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    Begegnung mit dem Wolf

    Zwei Heilige zeigen wie man Frieden mit der Natur schliesst.

    von Greta Gaffin

    Donnerstag, 12. September 2024

    Verfügbare Sprachen: English

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    Der letzte Wolf in Boston wurde im Jahr 1657 erlegt. Ich lebe in Boston, in einer Welt aus Stein und Ziegeln, Metall und Glas, wie viele Menschen heutzutage.

    Und wir haben den Wunsch zu entkommen. Wir wollen fliehen aus dieser von Menschenhand geschaffenen Umgebung – laut, reizüberflutet, chaotisch – und uns dorthin zurückziehen, wo es friedlich und ruhig ist.

    „Natürlich leben“, „Rückkehr zum Land“, „Es ist so wichtig für mich, in die Natur zu gehen“ – hört man sowohl von säkularen als auch von religiösen Menschen.

    Aber was bedeutet „in die Natur zu gehen“ eigentlich?

    Kürzlich war ich auf Exerzitien in einem Kloster in Cambridge, Massachusetts. Ich nahm mir etwas Zeit, um die Straße vor dem Kloster entlangzugehen und bewunderte die Pflanzen, die dort wuchsen. Immerhin Natur. Dabei kam mir der Gedanke, dass es sehr nett vom Cambridge Department of Public Works ist, sich um die Pflanzen zu kümmern, so dass wir uns an ihnen erfreuen können.

    Der hübsche Hügel in der Nähe meines Elternhauses ist die ehemalige Bostoner Mülldeponie. Die Wege im Stadtwald werden von der Abteilung für Naturschutz und Erholung gepflegt. Unberührte Natur? Vielleicht nicht. Schön? Heilsam? Auf jeden Fall.

    Aber das ist Boston. Ich war auch für kurze Zeit Praktikantin in einem bischöflichen Ordenshaus in Tennessee, weit weg vom städtischen Leben. Dort war es viel dunkler, als ich es gewohnt war. Ich lebte in einem kleinen Häuschen am Rande des Klosters, und der Gärtner warnte mich vor Schlangen. Ich hatte Angst vom Hauptgebäude zu meinem Häuschen zu gehen. Was, wenn ich auf eine trete? Die Schlangen Tennessees sind nicht mit der gewöhnlichen Strumpfbandnatter in Boston zu vergleichen. Im Süden trifft man auf Christen, die Schlangen berühren, weil sie das der Bibel entnehmen. Für manche endet das tödlich.

    European wolf

    Europäischer Wolf. Sämtl. Fotografien von Danny Green. Verwendet mit Genehmigung.

    Einige Jahre später verbrachte ich einen Monat in Irland. Wieder lief ich nachts über schlecht beleuchtete Pfade und fürchtete mich dabei vor Schlangen. Ich sprach mir jedes Mal Mut zu: „Der heilige Patrick hat sie alle vertrieben.“ Naturhistoriker behaupten ja, dass es in Irland schon lange vor Patricks Ankunft keine Schlangen mehr gab. Aber ich habe trotzdem an Patrick gedacht. Für jemanden, der aus Großbritannien oder Skandinavien, wo es giftige Schlangen gibt, nach Irland kam, muss es wirklich ein Wunder gewesen sein, auf keinerlei Schlangen zu treffen.

    Der heilige Franziskus gilt heute als freundlicher Schutzpatron der Tiere, ein Mann, der zu den Vögeln predigte. Einmal im Jahr, an seinem Festtag, bringen Menschen ihre Haustiere in die Kirche, um sie segnen zu lassen. Zu seiner Zeit war Franziskus beliebt, weil er wilde Tiere zähmte. Eine Geschichte besagt, dass im Jahr 1220 ein Wolf die italienische Stadt Gubbio terrorisierte. Zuerst riss er Vieh, dann Menschen. Sie wurden seine bevorzugte Beute, und schließlich war niemand mehr außerhalb der Stadtmauern sicher. Franziskus, der zu dieser Zeit in Gubbio lebte, erklärte den Bewohnern der Stadt mit dem Wolf verhandeln zu wollen. Er durchschritt die Stadtmauern – eine Gruppe folgte ihm dabei in sicherem Abstand – und stieg hinauf zur Höhle des Wolfes. Als dieser herauskam und sich auf Franziskus stürzen wollte, machte jener das Zeichen des Kreuzes und befahl dem Wolf im Namen Gottes mit den Plünderungen aufzuhören. Sanftmütig legte der Wolf seinen Kopf zu seinen Füßen. Aber Franziskus war noch nicht fertig. „Bruder Wolf“, sagte er, die Einwohner in Hörweite,

