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Der Körper, den sie hatte
Die schreckliche Freiheit wählen zu müssen, mit der Eltern oft alleine gelassen werden.
von Rosemarie Garland-Thomson
Dienstag, 17. Dezember 2024
„Mein mann und ich beschlossen, dass es eine liebevolle Entscheidung war, sie nicht auf die Welt zu bringen, mit dem Körper, den sie hatte.“
Diese Zeile aus einem Zeitungsartikel über Abtreibungsrechte tönt laut in meinem Kopf, wenn ich frühmorgens meine stille Zeit halte. Dieses Mädchen, das wegen „des Körpers, den sie hatte“, nicht auf der Welt ist, hatte einen Körper wie ich ihn habe und wie viele meiner Freunde. Sie war ein Mädchen mit einem Körper, mit einer erheblichen angeborenen Behinderung, wie man heute sagen würde. In dem Artikel wurde sie als „Schwangerschaft“ bezeichnet und nicht als Mädchen, dessen Erinnerung mich verfolgt. Eltern wie ihre, schreibt die Journalistin, „bezeichnen ihre verlorenen Schwangerschaften als ungeborene Kinder“. Ihre Eltern erfüllten ihre vermeintliche Verpflichtung ihr gegenüber, indem sie sie vor einem Leben bewahrten, das ihrer Meinung nach durch Leiden und Schwäche beeinträchtigt wäre, ein Leben, das nicht lebenswert wäre.
Im Laufe meines langen Lebens habe ich eine starke und zuverlässige Gruppe von Freunden gewonnen, zumeist Frauen. Wir sind Erzieherinnen und Schriftstellerinnen, und wir haben Körper, „mit erheblichen angeborenen Behinderungen“. Mehrere von uns sind blind; einige sitzen im Rollstuhl; manche sind gehörlos; es gibt eine gewisse Neurodiversität und eine ganze Menge körperlicher Asymmetrie. Wir alle schafften es, unsere Fähigkeiten zu sprechen, zu denken und zu schreiben zu entfalten, oft auf ungewöhnliche und unerwartete Weise. In den meisten unserer Schulen wurden wir eher geduldet als willkommen geheißen, aber ein sonniges Temperament und ausreichende elterliche Fürsorge gaben uns die Bausteine für das gute Leben, das wir jetzt führen. Wie bei den meisten Menschen, die ein freudenreiches Leben führen, ist auch unser Leben das Ergebnis einer Mischung aus Glück und Entschlossenheit.
Der Unterschied zwischen diesem Mädchen, das nicht auf der Welt ist, und meinen Freunden und mir besteht darin, dass unsere Eltern nicht wussten, was für einen Körper wir haben würden, bevor wir auf die Welt kamen. Wir wurden größtenteils geboren, bevor die Informationen und Bilder des Zeitalters der pränatalen Tests den wartenden Eltern unser Wesen und unsere Zukunft skizzierten. Jetzt bekommen die Körper, die wir haben medizinische Bezeichnungen: Syndrome, seltene Krankheiten, Skelettdysplasien, genetische Anomalien und weitere Pathologien. Doch in Wahrheit sind wir das Fleisch und die Knochen und das Blut, die unser Leben gelebt, unsere Arbeit getan und unsere Gedanken gedacht haben. Mit diesen Körpern haben wir geliebt und sind von vielen geliebt worden.
Als wir auf die Welt kamen, waren unsere Eltern verunsichert, ja schockiert. Wir tauchten einfach auf. Sie mussten uns aufnehmen, und das taten sie, obwohl bestimmte Aspekte unerwartet und unerwünscht waren. Sie suchten sich uns nicht aus: Sie nahmen uns in die Arme, weil sie es mussten. Einige von uns wurden weggegeben oder weggesperrt, aber die meisten unserer Eltern hielten trotz ihrer Verwunderung an uns fest. Wir waren Geschenke an unsere Familien, mit denen ihre Menschlichkeit wuchs, aber das war anfangs kaum jemandem bewusst. Wie alle unsere Mitmenschen schufen wir uns aus unseren Umständen ein Leben, das wir so frei wie möglich innerhalb der Beschränkungen unseres Raums und unserer Zeit leben.
