My Account Sign Out
My Account
    View Cart

    Subtotal: $

    Checkout
    41LohfinkHero

    Adventliche Wachsamkeit

    Die Adventszeit ist geladen mit hochgradigen Spannungen.

    von Gerhard Lohfink

    Dienstag, 17. Dezember 2024
    0 Kommentare
    0 Kommentare
    0 Kommentare
      Abschicken

    Die Adventszeit ist geladen mit hochgradigen Spannungen. Selbstverständlich will sie auf das Weihnachtsfest vorbereiten. Und doch stimmt es einen nachdenklich, wenn man von Mitchristen jetzt neuerdings Briefe bekommt, die mit „vorweihnachtlichen Grüßen“ enden. Die Kirche feiert nicht in seliger Einmütigkeit mit der Konsumgesellschaft eine „vorweihnachtliche Zeit“ – so wenig sie statt des Sonntags das „Wochenende“ begeht – sondern sie feiert den Advent.

    Wenn wir singen „O Heiland, reiß die Himmel auf“ – das alte Adventslied des Friedrich Spee von Langenfeld (1591–1635) – so ist damit etwas anderes gemeint, als es die unzähligen schon im November beginnenden Christkindlsmärkte im Sinn haben. Deren Verheißung besteht in Waldhornklängen, Lebkuchen, Glühwein und Bratwürsten. In dem Lied des jungen Jesuiten Spee duftet es nicht nach Lebkuchen. Es ist vielmehr ein Hilfeschrei, ein Notschrei im Elend des Dreißigjährigen Krieges und der Hexenprozesse, ein Sehnsuchtsschrei nach dem Kommen des Erlösers. Das Lied ruft nach der Wiederkunft Christi.

    Von ihr redet auch die Danksagung des 1. Briefes an die Gemeinde in Korinth (1 Kor 1,4–9), ein gewichtiger Text innerhalb der Liturgie des Advents. Paulus spricht hier von der „Offenbarung Jesu Christi“ – und er setzt dabei voraus und hofft darauf, dass die christliche Gemeinde in Korinth diesen Tag des Kommens ihres Herrn nicht nur voll Sehnsucht erwartet, sondern an diesem Tag gefestigt und schuldlos dasteht. Selbstverständlich meint Paulus damit nicht das Weihnachtsfest (das es zu dieser Zeit überhaupt noch nicht gab), sondern die Wiederkunft Christi.

    Moon rising

    Foto von tobid, Photocase. Verwendet mit Genehmigung.

    Dementsprechend redet das jeweilige Evangelium zu Beginn des Advents auch in allen drei Lesejahren von der Not der Völker, von kosmischen Erschütterungen und vom Kommen des Menschensohns auf den Wolken des Himmels. Es verrät einen tiefen Glaubensinstinkt, dass die Kirche den Gedanken an die Wiederkunft Christi unerschütterlich festgehalten und ihn in der Adventsliturgie festgemacht hat, obwohl sich die Wiederkunft Christi – scheinbar – immer weiter verzögerte. Paulus wartet mit seinen Gemeinden in hoher Freude auf diese Wiederkunft. Hat er vergeblich gewartet? Die Parusie Christi scheint inzwischen in unendliche Ferne gerückt. Wie können wir Christen mit einem solchen Widerspruch fertig werden?

    Der Lösungsversuch radikaler Sekten mit der Behauptung, die Wiederkunft Christi stehe nun unmittelbar bevor und der Termin sei ihnen wunderbarerweise schon bekannt, wird durch die Heilige Schrift selbst ad absurdum geführt: „Jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater“ (Mk 13,32).

    Die Lösung zu dem Problem der sogenannten „Parusieverzögerung“ bildet ein Text, der ebenfalls zur Liturgie der Adventszeit gehört. Es ist das Gleichnis vom Feigenbaum (Mk 13,28-29). Denn dieses Gleichnis sprach ursprünglich von der nahen Gottesherrschaft. Der Feigenbaum (und genauso der Weinstock) unterscheidet sich von den zahlreichen immergrünen Bäumen Palästinas dadurch, dass er seine Blätter verliert und vor dem Frühjahr gänzlich kahl dasteht. Deshalb ist dann das Saftigwerden seiner Zweige und das Hervorsprossen seiner Blätter besonders auffällig.

    Hier hat Jesus angeknüpft und gesagt: Wenn die kahlen Zweige des Feigenbaums anfangen zu glänzen, kommt in wenigen Tagen der Sommer. So ist es auch jetzt: Ihr seht die Machttaten Gottes, die durch mich in eurer Mitte geschehen – und das ist schon der aufscheinende Glanz der Gottesherrschaft. Sie kommt so sicher und so unaufhaltsam, wie der Sommer auf das Saftigwerden der Zweige des Feigenbaums folgt.