    Du hast viel Böses in diesem Land getan, indem du die Geschöpfe Gottes ohne seine Erlaubnis getötet hast. Ja, nicht nur Tiere hast du getötet, sondern du hast es sogar gewagt, Menschen zu verschlingen, die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind. Dafür bist du es wert, wie ein Räuber und Mörder gehängt zu werden. Die Hunde verfolgen dich und alle Bewohner dieser Stadt sind deine Feinde. Aber ich will Frieden zwischen ihnen und dir schließen, Bruder Wolf, wenn du sie nicht mehr beleidigst, und sie sollen dir alle deine früheren Vergehen vergeben, und weder Menschen noch Hunde sollen dich verfolgen.

    Der Wolf zeigte sein Einverständnis mit diesen Bedingungen und neigte sein Haupt erneut vor Franziskus. Dieser sprach:

    Wenn du bereit bist, diesen Frieden zu schließen, verspreche ich dir, dass du jeden Tag von den Bewohnern dieses Landes gefüttert wirst, solange du unter ihnen lebst. Du sollst keinen Hunger mehr leiden, denn es ist der Hunger, der dich so viel Böses hat tun lassen. Aber wenn ich das alles für dich erreiche, musst du deinerseits versprechen, nie wieder ein Tier oder einen Menschen anzugreifen. Versprichst du das?

    Franziskus streckte seine Hand aus, der Wolf legte seine Pfote hinein und besiegelte so den Schwur.

    Heute stehen Wölfe unter Naturschutz. Im mittelalterlichen Europa und in Nordamerika bis zum zwanzigsten Jahrhundert kümmerten sich die Menschen eher um den Schutz ihres Viehs und ihrer eigenen Haut. Wölfe waren für beides gefährlich. Aus diesem Grund wurde der letzte Wolf Bostons im Jahre 1657 getötet.

    Eines Abends im letzten Jahr ging ich von der Boston Universität zu meinem Schlafsaal auf dem Fenway-Campus. Dabei kam ich an einer Reihe lokaler Parks vorbei, die von Frederick Law Olmsted entworfen worden waren, der auch für den Central Park in New York City verantwortlich zeichnete. Alles dort ist so, wie Olmsted es geplant hat, auch die Teile, die wild aussehen sollen.

    Plötzlich stand ein Kojote vor mir. Kojoten fressen keine Menschen. Ich war also nicht in Gefahr. Trotzdem hatte ich Angst. Zum Teil deshalb, weil ich eben nicht in der „Natur“ war. Ich war zwei Blocks von neuen, glänzenden Wolkenkratzern entfernt und von den eleganten Laborgebäuden der Boston Universität, die versucht, das Biotech-Zentrum der Vereinigten Staaten zu werden. Geht man hinaus in die Natur, entscheidet man sich dafür, dort zu sein. Ich hatte mich für die Stadt entschieden.

    Der Kojote hatte es sich vermutlich ebenfalls dafür entschieden hier zu sein, mit oder ohne meiner Zustimmung oder jener der Stadtverwaltung. Vermutlich war er hier, um Kaninchen zu jagen, die ich so gerne über die gepflegten Rasenflächen des Campus hoppeln sah. Aber wo Kaninchen sind, sind natürlicherweise auch Raubtiere.

    In Levitikus 26 sagt Gott zu den Israeliten: „Wenn ihr meine Satzungen befolgt und meine Gebote haltet und sie treu befolgt … will ich Frieden im Lande geben, und ihr sollt euch niederlegen, und niemand soll euch ängstigen; ich will gefährliche Tiere aus dem Lande entfernen, und kein Schwert soll durch euer Land gehen.“ Die Beseitigung der wilden Tiere ist also gleichbedeutend mit der Beendigung des Krieges.

    Die wilden Tiere, denen Stadtbewohner heutzutage begegnen, sind Ratten, Tauben oder Eichhörnchen. Olmsted und seinesgleichen haben das Eichhörnchen im neunzehnten Jahrhundert absichtlich wieder in städtischen Parks angesiedelt. Architekten wie Olmsted sahen, dass ein wachsender Prozentsatz der Amerikaner in einer schmutzigen, industrialisierten Welt lebte, und sie wollten Schönheit und einen einfachen, ländlichen Charakter wiederbeleben. Das Eichhörnchen ist harmlos. Es mag lästig sein, wenn es einen Garten umgräbt, aber wenn man in Boston lebt, ist der Garten, so man überhaupt einen hat, nicht die einzige Nahrungsquelle. Als Stadtgärtner hat man vielleicht sogar das Gefühl sich mit den Eichhörnchen im Krieg zu befinden. Aber das ist nicht die Art von Krieg, bei der Gott eingreifen müsste.