Dieses Mädchen mit einem Körper wie dem unseren, das nicht auf der Welt ist, hätte ein Leben wie das unsere haben können. Ihre Eltern wussten das wohl nicht, als sie die „liebevolle Entscheidung trafen, sie nicht mit dem Körper, den sie hatte, auf die Welt zu bringen“. Mich verunsichert ihre Entscheidung. Ich möchte, dass sie uns kennenlernen, ich möchte ihnen sagen, dass es ihr gut gegangen wäre. Erfahrungen, die den menschlichen Variationen und Schwächen ähneln, die wir als Behinderungen bezeichnen, machen wir alle irgendwann. Das Mädchen, das nicht auf der Welt ist, und seine Eltern hätten dies vielleicht erfahren, wenn sie sich uns in dieser Welt angeschlossen hätte.
Die Eltern dieses Mädchens mit einem Körper wie dem unseren tragen eine schreckliche Freiheit in sich. Diese Freiheit, welche die modernen liberalen Gesellschaften bieten, ist oft zu einem schweren Mantel geworden, der auf die Schultern der Eltern gelegt wird, wenn sie ihr Recht – diese schwerwiegende Verpflichtung – ausüben, zu wählen, wen sie in die Welt bringen. Die Autorität einer medizinischen Diagnose und des von ihr vorhergesagten Lebens kann andere mögliche Berichte über ein gut gelebtes Leben erdrücken.
Wir waren Geschenke an unsere Familien, mit denen ihre Menschlichkeit wuchs.
Während Medizin und Gesundheitssystem darauf abzielen, Menschen so normal und gesund wie möglich zu machen, werden Menschen, die aus diesen Kategorien fallen, in der medizinischen Praxis oft ausgeschlossen. Die Eltern unseres verlorenen Mädchens mussten sich ein Bild von ihr und der Frau machen, die sie werden würde; sie mussten über ihr zukünftiges Leben urteilen, bevor sie die Chance hatten, sie kennenzulernen. Die Wahl, die sie hatten, ist vielleicht die wichtigste moralische Entscheidung, die die Freiheit bietet, denn sie bestimmt, wer in unsere menschliche Gemeinschaft aufgenommen werden darf und wer nicht. Dieses Beurteilen und Auswählen sind Pflichten, die die Medizin den Eltern auferlegt hat, für die diese aber keine brauchbare Orientierungshilfe haben.
Die meisten Menschen kennen keine Beispiele geglückter Leben für Mädchen, die mit Körpern wie meinem und jenen meiner Freundinnen auf die Welt kommen. Den Eltern dieser verlorenen Kinder, die in der Reproduktionsklinik zurückgelassen wurden, fehlen diese positiven Geschichten. Sie müssen sich für einen „Abbruch der Schwangerschaft“ entscheiden, eine moralische Handlung, die in einer Sprache ausgedrückt wird, die sie von ihrer Tochter distanziert, die bereits in ihrem eigenen winzigen, verborgenen Körper wohnt und darauf aus ist, in die Welt zu kommen, um sich ihrer Familie anzuschließen.
Die Eltern des Mädchens mit einem Körper wie dem unseren, das nicht auf der Welt ist, erhielten vermutlich nicht viele Informationen über die medizinische Situation und den prognostizierten Gesundheitszustand ihrer Tochter hinaus. Sie wussten womöglich nichts von den Pflichten des Staates und der Gemeinschaft, für ihre Tochter und ihre Familie zu sorgen und sie zu unterstützen. Das rigorose Bekenntnis zur freien Selbstbestimmung und zur individuellen Autonomie, wie Philosophen wie Alasdair MacIntyre betonen, hat die moralische Verpflichtung, einander willkommen zu heißen, zu umarmen und zu versorgen, in den Hintergrund gedrängt.
Die Entscheidungen darüber, welche Art von Menschen wir in unsere Familien und in die Welt bringen wollen, werden immer schwerer, je größer die Palette der reproduktionsmedizinischen Technologien wird. Es stehen uns neue Optionen zur Verfügung: Welche Untersuchung lasse ich vornehmen? Soll ich eine In-vitro-Fertilisation durchführen? Wie wähle ich Embryonen aus? Was soll ich von einem polygenen Risikoscore halten? Der utilitaristische Philosoph Peter Singer nennt dies „Einkaufen im genetischen Supermarkt“. All diese Freiheiten, all diese Wahlmöglichkeiten und all diese Informationen dienen in gewisser Weise dazu, Menschen mit Körpern wie dem meinen und dem meiner Freunde und des Mädchens, das nicht auf der Welt ist, davon abzuhalten, unseren Familien und Gemeinschaften beizutreten.
