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Bist du ein Baum?
Oder doch ein Topfpflanze?
von Joy Marie Clarkson
Dienstag, 24. September 2024
Verfügbare Sprachen: English
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Sieben jahre lang,während meiner Studienzeit, zog ich mindestens einmal im Jahr um. So ist das Studentenleben nunmal. Wenn man nicht für einen neuen Abschluss oder einen neuen Kurzzeitjob umzieht, dann um eine billigere Wohnung oder einen netteren Mitbewohner zu finden oder weil man sich dem Willen der Campusverwaltung beugen muss. Im Laufe der Zeit entwickelte ich eine Strategie. Vor jedem Umzug legte ich ein paar wenige, mir sehr wichtige „Schätze“, Bilder, sentimentale Dinge und wertige Haushaltsgegenstände, in eine eigene Schachtel. Ich hatte diese Gegenstände in der Hoffnung gesammelt, dass ich eines Tages ein eigenes Haus haben würde, in dem sie von Nutzen sein oder auf einem dekorativen Regal verstauben könnten. „Habe nichts in deinem Haus, dass nicht nützlich ist, oder dass du schön findest“, schrieb William Morris und ich wollte seiner Maxime folgen. Aber jedes Jahr im Juni formte sich in meinem Kopf ein weniger idealistischer Gedanke: „Habe nichts in deiner Wohnung, dass du nicht leicht wegwerfen oder transportieren kannst.“
Mein Nomadenleben begann schon vor dem Studium. Kam man mit meiner Mutter ins Gespräch und fragte, woher unsere Familie stamme, grinste sie und sagte mit einem Augen-zwinkern die (mir) bekannte Formel auf: „Wir zogen sechzehn Mal um, sechs Mal davon international.“ Jedes meiner Geschwister wurde in einem anderen Staat oder Land geboren, und bis meine Eltern in unser Familienhaus in Colorado zogen, lebten sie nie länger als drei Jahre in der gleichen Unterkunft. Nächstes Jahr oder sogar nächsten Monat wieder umziehen zu müssen, war für mich immer mehr als eine Möglichkeit. Es war eine Wahrscheinlichkeit, eine Unvermeidlichkeit. Und so kam es mir fast wie ein Wunder vor, als ich während meines Studiums für mehr als zwei Jahre – 27 Monate, um genau zu sein – in der selben Wohnung wohnte. Irgendwann war mein Studium jedoch zu Ende und es war Zeit, wieder umzuziehen.
An jenem windigen Septembermorgen saß ich auf der Treppe meiner Wohnung, in der ein chaotisches Durcheinander halb gepackter Kartons herrschte, und seufzte. Ich war auf eine müde Art traurig. Ich hatte den verwilderten Garten lieb gewonnen, den unsere Wohnung sich mit dem Maklerbüro unter uns teilte: die Birnbäume, die angeblich von mittelalterlichen Bäumen abstammten, der Apfelbaum, der jeden Herbst sechs perfekte rote Äpfel hervorbrachte, sogar der tropische Baum mit den großen, wachsartigen Blättern, der sich in diesem schottischen Klima nicht ganz wohl zu fühlen schien. Ich beneidete diese Bäume um ihre unerschütterliche Stabilität. Sie würden weiter sprießen, blühen und ihre Farben im Rhythmus der Jahreszeiten wechseln, ohne sich darum zu kümmern, ob ich blieb oder ging, lebte oder starb: so hartnäckig in seinem Wesen und seinen Bedürfnissen zu sein, sich seines Platzes in der Welt so sicher zu sein.
Ich bin eine Topfpflanze, sagte ich zu mir selbst. Immer bereit, mich bewegen zu lassen, meine Wurzeln nie mit denen meiner Nachbarn verwebt, ein Fremder auf festem Boden.
