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Gemüsekisterl und Gutshofleben
Unweit von Wien wächst Gemeinschaft und Bio-Gemüse.
von Teresa Czernin
Donnerstag, 4. Juli 2024
„Kein Protz, keine Allüren und keine Wichtigtuer.“
Das sind in den Worten des Apologetikers C. S. Lewis die unverkennbaren Merkmale einer wahrhaft christlichen Gemeinschaft. „Keine Pestizide“, ist man mit Blick auf die Bruderhof-Gemeinschaft versucht hinzuzufügen. Seit ein paar Jahren bewirtschaften sie die von ihnen angelegten Gemüsebeete ausschließlich regenerativ. Dadurch haben die Mitglieder nicht nur die Qualität ihrer eigenen Bio-Kartoffeln verbessert, sondern auch eine inspirierende Geschäftsidee entwickelt. „Gutes vom Gutshof. Bio aus dem Retzer Land. Regenerativ, No-Dig, No-Waste“. Unter schmalen Bahnen von Pflanzendecken träumen erst kürzlich eingesetzte Kohlrabiknollen ihrer Ernte entgegen. Vor ihnen wuchsen knackige Salatkartoffeln an dieser Stelle, nun sind sie an der Reihe. Durch regelmäßige Rotation verschiedener Gemüsesorten, sorgen die Mitglieder der Gemeinschaft Bruderhof für eine optimale Bodenstruktur. Gedüngt mit Kompost und organischem Mist, verspricht das so gewachsene Gemüse schmackhafte Bio-Qualität.
Schmetterling und Käfer sind dankbar, verderben ihnen nun keinerlei Insektizide das Frühstück. Die Schmetterlinge im Gemeinschaftsraum des Gutshofes kennen solche Sorgen nicht. Aus Papier in verschiedenen Farben, säumen sie die Wand. Mit andächtig gefalteten lila und rosa Flügeln halten sie inne, um dem morgendlichen Gesang zu lauschen, der laut und klar durch den Raum tönt. Gesang saugt man in der Bruderhof-Gemeinschaft mit der Muttermilch auf. Die Mitglieder sitzen im Kreis, in ihren Händen voluminöse Liederbücher in abgegriffenen Einbänden. Sie feiern den sonntäglichen Gottesdienst. Die Sänger verstummen, 32 Augenpaare heften sich auf Andrew, dem Pastor der Gemeinde. Sein „Habit“ besteht aus einem gebügelten blauen Hemd, einer Hose und Sneakers. Smartphone in der Hosentasche. Die Männer der Gemeinschaft kleiden sich alltäglich, unauffällig. Anders die Frauen, deren bunte lange Röcke so gar nicht zu Handy und Tennisschuhen passen wollen. In der Mitte steht ein kleines Tischchen, auf dem zwei Kerzen brennen. Ansonsten ist das Zimmer kaum geschmückt, weder Bild noch Kreuz ließen vermuten, dass gerade ein Gottesdienst stattfindet. Andrew beginnt aus der Apostelgeschichte vorzulesen und macht damit deutlich, dass der Raum nicht entscheidend ist. „Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.“ Gemeinsam mit der bekannten Bergpredigt Jesu, bildet diese Stelle des Neuen Testaments die historische Referenz und spirituelle Grundlage der Gemeinschaft. Andrew liest eine passende Analogie aus einem Essay von G. K. Chesterton vor und betont, dass nicht ihre eigenen Anstrengungen, sondern die Kraft Gottes ihnen helfe, ihr Leben als Christen in Gemeinschaft zu führen. Ein Austausch folgt, in dem die Mitglieder jeweils Erfahrungen und Herausforderungen ihrer Mission teilen. „Wir haben uns für diesen Ort entschieden, weil wir hier sein wollen. So möchten wir Jesus dienen“, fasst eine der Anwesenden das Gesprochene zusammen. Susan ist ihr Name. Sie trägt ihre braunen Haare im Nacken zusammengeknotet. Auf dem schmalen Gesicht sitzt eine viereckige Brille, hinter der ein Paar lebenslustiger Augen hervorblitzt. Ihren bodenlangen Rock ziert ein blau-goldenes Muster. Die Anwesenden antworten mit einem murmelnden Kopfnicken.