Bis vor kurzem konnten Eltern erst dann mit der bewussten Gestaltung des Lebens ihrer Kinder beginnen, wenn sie ihr neugeborenes Kind in den Armen hielten. Das neue menschliche Wesen, nun vom Körper seiner Mutter getrennt, bestand mit seiner sichtbaren Präsenz darauf, als eigenständige Person mit einem erkennbaren eigenen Willen und einem vollen moralischen und rechtlichen Status anerkannt zu werden. So verunsichert Eltern auch sein mögen, wenn ein Baby nicht ihren Erwartungen entspricht, so kommt es doch auf die Welt, umgeben und unterstützt von einer Vielzahl von Menschen – Stillberaterinnen, Krankenschwestern, Hebammen, Neonatologen, Kinderärzten, Chirurgen, Verwandten, Geistlichen, Freunden der Familie –, die alle das Neugeborene in ihrer Gemeinschaft willkommen heißen. Sie bringen Geschenke mit: rosa oder blaue Mützen, Strampler, Decken, wenn nötig Intubation, Medikamente, Inkubatoren, medizinisches Können, geistlichen Beistand und moralischen Schweiß. Ihr Status als neugeborener Mensch schützt dieses verletzlichste aller Wesen. Eltern, die verblüfft sind, weil ihr Baby anders ist, als sie es erwartet oder sich gewünscht haben, sind dennoch aufgefordert, das Beste aus dem zu machen, was sie bekommen haben.
Dieses Mädchen, das in den Armen seiner Mutter liegt, sich windet und schreit und nach Aufmerksamkeit und Fürsorge verlangt, hat wenig Bezug zu den Risikoprofilen, Diagnosen, Prognosen, pränatalen Tests oder Beipackzetteln, die die Entscheidungen seiner Eltern bestimmen. Diese verdecken den Blick auf die wahre Person, die ihre Tochter ist. Von diesem pathologischen Bild kennen ihre Eltern sie noch nicht auf die menschliche Art und Weise, wie wir einander kennen und erkennen. Eine belastende klinische Sichtweise überlagert ihr Verständnis von ihr und stumpft ihre Vorstellungskraft ab.
Bevor sie sie in die Arme nehmen, verdrängt dieses klinische Bild ihrer Tochter die Erfahrung, sie zu halten und zu betrachten, mit der die Beziehung zwischen Eltern und Kind beginnt, die auf gegenseitiger Anerkennung beruht. Solche Begegnungen von Angesicht zu Angesicht zwischen Menschen, sagt uns der Philosoph Emmanuel Levinas, begründen unsere moralischen Beziehungen und schaffen Anerkennung und Solidarität. Nur durch diese unmittelbare, verkörperte Begegnung entsteht die Art von menschlicher Solidarität, die Familien und Gemeinschaften zusammenschweißt. Auch wenn eine Mutter ihr Kind bereits während der Schwangerschaft kennenlernt, ist die Bindung von Angesicht zu Angesicht, die durch das Halten und Betrachten ihres Babys entsteht, weniger anfällig für die störende Abstraktion einer Diagnose. Wir haben eine große Fähigkeit, konkrete Menschen zu lieben, unverwechselbare Personen, deren zarten Gesichtern und zerbrechlichen Körpern wir unmittelbar begegnen.
Wurde den Eltern dieses Mädchens eine sinnvolle Vision von ihr als geliebter, unverwechselbarer Mensch angeboten?
Liebe ist der Akt des gegenseitigen Erkennens, des Bezeugens der Einzigartigkeit unterschied-licher menschlicher Wesen, wertvoll und unersetzlich. Die Verweigerung einer persönlichen Begegnung mit ihren Eltern reduzierte das Mädchen auf ein pathologisiertes Merkmal. Das klinische Bild dieses Mädchens mit einem Körper wie dem meinen und dem meiner Freunde hat ihr ganzes Wesen überlagert. Die statische Tatsache ihrer Diagnose überwältigte andere Versionen, wie sie hätte leben können, wer sie hätte sein können und wie wir sie alle hätten lieben können.
