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    Breakwater

    Wellenbrecher

    Der fast gescheiterte Versuch, die Natur zu zähmen.

    von Rhys Laverty

    Dienstag, 2. Juli 2024

    Verfügbare Sprachen: English

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    Im jahr 1847 traf England eine Entscheidung, die das Schicksal der kleinen, nahegelegenen Insel Alderney verändern sollte

    Heute wie damals kennt dieses Eiland niemand. Den Einwohnern ist das sehr recht. Ich kenne die Insel nur, weil meine Familie seit dem 16. Jahrhundert dort ansässig ist. Alderney ist die nördlichste der Kanalinseln, die zwar zu den Britischen Inseln, aber nicht zum Vereinigten Königreich gehören. Sie ist Teil der Vogtei Guernsey, die zusammen mit Jersey und der Isle of Man zu den Kronbesitzungen des Vereinigten Königreichs gehört. Obwohl sie britisch ist, liegt sie nur 15 Kilometer von der französischen Küste entfernt, während es zur englischen 95 sind. Mit einer Größe von nur knapp acht Quadratkilometer und etwa 2000 Einwohnern ist „The Rock“ ein wahrer Zufluchtsort. Während die Welt aufgrund der Covid-19-Pandemie unter monatelangen Lockdowns litt, verlief das Leben auf Alderney wie gewohnt.

    Alles scheint hier langsamer. Die Geschäfte schließen sonntags. Und um die Mittagszeit. Und zu jeder anderen Zeit, die dem Ladenbesitzer gelegen ist. Flugverbindungen sind selten, und ein plötzlicher Nebel über dem Atlantik oder ein Motorschaden bei einem der beiden kommer-ziellen Flugzeuge reichen aus, um ein paar Tage lang festzusitzen. Es gibt nur einen einzigen Geldautomaten. Man könnte meinen, die Insel sei ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Doch auf der offiziellen Website wird mit der Attraktivität für Fernarbeiter, dem superschnellen Breitband-anschluss und der guten Verkehrsanbindung geprahlt. Alderney ist stolz darauf, Teil der großen Welt zu sein, und das seit jener schicksalhaften Entscheidung im Jahr 1847.

    Fliegt man von Norden auf die Insel zu, sieht man als erstes den Wellenbrecher. Dieser Steinwall erstreckt sich 800 Meter lang in den Ärmelkanal. Er schützt den Inselhafen, der im Sommer von Seglern und Seefahrern bevölkert ist. Sie kommen an die Küste Alderneys, um sich an den Gezeiten zu versuchen, die den Ruf haben, zu den anspruchsvollsten der Welt zu gehören.

    Alderney Breakwater

    Neil Howard, Alderney Breakwater, 2016. Alle Fotos von Neil Howard. Verwendet mit Genehmigung.

    An den meisten Tagen schwappen die Wellen über die Spitze des Wellenbrechers. Bei stürmischem Wetter preschen Wasserwände dagegen und schleudern die Gischt meterhoch in die Luft. An klaren Tagen sind Angler auf dem Wellenbrecher anzutreffen, und Touristen, die darauf spazieren und über die Kante auf das aufgewühlte Meer blicken.

    Zwischen Mai und Oktober sieht man auf dem Wellenbrecher auch einen großen roten Mobilkran. Am Ende seines Seils hängt ein Käfig, in den Taucher und Ingenieure steigen. Marco Tersigni, einer der Infrastrukturbeauftragten von Guernsey, erklärt: „Ein Tauchunternehmen führt die Unterwasserinspektion durch. Kran und Käfig werden verwendet, um die Taucher ins Wasser hinabzulassen. Gelegentlich werden sie auch eingesetzt, um Arbeiter an der Seeseite des Wellenbrechers abzusetzen, die Risse im Mauerwerk verfugen.“

    Als die englische Regierung dieses Bauwerk 1847 absegnete, sollte es das steinerne Rückgrat eines neuen „Schutzhafens“ auf Alderney werden – ein Euphemismus für „Marinestützpunkt“, der niemanden täuschte.