    Wolf in autumn

    Wolf im Herbst.

    Die Wüstenväter gingen in die Wüste, weil sie wild und einsam war. Sie war kein angenehmer Rückzugsort. Es war ein großes Opfer, dorthin zu ziehen.

    Nicht nur die wilden Tiere in der Wüste stellten ein Problem dar, auch die Landschaft selbst. Das ägyptische Volk kauert aus einem bestimmten Grund seit Tausenden von Jahren an den Ufern des Nils. Sein Wasser sichert das Überleben. Je weiter man sich vom Fluss entfernt, desto schwieriger wird es, zu überleben. In der Wüste zu leben, „in der Natur“ und außerhalb der Zivilisation, bedeutet, sich am Rande des Todes zu befinden. Jesus zog sich in die Wüste zurück. Die Israeliten durchwanderten sie.

    Und doch war diese Lebensweise besonders für jene attraktiv, die sich leicht dagegen hätten entscheiden können. Der heilige Antonius der Große, einer der ersten Wüstenväter, wuchs in einer wohlhabenden Familie auf. Nach dem Tod seiner Eltern beherzigte er Matthäus 19,21: „Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du Schätze im Himmel haben.“ Er verkaufte den Besitz seiner Familie. Er ging in die Wüste. Er wollte keine Akolythen. Er hatte sie trotzdem. Sie sahen seine Heiligkeit, die eine Folge davon war, dass er in die Natur hinausging, denn dieses Hinausgehen in die Natur war ein sinnvolles Opfer für Christus.

    Einer seiner modernen Gefolgsleute ist – in gewisser Weise – Chris McCandless, der in Jon Krakauers Bestseller Into the Wild unsterblich geworden ist. Nach seinem Abschluss an der Universität spendete McCandless den Rest seines Studiengeldes für wohltätige Zwecke. Er beschloss, ohne Vorräte in die Wildnis Alaskas zu ziehen, in der Hoffnung von der Natur leben zu können. Er fand einen verlassenen Schulbus, in dem er nach 113 Tagen an Hungertod starb.

    Wie die Gräber vieler Heiliger wurde der Bus zu einem Schrein. Aus der ganzen Welt kamen Pilger, bis der Staat Alaska den Bus schließlich entfernte. Es hatte zu viele Sucheinsätze gegeben, um Besucher zu retten, die selbst im Begriff waren, Opfer der Natur zu werden.

    Der Schriftsteller Bobby Angel beschreibt McCandless als „einen heiligen Franziskus, der Christus nie begegnet ist Auch zwischen McCandless und dem heiligen Antonius gibt es Unterschiede. Antonius hat nicht völlig isoliert gelebt und sich nicht von der Natur ernährt. Hätte er es versucht, wäre er genauso gestorben. McCandless wurde von Henry David Thoreau inspiriert, der „in die Wälder ging“:

    Ich wollte bewusst leben, nur die wesentlichen Tatsachen des Lebens vor Augen haben und sehen, ob ich nicht lernen könnte, was es zu lehren hat, und nicht, wenn ich sterbe, feststellen, dass ich nicht gelebt habe. Ich wollte nicht leben, was kein Leben war, denn das Leben ist so kostbar; ich wollte auch nicht resignieren, es sei denn, es war unbedingt notwendig. Ich wollte tief leben und das ganze Mark des Lebens aussaugen, ich wollte so streng und spartanisch leben, um alles was nicht Leben war zu vertreiben, radikal eine breite Schneise zu schlagen, das Leben in die Enge zu treiben und es auf seine niedrigsten Bedingungen zu reduzieren.

    Thoreau schrieb von Walden Pond aus, von der Hütte, die er auf dem Land seines Freundes Ralph Waldo Emerson gebaut hatte, zwanzig Minuten entfernt vom Haus seiner Mutter. Während der zwei Jahre, die er dort lebte, wusch sie seine Wäsche. Der Zug nach Boston fuhr an einer Seite des Teiches entlang. Thoreau verbrachte seine Zeit mit Schreiben und erledigte Rodungsarbeiten als Ersatz für die Miete. Antonius der Große verbrachte einen großen Teil seiner Zeit mit dem Flechten von Körben, die er gegen Lebensmittel eintauschte. Auch andere Wüstenmönche taten dasselbe und viele von ihnen beklagten, dass sie so viel Zeit mit dem Flechten verbrachten anstatt beten zu können.