Das Mädchen, das nicht auf der Welt ist, hatte das gleiche Potenzial für ein gutes Leben wie jeder von uns. Unsere behinderten Körper und Köpfe bestimmen nicht unbedingt unsere Lebensqualität oder unsere Aussichten. Entscheidend für das menschliche Wohlergehen ist nicht, ob eine Person mit einer Behinderung lebt, sondern ob sie von Mitmenschen und deren Ressourcen und Pflege unterstützt wird. Wir alle brauchen ein Umfeld, das die Bedürfnisse unseres Körpers, unseres Geistes und unserer Seele unterstützt. Das Mädchen mit einem Körper wie dem meinen hätte in Würde leben können, umgeben von starken Beziehungen, gefördert durch angemessene wirtschaftliche Ressourcen und umarmt von einer gerechten und einladenden Gemeinschaft.
Wie können wir uns das Leben dieses Mädchens, das nicht mehr auf der Welt ist, anders vorstellen? Wie können wir die schreckliche Freiheit verstehen, mit der ihre Eltern handelten, im Glauben, ihr Leiden zu ersparen? Wie können wir die Statistiken über ihre Lebensqualität in Frage stellen, die ihre medizinische Diagnose und andere utilitaristische Berechnungen vorausgesagt haben? Auf welcher Grundlage können wir eine andere „liebevolle Entscheidung“ treffen, die sie in unserer Mitte willkommen heißen würde? Wie kann es für die liebenden Eltern eine vertretbare, frei gewählte Option werden, sie anders zu lieben, als sie es getan haben?
Das moderne Dilemma der spirituellen Isolation voneinander – und vielleicht vom Göttlichen – wurde von einer Reihe von Denkern aufgegriffen, deren Schriften es den Eltern des Mädchens, das nicht auf der Welt ist, ermöglicht hätten, sich ihre Tochter, ihr Leben und ihre Liebe zu ihr anders vorzustellen. In diesen Schriften, die in den Kliniken fehlen, werden Begriffe wie Würde, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Besonderheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Gemeinschaft und Liebe erläutert. Sie sprechen von universeller und gleicher Menschenwürde, indem sie die christliche Tradition des imago Dei, des Ebenbildes Gottes, erweitern – eine Ehrfurcht vor dem Leben, die Menschen mit Körpern wie dem unseren und ihrem willkommen heißt.
In der Neuzeit hat die Philosophin Hannah Arendt eine Haltung des Willkommens in einer Zeit der großen menschlichen Abrechnung wiedererweckt. Als Zeugin des Holocaust und Opfer seines Hasses lehnt Arendt die Ungerechtigkeiten ab, die die giftige Verbindung von eugenischer Ideologie und Totalitarismus in die Welt brachte. „Politische Regime sollten nicht bestimmen, wer die Welt bewohnen soll und wer nicht“, erklärte sie 1963 in ihrem Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann. Arendt begreift, dass die eugenischen Regime des zwanzigsten Jahrhunderts die menschliche Vielfalt und Potenzialität ausschlossen. Sie wendet sich gegen moralische Hierarchien, die sowohl auf antikem Tribalismus als auch auf moderner medizinischer Wissenschaft beruhen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und verschiedene Gleichstellungsbewegungen reagierten in ähnlicher Weise auf diese gewaltsamen moralischen Beleidigungen. Sie waren aufkeimende Willkommensgesten einer geläuterten Gemeinschaft, die darauf bestand, dass wir uns unter allen Umständen gegenseitig in gleicher Würde anerkennen müssen, auch wenn wir einander noch so fremd erscheinen mögen.
Nach dem Holocaust vertrat Arendt die Ansicht, dass unser menschliches Dasein nicht in der gemeinsamen Sterblichkeit gründet, die wir uns im Laufe der Menschheitsgeschichte so unerbittlich gegenseitig aufzwangen, sondern in unserem gemeinsamen Ursprung, in der Solidari-tät, die wir durch die Erkenntnis schmieden können, dass wir alle sowohl die Geburt als auch den Tod teilen. Für Arendt lautet der Aufruf zur menschlichen Solidarität, den unsere gemeinsame Geburt hervorruft, Amo: volo ut sis: „Ich liebe dich: Ich will, dass du bist.“ Sie schlägt eine Ethik der Nähe vor, die andere in die menschliche Gemeinschaft einlädt und uns auffordert, allen Menschen, die durch die gemeinsame Erfahrung des Geboren-werdens verbunden sind, Aufnahme zu gewähren. Die richtige Beziehung zwischen den Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft, insbesondere zwischen Eltern und Kindern, ist eine Haltung der einladenden Aufmerksamkeit und nicht des Besitzes. Der einladende Ruf der Natalität erkennt an, dass die Solidarität inmitten der Vielfalt, die eine eindeutige Gleichheit darstellt, die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu unserer menschlichen Gemeinschaft ist.