Dann setzt Andrew zum Lobpreis an, in den die versammelte Gemeinschaft erneut enthusiastisch einstimmt. Die Musik dringt durch jeden Winkel des alten Gemäuers, voll und schön. Wie ein gewaltiges Brausen. „Bis dass der Tag verrinnt, wir alle Brüder sind“, verklingt die letzte Strophe des gesungenen Liedes. Andrew spricht das Schlussgebet, betet, dass der Wein der umliegenden Nachbarn vor dem drohenden Frost verschont bleiben möge und rückt als Erster seinen Sessel aus dem Kreis.
Von Susan, Priscilla, und einem Million Dollar Relish
Doch ehe der Tag verrinnt gibt es noch viel zu tun. Stühle werden weggetragen, Tische verräumt. Jeder scheint emsig beschäftigt. Susan hat sich eine riesige Schürze umgebunden und beginnt in der Kochnische zu hantieren. Es riecht nach Gulasch und Zitronenkuchen. Sie ist in einer Bruderhof-Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten geboren und dort aufgewachsen. Seitdem ist sie um die halbe Welt gereist, immer dorthin, wo gerade Not am Mann war. Als Volksschullehrerin, Musikerin und leidenschaftliche Köchin. Susan ist alleinstehend. Das heißt nicht, dass sie tatsächlich alleine lebt. Im Gegenteil, einsam ist man in der Gemeinschaft beim besten Willen nicht. Sie lacht und stapelt mit schnellen Handgriffen sauberes Geschirr in breite Holzregale. Gemeinsam mit zwei, drei anderen Mitgliedern hat Susan auf Basis der Gutshofer Bio-Produkte eine kleine „Business-Küche“ entwickelt. 35 selbst kreierte Rezepte werden zum Verkauf angeboten. Köstlichkeiten wie selbstgemachtes Austernpilz-Pesto und fermentiertes Curtido können über den Online Shop direkt nach Hause bestellt werden. Nicht zu vergessen Susans berühmtes „Million Dollar Relish“, eine amerikanische, süß-saure Mischung, die zu Frankfurter und Debreziner empfohlen wird. Genau wie die angebotenen „Gemüsekisterl“ in verschiedenen Größen, werden sie ins Retzer Land und bis nach Wien geliefert. Ihren großartigen Geschmack verdanken die Produkte in erster Linie einem Pestizid-freien, Fruchtfolge beachtenden Bio-Anbau, ihre geschmackvolle Verarbeitung Susan. Und die wiederum zieht die dafür notwendige Kraft und Liebe aus ihrer Erfahrung und – dem Gebet. „Ich bete aber auch wenn ich arbeite oder Fahrrad fahre. Gott ist immer bei mir“, lächelt sie. Priscilla hört mit aufmerksamer Miene zu. Sie ist ebenfalls seit Kindesbeinen Teil der Gemeinschaft und hat sich, wie jedes Mitglied, als Erwachsene bewusst für ein Leben in der Gemeinschaft entschieden. Sie ist mit Andrew verheiratet. Das junge Gesicht der dreifachen Mutter wirkt entschlossen geduldig „Wir möchten hier eine Schule gründen, auch deshalb sind wir nach Österreich gekommen.“ Nachdenklich neigt sie den Kopf zur Seite. Inzwischen besuchen ihre und die anderen Kinder vom Gutshof öffentliche Einrichtungen in der Region und sind hochzufrieden. Die eigene Schule eilt also nicht. Und so kommt es, dass die eigentlichen Schwerpunkte der Gemeinschaft, Verlagswesen und Bildung, in Österreich erstmalig zugunsten einer zunehmenden Ausrichtung auf regenerative Landwirtschaft in den Hintergrund rücken. Nach und nach haben sich die Retzer Mitglieder eine beeindruckende agrarische Expertise angeeignet. Klima und Kultur im Weinviertel erleichtern das Bio-Projekt der Gemeinschaft bedeutend. „Die Offenheit der Menschen hier hat uns überwältigt. Ich meine, hier bauen die Leute in der 17. Generation Wein an und dann kommen wir, Fremde aus New York.“ Sie lacht, noch immer erstaunt und streicht ihr Kleid glatt. Mittlerweile sind sowohl Pfarrer als auch Bürgermeister von Retz gern gesehene Gäste am Gutshof und auch die anderen Nachbarn kommen oft zu Hoffesten und gemeinsamen Essen.