    Trotz seiner geringen Größe und einer Bevölkerung von kaum mehr als 1000 Einwohnern war Alderney aufgrund seiner Nähe zu Frankreich von strategischer Bedeutung. Auch 30 Jahre nach den Napoleonischen Kriegen blieben die anglo-französischen Beziehungen angespannt. 15 Kilometer entfernt, in Cherbourg, rüsteten die Franzosen deutlich auf. Und so wurde weit weg von den Einwohnern, im Herzen des britischen Militärapparats, die Entscheidung getroffen: Alderney sollte das „Gibraltar des Ärmelkanals“ werden – ein ehrgeiziges Ziel. Ein paar Jahrzehnte später würde ein kritischer französischer Schriftsteller sagen, dass diese Bezeichnung „nur auf dem Boden einer Sherryflasche geboren werden konnte“. Er sollte Recht behalten. Das bombastische, kriegerische Unterfangen würde in vielerlei Hinsicht den Tod des alten Alderney bedeuten. Und dennoch, fast zwei Jahrhunderte später, ist sein Erbe eine Lebensader für seine modernen Bewohner.

    Am 12. Februar 1847 fand am Grosnez Point, dem nördlichen Felsvorsprung, an dem das Bauwerk verankert werden sollte, eine Zeremonie mit Kanonenbeschuss, Fahnen, Gebet, einer Kapelle und Musketen statt. Der Grundstein, ein riesiger Granitbrocken der Insel, wurde mit großem Getöse von einer Klippe herabgeworfen. In dieser Nacht feierten die Menschen auf der ganzen Insel. Am nächsten Tag begannen die Arbeiten mit Hochdruck.

    In den ersten drei Jahren wurden Haufen von Granit in die Fluten des Ärmelkanals geworfen, um den Sockel zu bilden. An manchen Stellen war das Meer bis zu 150 Meter tief. Ein neuer Innenhafen musste gebaut werden, ebenso wie eine Eisenbahn, um den Steinbruch auf der Insel zu erreichen. Erst 1850 konnte mit den Arbeiten am eigentlichen Wellenbrecher begonnen werden.

    Die ursprünglichen Entwürfe für die Anlage sind bemerkenswert. Die 800 Meter, die davon heute übrig sind, mögen gewaltig erscheinen, die Admiralität sah aber ursprünglich eine Länge von mehr als drei Kilometern vor, die sich um den Nordwesten der Bucht wölben sollte; zusätzlich sollte im Nordosten ein kürzerer Wellenbrecher von knapp einem Kilometer Länge gebaut werden. Zusammen würden sie einen schützenden Ring um den imaginären Hafen bilden, der den Armen einer Mutter oder einer Krabbenschere ähnelte. Hier, so stellten sich die Männer in London vor, könnte eine mächtige Flotte untergebracht werden und britische Handelsschiffe könnten Zuflucht vor französischen Freibeuterschiffen finden.

    Braye Bay, Alderney

    Neil Howard, Braye Bay, Alderney, 2018.

    Der Wellenbrecher sollte auch von mächtigen Festungsanlagen begleitet werden. In dem Jahrzehnt, das auf den Bau des Wellenbrechers folgte, wurden auf der Insel etwa ein Dutzend Militärforts sowie weitere Batterie- und Kasernen-gebäude errichtet. Durch den massiven Zustrom von Arbeitern und Soldaten verdreifachte sich die Einwohnerzahl der Insel von 1.038 im Jahr 1841 auf 3.333 Einwohner im Jahr 1851; 1861 erreichte sie mit 4.932 Bewohnern ihren Höhepunkt.

    Der Bau eines Wellenbrechers im Ärmelkanal war eine Herausforderung. Das beauftragte Ingenieurbüro Jackson and Bean hatte keine Erfahrung mit Wellenbrechern, sondern nur mit Kanälen und Eisenbahnen. Ein Schriftsteller beschrieb den Vorgang einige Jahre später so:

    Im Winter rissen Stürme die Arbeit des vorangegangenen Sommers nieder; im Sommer spülten Unwetter die für den Bau eingesetzten Bühnen und Maschinen ins Meer. Dennoch hielten die Bauunternehmer durch, kämpften mit unermüdlicher Entschlossenheit gegen all diese Schwierigkeiten an und zogen aus den täglichen Desastern Lehren für die Zukunft.