Arendts Natalität begrüßt das Kind im Moment der Geburt. Levinas' Betrachten geht von jemandem aus, dessen Gesicht bereits sichtbar ist. Das Gesicht des Mädchens mit einem Körper wie dem unseren blieb den Eltern verborgen, als sie ihre „liebevolle Entscheidung“ trafen, sie vor dem zu bewahren, was sie sich als ein Leben voller Leiden vorstellten. Die Umstände ihrer reproduktiven Entscheidung verwehrten ihnen die Möglichkeit, ihr Gesicht zu sehen, sie in den Armen zu halten und sie in ihrer unverwechselbaren, vollständig menschlichen Form zu erkennen. Wurde den Eltern dieses Mädchens in der Fülle an Informationen eine sinnvolle Vision von ihr als geliebter, unverwechselbarer Mensch angeboten? Ihre liebevolle Entscheidung kostete sie sowohl ihre Tochter als auch die Chance, ihr die Freundschaft anzubieten, die wir uns alle in der Welt gewähren könnten.
Wo war für diese Eltern eine Gruppe von Frauen wie meine Freundinnen: Frauen mit Körpern wie dem ihrer Tochter, die sich miteinander anfreunden und die ein gutes Leben führen? Die Eltern des Mädchens wurden in ihrer schrecklichen Freiheit allein gelassen, zu entscheiden, ob sie ihre Tochter mit dem Körper, den sie hatte, auf die Welt bringen, so wie sie sich entwickeln würde, – und ob sie sie als die ihre anerkennen. Nachts hält mich die Frage wach, wie meine Freunde und ich solch verlassene Eltern begleiten können, wie wir ihnen helfen können, ihr Kind auf eine andere, liebevolle Weise zu sehen, um ihm den Willkommensgruß zu bereiten, den wir uns alle gegenseitig schulden.
Über den Künstler: Tim Lowly ist ein in Chicago lebender Künstler, Kurator, Musiker und Lehrer. Seine Tochter Temma, die an zerebraler Lähmung mit spastischer Tetraplegie leidet, ist ein zentrales Thema seiner Arbeit. Nachfolgend erklärt er die Bilder, die diesen Artikel begleiten.
Parel: „In Vermeers ikonischem Gemälde Meisje met de parel (Mädchen mit dem Perlenohrring) lässt sich die Perle als Hinweis darauf verstehen, dass die junge Frau eine Schönheit besitzt, die so „rein“ ist wie eine Perle. Im Kontext der Niederlande des 17. Jahrhunderts könnte das Gemälde jedoch auch als ein Bild der Begierde aufgefasst worden sein. Dieses Verständnis des Gemäldes könnte durch den Blick des Mädchens untermauert werden. In diesem Gemälde hingegen bezieht Temma den Betrachter nicht mit ein. Als meine Frau Sherrie das Gemälde betrachtete, meinte sie: „Es sieht aus wie eine Perle“. Möglicherweise bezog sie sich auf die Oberfläche des Gemäldes, aber ich denke, dass das Gemälde auf eine Art und Weise auf die geheimnisvolle Transluzenz und Opazität von Temmas Präsenz hinweist, die einer Perle gleicht – und erstaunlicherweise auch so schön ist wie diese.“
“At 25 entstand als Gedenken an die fünfundzwanzigjährige Zusammenarbeit mit meiner Tochter Temma als Motiv und Mitarbeiterin meiner Kunst. Das Werk besteht aus fünfundzwanzig Teilen, die jeweils von einem oder zwei Künstlern aus der ganzen Welt gemalt wurden. Für die Vorderseite des Bildes stellte ich den Teilnehmern einen Ausschnitt aus einem Porträtfoto zur Verfügung, sowie schwarze und weiße matte Acrylfarbe (die Farbe, die ich normalerweise verwende). Ich bat sie, das Foto stilistisch so neutral wie möglich wiederzugeben. Den eigenen Stil aufzugeben stellt für einen Künstler eine große Geste dar, und ich bin sehr dankbar dafür, wie bereitwillig und ernsthaft die Teilnehmer diesen Teil des Projekts übernommen haben. Für die Rückseite des Werks war die Vorgabe viel offener: „Vergolde es“. Wie zu erwarten war, sieht die Rückseite sehr eklektisch aus, wie ein Freundschaftsquilt.“