen, hat eine andere Art von Transformation bewirkt. Der Sabbat, mehr als ein Tag, an dem wir uns vom Schaffen ausruhen, dient jetzt als Bollwerk, das uns vor unseren technologischen Schöpfungen schützen – uns von ihnen trennen – soll.
Wenn ich ein ehrlicher Kritiker des Scrollens sein soll, dann muss ich zugeben, dass die Technologie da ist – sie ist nicht mehr wegzudenken. Es gibt, so habe ich gelesen, eine Zeit für alles unter der Sonne. Während die Menschheit also durch die Synthese neuer Lesemethoden navigiert, können wir auch Wege finden, Raum und Zeit zu bewahren. Denn diese, so wissen wir, gewähren Zugang zum Heiligen – und zum Menschlichen.