Vom Gemüsepflanzen und Geldausgeben
Der Hof lädt zum Feste feiern ein. Hinter einem massiven Holztor mit Eisenbeschlägen, das das Grundstück von der dicht besiedelten Straße abtrennt, erstreckt sich ein von zwei Längsgebäuden eingeschlossener Innenhof. Steinerne Terrassen führen entlang gelb getünchter Hauswände, an denen wilder Wein emporrankt. Unter einer Arkade lehnt ein zusammengeklappter Tischtennistisch, in der Mitte des Hofes wartet ein rotes Dreirad auf seine Besitzer. Eine am hinteren Ende des anschließenden Gartens angelegte Terrasse mündet in einer alten Scheune, in der Arbeitswerkzeug und andere Geräte lagern. An ihre Rückseite grenzt ein Wiesenstück, gut zwei Hektar groß. Hier wird das Gemüse angepflanzt, vor der kalten Aprilluft unter langen Plastikbahnen und in Gewächshäusern geschützt. Nicht weit entfernt glänzt der grüne Turm des Retzer Rathauses in der Sonne. Es riecht nach feuchter Erde und Dünger. „Eigentlich haben wir das alles dem ersten Lock-Down zu verdanken“, sagt Priscilla stolz und zeigt auf eine Reihe silber-glänzender Gewächshäuser. Während gefühlt die halbe Welt Ausgangssperre hatte, griffen die Bewohner des Gutshofes zu Schaufel und Spaten und ackerten ihre kleine Wiesenfläche zu einem Gemüsebeet um. Heute wachsen hier unter anderem Fenchel, Kohlrabi, Karotten, Zucchini, Petersilie und Spargel. Die Knollen und Pflanzen werden liebevoll gegossen und gedüngt, der Boden gelockert und geschont. Einmal in der Woche wird Unkraut gezogen, zur Belohnung gibt es anschließend ein gemeinsames Abendessen. Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit zeichnen das gemeinschaftliche Leben der Gemeinde in jeder Hinsicht aus. Das bedeutet aber nicht, dass man ständigen Verzicht übt. Das Gehalt der Mitglieder, ob aus regulären Berufen oder für ihre Beiträge zur Gemeinschaft, landet auf einem gemeinsamen Bankkonto. „Wenn ich meine Frau in den Heurigen ausführen möchte, dann gibt mir unser Finanzzuständiger das Geld dafür. Ihm und den anderen Mitgliedern bin ich hinsichtlich meiner Ausgaben Rechenschaft schuldig“, erklärt Andrew die Finanzwirtschaft der Gemeinde. Andrew, mit einem Hintergrund in IT und Computertechnologie, ist von Beruf Pastor. Dazu wurde er von den anderen Mitgliedern gewählt. Als Pastor benötigt man keine besonderen Vorkenntnisse. Einmal gewählt, absolviert man allerdings regelmäßig Seminare, die verschiedene Themen abdecken, von der Trauerbewältigung bis zur Familienplanung, um stets unterstützend zur Seite zu stehen.