    Die Ingenieure hatten Erfolg – zumindest teil-weise. Der Wellenbrecher steht noch immer. Im Jahr 2018 wurde er vom Institute of Civil Engineers als eines von zweihundert Bauwerken weltweit ausgewählt, die die Welt prägten und Leben veränderten. Die ursprünglichen Pläne wurden allerdings nicht verwirklicht. Der zweite nordöstliche Wellenbrecher wurde nie gebaut. Der Hauptwellenbrecher war 1864 an seinem Höhepunkt 1.471 Meter lang. Heute hätte er mehr als 160 Millionen Euro gekostet. Innerhalb weniger Jahre wurde fast die Hälfte des Bauwerks, das nicht mehr instand gehalten werden konnte, dem Meer überlassen und erreichte so seine heutige Länge. Ironischerweise bildete der aufgegebene Abschnitt des Wellenbrechers, der eigentlich britische Schiffe vor den Franzosen schützen sollte, ein künstliches Riff, das die Einfahrt in den Hafen für viele Schiffe gefährlich machte und diese oft dazu zwang, stattdessen in Cherbourg anzulegen.

    Letztendlich waren der Wellenbrecher, die Forts und alles andere für einen Krieg bestimmt, der nie stattfand. Frankreich wurde 1853 zum Verbündeten auf der Krim, erlitt 1871 eine bei-spiellose Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg und wurde durch Schulden und die deutsche Besatzung lahmgelegt. Darüber hinaus bedeutete die Entwicklung der Artillerie, dass viele der Festungen auf Alderney bereits überflüssig waren, als sie fertiggestellt wurden.

    Plan of breakwater and Admiralty property

    Alderney Harbor, Karte des Wellenbrechers, 1878. Bild von Wikimedia Commons (public domain).

    All dies geschah auf Kosten der Inselgemeinschaft, in der, wie englische Beobachter herablassend feststellten, jeder ein kleiner Landbesitzer war und „fast ausschließlich von den Erzeugnissen seines Bodens“ lebte. Ihr standen drastische Veränderungen bevor. Wie könnte es auch anders sein, wenn man die Bevölkerung einer Insel in wenigen Jahrzehnten verfünffacht und ihre Küstenlinie künstlich umgestaltet? Veränderungen waren auf Alderney bereits vor dem Bau der Befestigungsanlagen im Gange, doch der Wellenbrecher beschleunigte diese. Zwischen 1800 und 1815 war eine Garnison von etwa 400 Soldaten auf der Insel stationiert. In dieser Zeit, so berichten verschiedene Reiseschriftsteller, begann der Gebrauch der französischen Sprache und des normannisch-französischen Dialekts zu sinken. Als Königin Victoria 1854 zu Besuch kam, um die Bauarbeiten zu besichtigen, hingen auf der Straße noch Transparente mit der französischen Aufschrift Dieu sauve la Reine (Gott schütze die Königin). Doch dies war der Abgesang auf die Inselkultur Alderneys. Im Jahr 1901 schon stellte ein Reiseführer selbstbewußt fest, dass „Alderney die am wenigsten französische aller Kanalinseln ist. Der örtliche Dialekt, der sich erheblich von der Umgangssprache der anderen Inseln unterscheidet, ist heute kaum noch zu hören.“

    Die Einheimischen – die Aurignais, wie sie korrekterweise heißen – hatten nie viel von den grandiosen militärischen Plänen der Regierung gehalten, waren aber auch nicht gegen die Veränderungen, die diese mit sich brachten. Vor dem Bau des Wellenbrechers scheint Alderneys wirtschaftliche Blütezeit im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gewesen zu sein, als Schmuggel und Kaperfahrten im Überfluss betrieben wurden und „der kleine Alderney-Kapitän eine gute Ernte auf schlechte Weise einbrachte“. Mitte des 18. Jahrhunderts machte der Aufstieg staatlicher Seestreitkräfte dem Freibeuterwesen ein Ende und die Insel litt darunter – ihre Exporte bestanden hauptsächlich aus Kartoffeln und Hummern. So scheuten viele nicht vor den wirtschaftlichen Vorteile einer großen Armeegarnison und ständiger Bauarbeiten. Die Geschichte Alderneys ist eine oft wiederholte: Eine Zentralregierung erläßt ein großes Modernisierungsdekret, ohne darüber nachzudenken, wie das die traditionelle Kultur der Einheimischen verletzen könnte, und stellt fest, dass die Einheimischen trotz ihrer Vorbehalte die Aussicht auf Reichtum und Komfort gerne akzeptierten.