Dieser Gedanke erschütterte mich. In meinem Haus befand sich eine kleine Topfpflanze, die ich in der Endphase meiner Dissertation wie einen Talisman für mein eigenes Überleben am Leben erhalten hatte. Ich hatte darüber nachgedacht, sie nun wegzuwerfen. Sie hatte trotz meiner Pflege ein wildes, dürres Aussehen angenommen, als ob sie gegen ihren bescheidenen Topf protestieren und mir signalisieren wollte, dass sie herauskommen und sich in weiter Erde ausbreiten wollte. Die Metapher spann sich in meinem Kopf weiter. Vielleicht bin ich eine Pflanze, die zu groß für ihren Topf geworden ist, eine Pflanze, die, wenn sie nicht in richtiger Erde Wurzeln schlagen kann, bald unbeholfen und traurig wird, die ihre Glieder flehend der Sonne am Fenster entgegenstreckt, die Würmer und die Nässe des frühen Morgens spüren möchte, aber von solchen Erfahrungen ferngehalten wird. Ich hatte schon einmal versucht, Zimmerpflanzen ins Freie zu setzen, aber sie starben jedesmal ab. Vielleicht erginge es mir genauso? Vielleicht war ich nach all den Jahren des Lebens mit tragbaren Wurzeln nicht mehr fähig, im Boden Wurzeln zu schlagen? Wenn man versuchte, mich an einem bestimmten Ort einzupflanzen, würde ich vielleicht verschrumpeln und sterben, weil ich nicht bereit war, eine aufrichtige Verpflichtung gegenüber einem Ort einzugehen. Ich sehnte mich nach einem Ort, dem ich angehören konnte, mit dem ich verwoben sein konnte, aber ich fühlte mich dazu nicht fähig.
In früheren Jahrhunderten standen die Chancen gut, dass man in der Nähe seines Geburtsortes aufwuchs, heiratete und arbeitete. Heute ist das nicht mehr so wahrscheinlich. Als Reaktion auf die moralische und wirtschaftliche Verwüstung durch den Zweiten Weltkrieg beschrieb Simone Weil in ihrem Buch The Need for Roots (Das Bedürfnis nach Wurzeln) das aktuelle Zeitalter als einen Zustand der Wurzellosigkeit, des Mangels an sinnvoller Gemeinschaft, Arbeit und Zugehörigkeit – ein Verlust, den viele von uns spüren. Manche Menschen versuchen, auf dieses Gefühl des Umherziehens konstruktiv zu reagieren, indem sie einen Ort auswählen, an dem sie für immer Wurzeln schlagen können. Die Vorstellung ist schön, aber auch beängstigend. Es kann schwierig sein, zu einem Ort zu gehören, ihm nicht entkommen zu können, an kleinliche Kirchenpolitik, rassistische Nachbarn und die Begrenzungen dieses Ortes gebunden zu sein. Und wie wählt man einen Ort aus? Zu wissen, dass die eigene Verwurzelung eine gewählte Verwurzelung ist, nicht das Erbe von Liebe und Geschichte, kann sich sehr einsam anfühlen.
Das Gefühl der Wurzellosigkeit reicht jedoch viel weiter zurück als unsere gegenwärtige Lage. Eine ernstzunehmende Beschreibung der Geschichte ist ein langes Vermächtnis der Vertreibung; von Landgewinn und -verlust, von Eroberung und Flucht, vom Erbauen von Häusern und deren Zerstörung, durch Krieg oder Zeit, Gier oder Langeweile. Wurzellosigkeit ist nicht nur ein Merkmal der modernen, sondern auch der menschlichen Existenz.
Das habe ich sehr stark gespürt, als ich zum ersten Mal die Bekenntnisse des heiligen Augustinus gelesen habe, in denen er diese alte Wunde auf überraschend lebendige Weise berührt. Der nordafrikanische Heilige, dessen Worte und Ideen durch die Jahrhunderte hindurch nachhallen, beschrieb die menschliche Natur als von einer Art Unruhe geprägt. Er schreibt in seinen Bekenntnissen: „Wir sind ruhelos, bis wir Ruhe finden in Dir.“
Augustinus, der Sohn einer christlichen nordafrikanischen Mutter und eines heidnischen römischen Vaters, passte nirgendwo so recht hin. Die Geschichte seines frühen Lebens in seinen Bekenntnissen zu lesen, ist für uns Leidtragende der (post)modernen Malaise auffallend nachvoll-ziehbar. Als junger Mann erfand er sich immer wieder neu. Zunächst war er ein Hedonist und Aufsteiger, berauscht von der Romantik und allen Vergnügungen, die sich ihm boten. Von seinem eigenen Übermut angekränkelt, wandte sich Augustinus einem restriktiven Lebensstil zu und schloss sich einer gnostischen Sekte mit strengen Lebensregeln und hochtrabenden Vorstellungen von der geistigen Welt an. Schließlich, und das ist vielleicht das Tragischste, verliebte er sich und bekam mit seiner Geliebten ein Kind und, nach allem was man hört, gab er nie auf sie zu lieben. In jedem Akt seines erzählten Lebens ist ein tragisches Gefühl der Sehnsucht, des ungestillten Verlangens zu spüren. Wenn ich seine gefühlvollen Worte lese, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch Augustinus eine Topfpflanze war, die vor Sehnsucht verdorrte.