Von Gulasch und Fußballspielen
Familien und Alleinstehende bewohnen jeweils eine kleine Wohnung im Gutshof. Die von Andrew und Priscilla liegt im Erdgeschoß und besteht aus einem kleinen Ess – und Wohnbereich sowie einem Obergeschoß mit Schlaf-und Badezimmern. Buben und Mädchen tragen Tische in das Esszimmer, das durch das massive Holzgebälk niedriger scheint als es tatsächlich ist. Ein schmales Fenster gibt den Blick auf den Innenhof frei, der zu dieser Tageszeit im Halbschatten liegt. Abgesehen von einer Fotografie, auf der das Retzer Kloster hinter rosa blühenden Zweigen zu sehen ist, ist das Zimmer spärlich eingerichtet. Die kleinen Tische werden zu einer langen Tafel arrangiert und ein weißes Tischtuch darüber gezogen. Irgendjemand hat eine kleine Vase mit frisch geschnittenen Blumen in ihre Mitte gestellt. Teller, Servietten und große Wassergläser sind bereits gedeckt, als Susan mit langen Schritten und dem Gulaschtopf in beiden Händen durch die Tür tritt. Dazu gibt es warme Semmeln, Butter und einen Salat aus dem eigenen Garten mit hausgemachtem Dressing, gerösteten Kernen und Croutons. Andrew betet das Tischgebet und alle greifen zu. Die Jungen werfen sich verstohlene Blicke zu, raunen undeutliche Worte und kichern leise. Die etwas Älteren unter ihnen beginnen von sich zu erzählen. Die meisten studieren in Wien und leben dort in Wohnungen oder Studentenheimen. Josiah studiert Medizin. Er wird in drei Wochen seine Gelübde ablegen. Wieso? „Um einen Teil von Gottes Reich auf Erden sichtbar zu machen. Damit alle sehen, dass es möglich ist!“
Dieser Wunsch, den die anderen Mitglieder mit Josiah teilen, manifestiert sich in zahlreichen Engagements. Janina zum Beispiel, eine zurückhaltend quirlige 19-Jährige arbeitet Teilzeit im Arche Noah Kindergarten in Wien und studiert abends berufsbegleitend Elementarpädagogik. Medizinstudent Josiah kommt am Wochenende meistens nach Hause, um bei der Gartenarbeit mitzuhelfen. Er bleibt aber auch gerne mal in der Stadt, wenn eine Party organisiert wird. Felicity spielt in der Retzer Stadtkapelle Oboe, wo sie gelegentlich von Joshua, einem der Söhne Andrews, am Keyboard begleitet wird. Einige der jüngeren Kinder spielen Fußball für die verschiedenen Jugendmannschaften des SC Retz und samstags kommen Nachbarskinder ab und an zum gemeinsamen Basteln an den Hof. Einmal im Jahr helfen die Erwachsenen der örtlichen Feuerwehr bei ihrer jährlichen Spendenaktion, dem Feuerwehrheurigen, kochen, spülen Geschirr und verbreiten gute Laune. Und nach jedem Weihnachten helfen sie der Gemeinde, Lametta-behängte Christbäume zu entsorgen.
Von Revolutionären mit Geschichte
Viele heutige Mitglieder des Bruderhofs haben ihre Wurzeln in Deutschland, dem Geburtsland der Gemeinschaft. Als der Nationalsozialismus 1933 an die Macht kam, flohen sie nach Liechtenstein und danach weiter über England nach Paraquay und in die Vereinigten Staaten. Erst im Jahr 2002 kehrten die Mitglieder nach Deutschland zurück. Schnelle kulturelle Anpassung liegt ihnen also quasi im Blut. Nicht verwunderlich, dass auch die Weinviertler Kulturszene davon profitiert. Andrew bietet im Namen des Kellermuseums Führungen durch die unterirdischen Weinkeller von Retz an, während Erna, eine junge Frau mit breitem Lächeln und ungeschminktem Gesicht, durch die Retzer Windmühle führt. Und natürlich trifft man die Gutshof Bewohner wöchentlich auf dem Retzer Genussmarkt, wo sie ihr frisches Gemüse verkaufen. Die Gemeinde schätzt das Engagement der Mitglieder enorm: „Ich empfinde sie als große Bereicherung für unsere Region“, sagt Teresa, eine Nachbarin. Sie sind „immer fröhlich und offen, wenn sie auf dem Markt Gemüse verkaufen oder zu Hoffesten einladen“, bemerkt Max, der dazugehörige Ehemann. Das Ehepaar hat im Frühjahr einen kleinen Sohn zur Welt gebracht und bekam völlig überraschend einen riesigen Essenskorb von der Gemeinschaft vor die Tür gestellt. Ein Willkommensgeschenk für den neuen Erdenbürger.