    All dies scheint so lange her zu sein. Die stillgelegten Festungen sind zu luxuriösen Wohnhäusern geworden, werden als Lagerräume genutzt oder einfach den Elementen und abenteuerlustigen Jugendliche überlassen. Die Entscheidung des viktorianischen Kriegsministeriums mag als historische Kuriosität erscheinen, eine Erinnerung an die Possenreißerei von Regierungsbeamten. Aber sie sind auch ein sichtbares Zeichen für die vielen Veränderungen, die das Leben auf Alderney erfahren hat. Nachdem der Wellenbrecher gebaut war, kam die Post zweimal pro Woche. Das öffnete die Türen für einen viel größeren Importhandel, als Alderney je zuvor erlebt hatte.

    Und dann ist da noch der Wellenbrecher – Zeugnis eines verrückten militärischen Ehrgeizes und irgendwie unerlässlich für das Leben auf dieser kleinen Insel. Hat irgendjemand in der Admiralität daran gedacht, wie der Wellenbrecher in 200 Jahren instand gehalten werden würde?

    Jedes Jahr von November bis April wird der Wellenbrecher dem Meer überlassen. Zwischen Mai und Oktober müssen die Schäden dann schnell bewertet und repariert werden. „Je nach Art, Umfang und Lage der Reparatur verwenden wir normalerweise Beton mit oder ohne Verstärkung“, erklärte mir Marco Tersigni. „Für die Reparatur von Unterwasserfugen, die von den Tauchern ausgeführt werden, verwenden wir Meeresmörtel und für Überwasserfugen normalen Mörtel.“ Der Patchwork-Charakter, die Unterschiede in Farbe und Form des Mauerwerks, ist bei einem Spaziergang entlang des Deichs deutlich erkennbar. Seit die Vogtei Guernsey 1987 den Besitz des Wellenbrechers vom Vereinigten Königreich übernahm, wurden mehr als 31 Millionen Dollar für die Instandhaltung ausgegeben. Es mag sich seitdem vieles geändert haben, der Atlantik jedoch nicht. Dennoch ist die Finanzierung des Wellenbrechers ein ständiger Zankapfel zwischen der Inselverwaltung und der Verwaltung der Vogtei. Wenn man Steine ins Meer hinein wirft, muss man auch Geld hinaus werfen.

    Wie würde das Leben ohne den Wellenbrecher aussehen? Aufgrund der heftigen Gezeiten gäbe es keinen ausreichenden Naturhafen. Die Longis-Bucht auf der südlichen Seite der Insel diente einst als Hafen und war angeblich Ort der ersten Besiedlung der Insel. Sie ist jedoch genauso exponiert wie Braye. Die Legende besagt, dass die alte Siedlung dort durch eine Naturkatastrophe ausgelöscht wurde, die von den Einheimischen als göttliches Urteil interpretiert wurde.

    Ein Wellenbrecher ist also eine Notwendigkeit für einen funktionierenden Hafen auf Alderney. Und ein funktionierender Hafen ist für das heutige Leben auf der Insel unerlässlich. Ohne den Wellenbrecher würde die Trinity, das zweimal wöchentlich verkehrende Versorgungsschiff der Insel, an den Felsen zerschellen. Die für die Tourismusindustrie der Insel wichtigen Segler und Strandbesucher würden Braye nicht mehr als idyllisches Urlaubsziel ansehen.

    Heute haben die Aurignais keine andere Wahl: Der Wellenbrecher, der ihnen vor fast 200 Jahren durch die Hybris einiger viktorianischer Admiräle (und ihrer Flasche Sherry) vermacht wurde, ist unverzichtbar geworden. 

    Von portrait of Rhys Laverty Rhys Laverty

    Rhys Laverty arbeitet als leitender Redakteur bei Ad Fontes und Davenant Press. Seine Texte erschienen in The Critic, Mere Orthodoxy, und World.

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