Augustinus wählte allerdings eine andere Metapher als Interpretationsschlüssel für sein Leben: eine Reise, oder besser gesagt, ein Exil. Sarah Stewart-Kroeker schreibt: „Augustinus’ vorherrschendes Bild für das menschliche Leben ist die peregrinatio, die zugleich eine Reise in die Heimat (eine „Pilgerfahrt“) und den Zustand des Exils von der Heimat symbolisiert.“ Das ganze Leben Augustinus᾿war von dieser Suche nach Heimat und dem Gefühl des Exils geprägt. Er war eine Topfpflanze auf der Suche nach festem Boden. Dieses Gefühl prägt nicht nur das Ethos seiner Theologie, sondern auch den Bogen seiner persönlichen Erzählung. In der Geschichte des Augustinus fand ich Parallelen zu meiner eigenen: der Wunsch nach Ruhe und Verwurzelung vermischt mit dem Gefühl des Exils und der Suche nach einem Ort der Zugehörigkeit. Hier begann ich, Metaphern zu vermischen. Ich bin eine Topfpflanze; ich bin ein Pilger. Das Bild, das sich mir bot, war unbeholfen und komisch, wie Tolkiens Baumvolk, die Ents, die Füße haben aber auch verwurzeln können. Wie könnte das Gedeihen dieses gemischten metaphorischen Lebens aus-sehen? Wie kann man sowohl als Pilger als auch als Baum erfolgreich sein? Von einer vielversprechenden Person sagen wir, dass sie es weit bringen wird. Wir sagen das nicht von einem erfolgreichen Baum. Ein erfolgreicher Baum bleibt an Ort und Stelle. Er hat Wurzeln. Er trägt Früchte.
Irgendwann entdeckte ich, dass diese gemischte Metapher das Herzstück einer der berühmtesten Bibelstellen ist: Psalm 1:
Selig der Mann,
der nicht nach dem Rat der Frevler geht,
nicht auf dem Weg der Sünder steht,
nicht im Kreis der Spötter sitzt,
sondern sein Gefallen hat an der Weisung des Herrn,
bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt.
Er ist wie ein Baum,
gepflanzt an Bächen voll Wasser,
der zur rechten Zeit seine Frucht bringt
und dessen Blätter nicht welken.
Alles, was er tut, es wird ihm gelingen.
Nicht so die Frevler:
Sie sind wie Spreu,
die der Wind verweht.
Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehennoch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten.
Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten,
der Weg der Frevler aber verliert sich.
Der Gesegnete wandelt wie ein Pilger (Vers 1), aber der Gesegnete ist auch wie ein Baum (Vers 3). Im Zentrum dieser beiden Bilder stehen einige der zentralen Spannungen, die das Menschsein ausmachen. Wir gedeihen in Verwurzelung und Fruchtbarkeit, aber diese Verwurzelung ist immer nur vorübergehend, unterbrochen vom Tod. Und selbst im Leben werden wir von Sehnsüchten getrieben, die diese Welt nie zu befriedigen vermag. Indem wir über die Eigenschaften von Bäumen und Reisen nachdenken und sie auf den Menschen übertragen, entdecken wir vielleicht neue Wege, uns selbst zu verstehen. Selbst in den Brüchen der Metapher, an den Stellen, wo es keine Entsprechungen gibt, können wir jene Brüche und Nicht-Entsprechungen in der menschlichen Erfahrung entdecken, die uns am meisten Unbehagen und Schmerz bereiten. Indem wir über sie sprechen, indem wir ihnen die Form von Bildern in unserem Geist geben, können wir uns trösten oder weiterziehen. Die scheinbar widersprüchlichen Bilder von Bäumen und Reisen laden uns ein, darüber nachzudenken, wie es ist, Mensch zu sein, zu gedeihen, gut zu leben in den Widersprüchen der menschlichen Natur, mit dem Wunsch nach Ewigkeit in der Begrenztheit der Sterblichkeit, mit Wurzeln in der Erde und Zweigen, die ihre müden Arme nach ihrer himmlischen Heimat ausstrecken.
Joy Marie Clarkson, You Are a Tree: And Other Metaphors to Nourish Life, Thought, and Prayer (Bethany House Publishers, Baker Publishing Group, bakerpublishinggroup.com, 2024), 13–16, 30–34. Übersetzt aus dem Englischen. Verwendet mit Genehmigung