Kommunales Zusammenleben in einer nicht monastischen Glaubensgemeinschaft erlebt man hierzulande selten. Sich über die Konsumgesellschaft zu mokieren und seine eigenen Avocados am Stadtbalkon anzubauen ist schick und zeitgemäß. Eine endgültige Loslösung von der Eigentumswohnung, dem geleasten 3er BMW und der jährlichen Urlaubsplanung gilt hingegen als schier wahnsinnig. In so einem Fall drückt die Gesellschaft vielleicht noch ein Auge zu und attestiert der befallenen Person ein Burn-out. Eine vorrübergehende „Auszeit“ wird als notwendige Genesungsmaßnahme geduldet. Nicht aber lebenslang. In dieser Hinsicht scheint die Bruderhof-Gemeinschaft durchaus revolutionär. Doch genau genommen greifen ihre Lebensnormen auf 2000 Jahre Geschichte zurück. So gesehen genauso wenig avantgardistisch wie die Praxis der regenerativen Landwirtschaft, eine Methode, die sich immerhin schon seit 50 Jahren bewährt. Natürlich, nach außen hin sind da all diese scheinbaren Einschränkungen: Gemeinschaft vor Familie, kein Privatbesitz, Gehorsam, gemeinschaftlicher Dienst. Die Freiheit der Mitglieder scheint an allen Ecken und Enden begrenzt. Man muss jedoch nicht Philosophie studiert haben um zu verstehen, dass wahre Freiheit mit der persönlichen Entscheidung einhergeht. Frei handelt, der sich von inneren und äußeren Zwängen sowie Umständen lösen kann, um authentisch zu leben. Als christliche Gemeinschaft ziehen die Mitglieder ihre Authentizität aus ihrem Glauben, dessen Verhaltenskodex nicht die Menschen, sondern Gott formuliert. Und ja, es ist eine radikale Entscheidung, sich von den Annehmlichkeiten der Welt zu trennen und stattdessen einen knöchellangen Rock überzustreifen, einen Minibus mit vier anderen Familien zu teilen und selbst gezogene Spargel zu verkaufen. Allerdings wird jeder echte Asket bestätigen, dass freiwillige Enthaltsamkeit, oder nennen wir es Bescheidenheit, Befreiung bedeutet. Befreiung von oberflächlichen Bindungen zu oft inhaltslosen Statussymbolen, die zwar nicht immer aber regelmäßig zu einem künstlichen Glaubenssystem der modernen Gesellschaft avancieren können. Und doch ist das nicht der Grund, sondern wahrscheinlich nur ein angenehmer Nebeneffekt, wieso man dem Ruf in die Gemeinschaft folgt. Die Mitglieder distanzieren sich zwar zu Normen und Erwartungen, nicht aber zu der Gesellschaft selbst. Ihre Loslösung von der materialistischen Welt, von „Protz und Allüren“ ist kein Selbstzweck. Vielmehr ist sie Ausgangspunkt, inmitten der materiellen Welt ihren persönlichen Glauben authentisch zu leben und so „einen Teil von Gottes Reich auf Erden sichtbar zu machen“. Aus diesem Blinkwinkel gesehen, sind die Karotten vom Retzer Gutshof nicht einfach besser, weil Bio. Nein, mehr als das demonstrieren sie eine liebevolle Fürsorge der Gemeinschaft für die Schöpfung und Nächstenliebe für die Gesellschaft. Der Glaube der einzelnen Mitglieder wird auf diese Weise nicht nur umweltfreundlich, sondern konkret und gemeinschaftsfördernd in die Tat umgesetzt. „Regenerativ, No-Dig, No-Waste“.