    Markus, Matthäus und die Urkirche haben das Gleichnis dann allerdings auf die nahe Wiederkunft Christi gedeutet. Aber seine alte, umfassendere Bedeutung war damit nicht aufgehoben (vgl. Lk 21,31). Die Wiederkunft des Menschensohns am Ende der Zeit ist nur die letzte Zuspitzung und Offenlegung dessen, was schon jetzt dauernd geschieht: Gott will einbrechen in unsere Welt. Die Gottesherrschaft sucht sich Raum. Christus will Gestalt annehmen in seiner Kirche.

    Dem Spannungsbogen zwischen dem . Kommen der Gottesherrschaft, die sich schon jetzt ständig ereignet, und ihrem endgültigen Offenbarwerden im wiederkommenden Christus entspricht der Ruf zur Wachsamkeit. Dieser Ruf gehört zum Kern der Adventsliturgie (vgl. Mk 13,33–37 ).

    Wir werden der Naherwartung der Evangelien in keiner Weise gerecht, wenn wir sie auf das Kommen Christi am Ende der Zeit einengen. Wachsam müssen wir vor allem sein auf das Kommen der Gottesherrschaft hin, das sich schon jetzt ereignen will. Deshalb sollten wir uns immer wieder fragen: Wo geschehen heute die Zeichen der Gottesherrschaft? Wo wird in unseren Tagen die Gesellschaft frei von ihren Dämonen? Wo geschieht in unseren Städten Umkehr zum Evangelium? Wo wird heute das Volk Gottes „aus allen vier Windrichtungen“ (Mk 13,27) gesammelt? Man darf sogar all diese Fragen in einer einzigen Frage verdichten: Wo nimmt heute die Kirche jene Gestalt an, mit der man sie wieder messen kann am Maß des Neuen Testaments?

    In diese Richtung muss unsere ganze Wachsamkeit zielen. Nur wenn wir eine erneuerte Kirche ersehnen und unablässig nach ihr ausspähen, befolgen wir den adventlichen Ruf zur Wachsamkeit. Nur dann erwarten wir den Menschensohn in neutestamentlich-sachgerechter Weise. Nur dann entspricht unsere Hoffnung auf das Kommen Christi der wachen Hoffnung der paulinischen Gemeinden auf das Kommen des Kyrios.

    Damit sollte klar sein: Die Spannung zwischen dem „Schon“ und dem „Noch-nicht“ gilt nicht nur dem Kommen der Gottesherrschaft. Sie gilt genauso deren Zuspitzung: der Wiederkunft des Menschensohnes. Auch er kommt schon unablässig: Er kommt in jeder Eucharistiefeier in unsere Mitte; er kommt, so oft wir uns einmütig versammeln und uns dem Evangelium öffnen; er kommt in jedem Advent, wenn wir ihn so begehen, wie es die Schrifttexte des Advents verlangen.

    In all dem unterscheidet sich der christliche Advent radikal von dem vorweihnachtlichen Gehabe unserer neuheidnischen Gesellschaft, welche die christlichen Feste zwar konsumiert, aber ihren wirklichen Sinn nicht mehr kennt oder sogar verachtet. Viel schlimmer freilich ist die Verachtung des Advents bei den Christen selbst, wenn sie sich dem „vorweihnachtlichen“ Treiben ihrer Zeitgenossen einfach anschließen. Da weist eine adventliche Lesung aus dem Alten Testament einen ganz anderen Weg. In Jes. 64,5–6 heißt es:

    Wie unreine Menschen sind wir alle geworden,
    unsere Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid.
    Wie Laub sind wir alle verwelkt,
    unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind.
    Niemand mehr ruft deinen Namen an,
    keiner rafft sich auf, an dir festzuhalten.

    Solche Aufdeckung des wahren Zustands des Gottesvolkes trifft auf die Kirche genauso zu, wie sie damals auf Israel zutraf. Wo die Wahrheit dieses Bußgebets ungeschönt anerkannt wird, beginnt der wirkliche Advent. 


    Auszug aus dem Buch „All meine Quellen entspringen in dir – Große Bibeltexte neu erkundet“ von Gerhard Lohfink. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Breisgau.

    Von GerhardLohfink2 Gerhard Lohfink

    Gerhard Lohfink (1934–2024) war katholischer Priester und Theologe. Er war bis 1986 Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen.

    Mehr lesen
    0 Kommentare