    Einer der Reize des „In-die-Natur-Gehens“ besteht darin, dem Hamsterrad der modernen Welt zu entkommen. Aber es ist schwer, sich in der Natur zu behaupten – viel schwerer als E-Mails zu verschicken. Antonius hätte ein viel einfacheres Leben gehabt, wenn er das Land seiner Familie behalten und verwaltet hätte. Er hat viel aufgegeben, um ein Leben des Gebets in der Wüste zu führen. Das tat auch Franziskus, der sich in den Straßen von Assisi seine teure Aristokratenkleidung vom Leib riss und zusammen mit seiner Tunika auf sein Vermögen verzichtete, um den Tieren zu predigen.

    Wolf and reflection

    Wolf mit Spiegelung, Finnisch–Russisches Grenzgebiet. 

    Vorstellungen von der Natur stammen oft aus der Romantik, aus den Schriften wohlhabender Männer, die sich nach einer idealisierten englischen Landschaft sehnten (eine Landschaft, die natürlich schon seit Tausenden von Jahren durch menschliche Kultivierung geprägt war). Sie hatten mit dem Smog, dem Ruß und dem Gestank zu kämpfen, welche in London niemanden verschonten. Die Natur schien besser zu sein. Außerdem war sie ihrer Meinung nach frei von den politischen Machenschaften, Intrigen und der komplizierten Etikette der Stadt. Sie glaubten, dass die Menschen auf dem Land ein einfaches, unkompliziertes Leben führten, frei von den Einflüssen der Moderne. Doch die Schriftsteller und Künstler der Romantik, die „zurück aufs Land“ gingen, neigten dazu, sich nicht voll und ganz der Aufgabe zu widmen, dem Land den Lebensunterhalt abzugewinnen.

    Der britische Bauer des 19. Jahrhunderts, der sich mit dieser Fetischisierung seiner Arbeit auseinandersetzen musste, war kein mittelalterlicher Leibeigener, geschweige denn einer der ersten Bauern zehntausend Jahre zuvor, deren landwirtschaftliche Dörfer reiche viktorianische Männer auszugraben begannen. Er war schon im Besitz alle Vorteile der Industriellen Revolution, die vor allem eine Revolution der Agrartechnik war. Er baute Nahrungsmittel für die 78 Prozent der britischen Bevölkerung an, die nicht mehr auf dem Lande lebten, eine Bevölkerung, die sich in dem Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 verdreifacht hatte. Der letzte Wolf in England wurde im vierzehnten Jahrhundert getötet.

    In der Genesis sagt Gott: „Herrsche über alles Lebendige, das sich auf der Erde bewegt“ (vgl. Gen 1,28). Viel wurde darüber geschrieben, wie eine christliche Theologie der Herrschaft, die sich aus diesem Vers ableitet, zu einer weit verbreiteten Zerstörung der Tier- und Pflanzenwelt führte. Aber die Kontrolle über die Natur ermöglicht das moderne Leben und angenehme Waldspaziergänge, und verhindert, dass wir an Bakterien und Viren sterben, die sonst eine Seuche biblischen Ausmaßes verursachen würden.

    Unser moderner Lebensstil hat zahlreiche Schattenseiten. Wir sind von kreischenden Autos und Zügen umgeben. Wir atmen Abgase und chemische Dämpfe ein. Wir brauchen Nahrungsergänzungsmittel und hetzen von einem Termin zum nächsten. Aber wir alle profitieren von den Errungenschaften der industrialisierten Welt, wie sauberes Wasser, warme Häuser und Antibiotika. Die unnatürliche Welt, in der wir leben, hat auch etwas Gutes.

    Im Jahr 1675 sagte König Charles II. zu dem Architekten Christopher Wren, dass die Saint Paul’s Cathedral „sehr künstlich, angemessen und nützlich“ sei. Mit „künstlich“ meinte er, dass sie mit Kunst und Geschick entworfen worden war. Wenn Sie das nächste Mal die Natur genießen, denken Sie daran, dass auch der Park, in dem Sie sich befinden, zu einem gewissen Grad künstlich ist. Und das ist, wie bei der Saint Paul’s Cathedral, keine schlechte Sache.

    Und wenn Sie einen Kojoten sehen … bleiben Sie ruhig stehen. Auch das ist ganz natürlich.

    Von Greta Gaffin Greta Gaffin

    Greta Gaffin ist eine Autorin aus Boston, Massachusetts.

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